Zügig lenkte Danielle Matts Cabrio durch das schwere schmiedeeiserne Tor, das sich langsam für sie öffnete, und fuhr die breite Einfahrt zu George Freemans Anwesen hinauf.
Vor gut einer Stunde hatte George sie überraschend in der Klinik angerufen und gebeten, nach Dienstschluss kurz bei ihm vorbeizuschauen.
Obwohl sie nach dem ereignisreichen Tag viel lieber gleich nach Hause zu Matt gefahren wäre, brachte sie es jedoch nicht übers Herz, ihm seine Bitte einfach abzuschlagen. Irgendwie hatten seine Worte dringend geklungen, und Danielle hoffte, dass es keine gesundheitlichen Probleme waren, die ihn dazu bewogen hatten, sie anzurufen.
Umso erleichterte war sie, dass sie ihn persönlich an der Tür stehen sah, als sie vor dem Eingang hielt.
„Schön, dass du da bist, Danielle“, sagte er und nahm ihren Arm. „Komm, lass uns im Garten Platz nehmen, das Wetter ist heute einfach herrlich.“
Sie durchquerten den riesigen Vorraum und gelangten in den gepflegten Rosengarten auf der Rückseite des Hauses. Ein zarter Duft umfing Danielle, als sie sich in einen der schneeweißen Korbsessel setzte.
„Es ist herrlich hier“, stellte sie tief durchatmend fest. „Immer wieder faszinierend.“
George nickte.
„Ja, ich sitze oft hier draußen und genieße die Ruhe und den Rosenduft. Es ist, als befände man sich in einer anderen Welt. Leider schätzen viele Menschen die Natur nicht mehr.“
Danielle lächelte.
„Ich bin darin aufgewachsen. Crawford ist Natur pur! Genau wie meine Mom liebe ich Rosen. Sie sind unglaublich schön und duften wundervoll“, schwärmte sie mit einem verträumten Ausdruck in den Augen und lehnte sich entspannt zurück, nachdem die Haushälterin ihr ein Glas frischgepressten Orangensaft serviert hatte. „Vor allem nach einem Tag zwischen Krankenhausbetten, Verbandszeug und Desinfektionsmitteln.“
George warf ihr einen besorgten Blick zu.
„Du siehst müde aus, Danielle.“
Sie seufzte und nickte dann.
„Es war ein anstrengender Tag.“
George betrachtete sie einen Augenblick nachdenklich.
„Bist du glücklich mit Matthew?“, fragte er dann ganz unvermittelt.
Erstaunt über seine direkte Frage stellte Danielle ihr Glas ab. Sie besann sich einen Augenblick lang und lächelte dann.
„Du fragst das in genau dem gleichen Ton, mit dem mir mein Dad diese Frage gestellt hätte. Die Antwort ist ja. Ich bin glücklich. Sehr sogar.“
George nickte zufrieden. Er überlegte einen Augenblick, wie er ihr die Neuigkeiten, wegen der er sie hergebeten hatte, am besten beibringen sollte, und entschied sich letztlich für den direkten Weg.
„Ich war heute zusammen mit Roger in Sunset City, in der HSE.“
Überrascht zog Danielle die Augenbrauen hoch.
„Du warst bei Matt?“
„Ich habe mir seine Firma angesehen.“
Danielle lachte bitter.
„Du willst sagen, das, was davon noch übrig ist.“
George sah sie aufmerksam an.
„Ich mag deinen zukünftigen Ehemann, Danielle. Auch wenn er bei dem anscheinend größten Gauner der Westküste in die Lehre gegangen ist, so ist er doch ein sehr guter und fähiger Geschäftsmann. Er wird die HSE nicht verlieren.“
„Diese Zuversicht in allen Ehren, George, aber was macht dich da so sicher?“, fragte Danielle skeptisch.
George lächelte.
„Die Aktienanteile, die ich an der Firma erworben habe.“
„Wie bitte?“ Ungläubig starrte Danielle abwechselnd auf ihn und dann auf die Unterlagen, die er vor ihr auf dem Tisch ausbreitete.
„Edward Hamilton hat seine Anteile meistbietend versteigert. Roger hat in meinem Namen sofort reagiert und sie aufgekauft, bevor sie ein anderer erwerben konnte.“
„Ja aber, George! Du hast bereits eine Firma! Nein, was sage ich, keine Firma, sondern vielmehr ein Imperium! Was willst du mit den Anteilen der HSE?“
George Freeman sah sie bedeutungsvoll an.
„Du wirst bald heiraten. Diese Anteile sind mein Hochzeitsgeschenk an dich.“
Danielle erblasste. Sofort musste sie an John denken und an das Geheimnis, das ihn mit George Freeman verband.
„Nein. Das kann ich unmöglich annehmen!“
Besorgt sah George, dass ihr Gesicht aschfahl geworden war.
„Habe ich dich erschreckt?“, fragte er besorgt und reichte ihr den Orangensaft. „Trink einen Schluck, dann fühlst du dich besser.“, Aufmunternd nickte er ihr zu. „Danielle, wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber in dieser kurzen Zeit bist du für mich wie eine Tochter, die ich leider nie hatte. Ich möchte, dass du die Anteile bekommst und auf diese Weise abgesichert bist, wenn mir etwas passieren sollte. Ich habe doch sonst niemanden.“
Danielle war noch immer sprachlos.
„Du hast Roger“, erwiderte sie dann zögernd, nachdem sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte.
„Meinem Freund Roger wird es an nichts fehlen, wenn es mich einmal nicht mehr gibt. Er wird meine Firma in meinem Sinne weiterführen, bis er einen würdigen Geschäftsführer gefunden hat. Aber du und Matt, ihr könnt dafür sorgen, dass die HSE als das bestehen bleibt, was sie vorher immer war: Eine angesehene und erfolgreiche Firma. Ich habe Matt nur eine Bedingung gestellt.“
Danielle horchte auf.
„Eine Bedingung? Was für eine?“
„Die Ferienanlage wird es nicht geben. Zumindest nicht in der Form, wie Edward Hamilton sie geplant hatte. Vielmehr soll Matt ein Gesundheitszentrum bauen, mit einem modernen Klinikteil und einer Kurabteilung. Urlaub machen kann man auch woanders an der Westküste. Aber diese Gegend hier ist wie geschaffen dafür, um sich von einer schweren Krankheit zu erholen, und unter kalifornischer Sonne wieder gesund zu werden. Und wenn das Projekt fertiggestellt ist und du dein Studium abgeschlossen hast, kannst du dort als Ärztin arbeiten, an der Seite von John. Das wäre mein Traum.“
Danielle lehnte sich zurück und strich sich von diesen Neuigkeiten überwältigt über die Stirn. Das Angebot war verlockend. Sie würde, wenn sie es annahm, Matt aus seiner geschäftlichen Misere heraushelfen können.
Andererseits... Das Ganze käme ihr wie ein Verrat an John vor. Rechtmäßig gehörten die Anteile ihm. Nein, solange George die Wahrheit noch nicht kannte, durfte sie nichts überstürzen.
Sie beugte sich vor und legte ihre Hand begütigend auf Georges Arm.
„Tut mir leid, aber ich kann dein Angebot unmöglich annehmen.“
„Oh doch, Danielle, das kannst du“, erwiderte der alte Mann hartnäckig. „Ich habe mir mein ganzes Leben lang einen Sohn gewünscht. Dieser Wunsch ist mir leider verwehrt geblieben. Da hat mir aller Reichtum nicht geholfen. Nun habe ich wenigstens eine Tochter. Bitte, nimm das Angebot an, dann bleibt etwas von mir, wenn es mich nicht mehr gibt.“
„George.“ Danielle konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. „Es wird dich noch sehr lange geben.“
Der ältere Mann legte bedeutungsvoll die Hand auf seine Brust.
„Na ja, ich weiß nicht recht.“
Danielle stand auf und umarmte ihn spontan. Dann trat sie einen Schritt zurück und blickte ihn vielsagend an.
„Du bist ein guter Mensch, George. Du hast mir geholfen und mir mein Studium finanziert. Ich mag dich wirklich sehr. Aber diesen Wunsch kann ich dir leider nicht erfüllen. Ich darf dein Angebot nicht annehmen, weil...“
„Weil?“
„Weil es etwas gibt, das du bisher noch nicht weißt.“
„Und das wäre?“
„Ich habe kein Recht mit dir darüber zu sprechen. Aber jemand anderes sollte das dringend tun.“
„Wovon redest du?“
„Von einer Sache, die dein Leben mit Sicherheit positiv verändern wird. Und ich finde, es ist an der Zeit, dass du endlich die Wahrheit erfährst.“
George Freeman atmete tief durch. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte.
„Welche Wahrheit, Danielle?“
„Frag John. Er kann es dir erklären. Und wenn du mit ihm gesprochen hast, dann solltest du deine Entscheidung, mir die HSE-Anteile zu übertragen, noch einmal in aller Ruhe überdenken.“
*
Nach dem mysteriösen Anruf beschloss Matt, sofort zum OCEANS zu fahren. Er musste unbedingt mit Dean reden. Dean musste erfahren, dass Caroline wahrscheinlich entführt worden war. Er würde sie sowieso vermissen, wenn er heute Nacht nach Hause kam, und irgendwann würde er, völlig verrückt vor Sorge, auf der Suche nach ihr die Polizei einschalten. Genau das musste Matt verhindern, um Carolines Sicherheit nicht zu gefährden.
Obwohl noch relativ früh am Abend war das OCEANS jedoch schon gut besucht. Matt setzte sich an die Bar und sah sich um. Dean war nirgends zu sehen.
„Hat Dean heute frei?“, fragte er Curt, den zweiten Barmann.
„Nein, der ist oben“, erwiderte dieser mit einem bedeutungsvollen Blick auf die geschlossene Bürotür. „Die neue Chefin wollte ihn sprechen.“
„Stimmt, das hatte ich vergessen“, nickte Matt. „Das OCEANS hat ja eine neue Besitzerin. Ich war in der letzten Zeit so beschäftigt, dass ich kaum etwas Anderes mitbekommen habe.“ Etwas ungeduldig sah er auf die Uhr. „Was denkst du, dauert die Besprechung lange?“
Curt hob nur die Schultern und grinste.
„Tja, keine Ahnung. Wenn es nach ihr ginge, sicher. Sie hat andauernd was mit Dean zu besprechen, wenn Sie wissen, was ich meine, Mr. Shelton.“
Erstaunt zog Matt die Augenbrauen hoch. Hellhörig geworden holte er einen Geldschein aus der Hosentasche und schob ihn unauffällig über die Theke.
„Erzähl mir mehr, Curt. Was meinst du damit?“
Der Schein verschwand blitzschnell vom Tresen. Curt warf einen kurzen wachsamen Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, dass niemand von den anwesenden Gästen das Gespräch belauschte.
„Die neue Chefin ist ein ziemliches Luder“, raunte er seinem Besucher vertraulich zu. „Sie ist millionenschwer, und böse Zungen behaupten, sie hätte hat den Laden hier nur aus einem einzigen Grund gekauft.“
„Und der wäre?“
„Sie muss aus irgendeiner geheimen Quelle vom OCEANS und Mister Hamiltons Verhaftung erfahren haben. Die Leute reden hinter vorgehaltener Hand, sie hätte sich das Projekt geschnappt, um ihrem Vater etwas zu beweisen. Aber seitdem sie hier ist, hat sie es wohl mehr auf Dean abgesehen.“
„Damit dürfte die Dame wenig Erfolg haben“, vermutete Matt. „Dean liebt doch seine Caroline über alles.“
Curt hob die Schultern und grinste verhalten.
„Stimmt. Bisher hat er kein Interesse gezeigt. Aber Eden Hollister ist eine, die nicht so schnell aufgibt, wenn sie etwas unbedingt haben will. Sie macht ihm ganz schön die Hölle heiß. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.“
„Eden Hollister?“, erkundigte sich Matt erstaunt. „Doch nicht etwa die Tochter des Hotelmoguls Hollister aus Las Vegas?“
„Doch, Mr. Shelton. Genau die!“
In diesem Augenblick öffnete sich die Bürotür, und Dean kam die Treppe herunter, gefolgt von Eden, die ein aufreizend eng anliegendes, rotes Kleid trug, dass ihre tadellose Figur perfekt betonte. Selbstbewusst und souverän lächelnd durchquerte sie die Bar, sich der zahlreichen bewundernden Blicke voll bewusst. Nur das gefährliche Funkeln in ihren Augen verriet Matt, dass sie wütend war.
„Wir sind noch nicht fertig miteinander, Dean!“, zischte sie, immerhin laut genug, dass er und Curt es deutlich hören konnten, während sie auf dem Barhocker nebenan Platz nahm. „Das eben war keine Bitte, sondern eine Anweisung!“
Scheinbar unbeirrt trat Dean hinter den Tresen und begrüßte Matt mit Handschlag.
„Schön, dich auch mal wieder hier zu sehen. Du hast dich in letzter Zeit rar gemacht.“
„Wie du weißt, kämpfe ich momentan in der Firma gegen Windmühlenflügel, da bleibt kaum Zeit fürs Privatleben“, erwiderte Matt.
„Wem sagst du das“, seufzte Dean mit einem Seitenblick auf Eden, die den neuen Besucher inzwischen ungeniert von der Seite musterte. Was sie sah, schien ihr zu gefallen.
„Willst du mich nicht vorstellen, Dean?“, säuselte sie mit laszivem Augenaufschlag. Sichtlich widerwillig leistete er ihrer Aufforderung Folge.
„Matt... das ist Eden Hollister, die neue Besitzerin des OCEANS. Eden, Matthew Shelton, der Boss von HAMILTON & SHELTON ENTERPRISES.“
„Sehr erfreut“, gurrte Eden und reichte ihm die Hand. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Miss Hollister“, erwiderte Matt so charmant wie nur möglich, obwohl ihn dieser makellose, aufreizende Vamp völlig kalt ließ.
´Armer Dean´, dachte er mitleidig. ´Wenn die dich in den Krallen hat, solltest du dich verdammt vorsehen!´
„Eden“, lächelte sie zuckersüß. „Bitte nennen Sie mich Eden.“
„Gerne, Eden. Ich bin Matt.“
„HAMILTON & SHELTON ENTERPRISES ist eine Immobilienfirma, nicht wahr?“, versuchte sie die Konversation weiterzuführen. „Sehr interessant. Ich habe gehört, Sie bauen gerade eine gigantische Ferienanlage hier in Sunset City?“
„Ja, das stimmt“, nickte Matt bestätigend.
„Nun, mein Dad ist ja auch in der Branche tätig“, erklärte Eden wichtig. „Falls Sie vielleicht irgendwann einmal Hilfe benötigen, könnte ich bestimmt etwas für Sie tun, Matt.“
Curt und Dean warfen einander einen bedeutungsvollen Blick zu.
Matt lächelte verbindlich.
„Das ist ausgesprochen nett von Ihnen, Eden, aber ich denke, ich habe das Projekt bisher ganz gut im Griff.“
So leicht ließ sich die Jetset-Schönheit jedoch nicht abweisen. Sie schob sich in einer betont sexy Pose auf den Barhocker neben ihm und schlug die langen Beine übereinander.
„Erzählen Sie mir mehr davon“, bat sie unbeirrt. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Sozusagen mein Einstand.“
Matt sah auf die Uhr.
„Ein andermal vielleicht. Es tut mir leid, aber ich bin heute etwas in Eile. Eigentlich bin ich nur hergekommen, weil ich etwas sehr Dringendes mit Dean besprechen muss.“
„Das trifft sich gut, Matt“, beeilte Dean sich zu sagen. „Ich wollte ohnehin gerade meine Pause machen.“ Er wandte sich an seinen Kollegen. „Übernimmst du für mich?“
„Klar“, nickte Curt und grinste schadenfroh über die Abfuhr, die Eden soeben bekommen hatte. „Lass dir Zeit.“
Matt erhob sich und reichte der Dame des Hauses charmant die Hand.
„Hat mich außerordentlich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier.“
Sie nickte ihm kühl zu, sichtlich verärgert darüber, dass er sie hatte abblitzen lassen. Matthew Shelton war ein interessanter, und darüber hinaus auch noch sehr gut aussehender Mann, nur schien er leider überhaupt nicht an einem Flirt mit ihr interessiert. Wirklich jammerschade.
*
George sah Danielle nachdenklich hinterher, als sie wenig später in ihren Wagen stieg und die Auffahrt hinunterfuhr.
Warum hatte sie sein Angebot abgelehnt? Wenn schon nicht ihretwegen, so hätte sie doch auf jeden Fall dabei an Matt und seine Firma denken müssen!
Es musste irgendeinen schwerwiegenden Grund für ihre Reaktion geben.
Ihre Worte von vorhin klangen ihm noch in den Ohren.
„Frag John. Er kann es dir erklären.“
Was hatte sie damit gemeint?
Plötzlich nahm sein Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an. Er ging hinein, zog sein Jackett über und klingelte nach seinem Chauffeur.
„Teresa“, rief er der Köchin zu, die gerade begonnen hatte, den Tisch fürs Abendessen einzudecken. „Warten Sie bitte nicht mit dem Essen auf mich. Ich muss noch etwas erledigen.“
*
Kreidebleich lehnte Dean draußen vor dem OCEANS an der Wand. Was Matt ihm gerade erzählt hatte, konnte er kaum fassen.
Caroline war entführt worden?
Der bloße Gedanke, dass irgendjemand sie gegen ihren Willen festhielt, brachte ihn fast um den Verstand.
„Zum Teufel mit Edward Hamilton“, stöhnte er. „Matt, wir müssen irgendwas tun! Wir können doch nicht tatenlos herumsitzen und warten, während sie…“
Matt legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Ich werde ganz sicher nicht tatenlos herumsitzen, Dean. Ich werde alles tun, um herauszufinden, wo Edward sich aufhält. Momentan ist es nur wichtig, dass keiner etwas von der Sache erfährt. Du wirst hier weitermachen wie bisher, auch wenn es schwerfällt.“
„Warum schalten wir nicht die Polizei ein? Die könnten sie suchen!“
„Nein, bloß nicht. Das Risiko wäre für Cary viel zu groß, denn diese Leute verstehen keinen Spaß. Wir haben achtundvierzig Stunden Zeit, um die Forderungen der Entführer zu erfüllen. Sie werden sich wieder bei mir melden, und dann verlange ich auch ein Lebenszeichen von ihr.“
„Wie um alles in der Welt willst du Edward finden? Er könnte überall sein!“
„Vertrau mir, Dean“, bat Matt eindringlich. „Ich habe meine Quellen und werde nichts unversucht lassen, um ihn zu finden. Und wenn ich den Kerl an den Haaren herschleifen muss, ich lasse nicht zu, dass Caroline etwas geschieht.“
Nervös fuhr sich Dean durch sein Haar.
„Ich weiß nicht, wie ich diese Nacht überstehen soll.“
„Komm schon, nimm dich zusammen!“ Matt klopfte ihm auf die Schulter und griff nach seinem Wagenschlüssel. „Ich muss jetzt los, und du solltest besser auch wieder hineingehen. Ich rufe auf deinem Handy an, sobald es etwas Neues gibt.“
Dean nickte mit versteinerter Miene.
„Okay. Danke.“
„Keine Sorge, wir werden Caroline schon bald wieder bei uns haben.“ Matt ließ den Motor an und nickte Dean aufmunternd zu. „Und wenn das mit der Entführung ausgestanden ist, werden wir uns gemeinsam überlegen, wie wir dein anderes kleines Problemchen lösen.“
„Eden.“ Dean atmete tief durch. „Sie macht mir das Leben schwer.“
„Nicht mehr lange, Dean. Nicht mehr lange.“
„Hilf ihr, Matt“, murmelte Dean und sah dem Wagen nach, wie er in der Abenddämmerung verschwand. „Bitte sorg dafür, dass Caroline nichts geschieht!“
*
Kate summte gut gelaunt eine Melodie vor sich hin, während sie in Johns kleiner Küche frischen Salat bereitete. Auf dem Weg von der Klinik nach Hause hatte sie noch schnell eine Pause eingelegt und einiges im Supermarkt eingekauft. Sie wollte John mit einem Dinner überraschen, wenn er heimkam. Er würde bestimmt hungrig sein, denn vor zwei Stunden hatte er angerufen und ihr mitgeteilt, dass es heute wieder später werden würde.
Verständnisvoll lächelte Kate.
So war das eben in der Notaufnahme, man kam kaum einen Tag pünktlich nach Hause. Trotzdem vermisste sie diese Arbeit, bei der man oftmals nicht genau wusste, was in der nächsten Sekunde auf einen zukam. Die Bereitschaft, schnell und doch kompetent zu arbeiten und sein Wissen in kürzester Zeit und unter oft erschwerten Bedingungen möglichst präzise umzusetzen, war von größter Wichtigkeit und entschied nicht selten über Leben und Tod eines Patienten.
„Arzt kann jeder werden, aber Notfallarzt ist eine besondere Begabung, die nur wenige Menschen besitzen. Du hast sie“, hatte ihr Dr. Deborah Landry, die Leiterin der Notaufnahme des County in Chicago damals gesagt, als sie ihr zum bestandenen Examen gratulierte.
Nun, Kate war sich sicher, dass ihr diese Begabung sozusagen in die Wiege gelegt worden war, seitdem sie von ihrer Mutter erfahren hatte, dass diese sie bereits in einer Notaufnahme unter ziemlichen Komplikationen zur Welt gebracht hatte.
Sobald unten im Emergency-Bereich eine Stelle frei wurde, würde sie ihre Chance nutzen.
Sie hatte gerade das Salatdressing fertig und machte sich daran, den Tisch zu decken, als es an der Tür läutete. Erfreut darüber, dass John nun doch noch relativ pünktlich nach Hause kam, eilte sie nach draußen und riss die Tür auf.
„Hast du deinen Schlüssel vergessen?“, rief sie und hielt erschrocken inne, als sie sich einem fremden älteren Mann gegenübersah, der sie genauso erstaunt musterte, wie sie ihn.
„Entschuldigung“, sagte er etwas schweratmig, als hätte er die Treppen im Dauerlauf genommen, „Ich wollte eigentlich zu John O`Malley!“
„Ja, da sind Sie hier genau richtig, Mister...?“ Fragend sah sie ihn an.
„Freeman, George Freeman“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.
Kate nickte erfreut.
„Ah ja, Mister Freeman, John hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin Katherine Grant, eine Kollegin und gute Freundin von ihm. Bitte...“ Sie trat beiseite und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung herein. „Treten Sie doch näher. John ist noch in der Klinik, aber er müsste bald nach Hause kommen.“
„Vielen Dank.“ George betrat die kleine Wohnung und wischte sich zunächst einmal den Schweiß von der Stirn. „Ich sollte wirklich lernen, mich etwas langsamer zu bewegen“, schnaufte er und versuchte tief und gleichmäßig durchzuatmen. „Die Pumpe, wissen Sie...“
„Sie sind herzkrank. John erwähnte so etwas“, nickte Kate. „Setzen Sie sich, ich werde Ihnen ein Glas Mineralwasser holen, dann geht es Ihnen sofort besser.“
George betrat das kleine, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer und sah sich um, während Kate in der Küche verschwand, um das Wasser zu holen.
Er wollte sich eben in einen der Sessel setzen, als ihm die Bilder auffielen, die neben der Tür auf dem Bord standen. Seinen beschleunigten Herzschlag ignorierend, trat er neugierig näher. Interessiert betrachtete er das Foto, das John als kleinen Jungen zeigte. Ein fröhliches, aufgeschlossenes Kindergesicht lachte ihm entgegen.
„Das Bild mag ich von allen am liebsten“, gestand Kate, die mit dem Mineralwasser in der Hand unbemerkt hinzugetreten war. „Das, und das andere hier...“ Sie stellte das Glas ab, langte zwischen zwei Fotografien hindurch und angelte ein weiteres Bild hervor. „Ist er nicht süß?“
George streckte langsam die Hand aus und griff nach dem eingerahmten Foto, dass Kate in der Hand hielt. Seine Augen verengten sich und er starrte ungläubig auf die Person, die liebevoll ein pausbäckiges Kleinkind in ihren Armen hielt.
„Wer... ist das?“, brachte er schließlich mühevoll hervor.
„Wen meinen Sie? Die Frau da?“, fragte Kate lächelnd. „Das ist Shannon, Johns Mutter. Ich hatte sie sehr gern. Sie ist leider vor zwei Jahren verstorben.“
George war kreidebleich geworden.
„Wann... wurde das… aufgenommen?“, ächzte er und seine Hände hielten das Foto so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„An Johns erstem Geburtstag, vor dreißig Jahren.“
Georges stockte der Atem.
„Oh mein Gott, dreißig Jahre… Wer ist Johns Vater?“
Arglos hob Kate die Schultern.
„Soviel ich weiß, hat Shannon ihren Sohn allein großgezogen.“
„Das ist doch nicht möglich! Oder doch? Dann… könnte er ja… dann ist er vielleicht...“
Weiter kam er nicht. Das Bild fiel polternd zu Boden, George röchelte, krümmte sich Sekunden später mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen und presste beide Hände hilfesuchend an seinen Brustkorb.
„Mister Freeman!“
Geistesgegenwärtig sprang Kate hinzu und versuchte, den schwergewichtigen Mann zu stützen, was ihr jedoch nicht so recht gelang. Schmerzlich aufstöhnend sackte George auf die Knie und rang verzweifelt nach Luft.
„Ganz ruhig...“ Kate half ihm, so gut es ging, sich auf dem Teppich auszustrecken. „Sie haben einen Herzanfall, Mr. Freeman. Bleiben Sie liegen und versuchen Sie ganz gleichmäßig zu atmen. Ich hole nur schnell meine Tasche!“ Kate stürzte hinaus, raffte den Schlüssel von der Garderobe und eilte hinauf in ihre Wohnung, wo ihre Notfalltasche stand.
„Es... tut... so weh...“, stöhnte George. Seine Hände verkrampften sich vor seinem Brustkorb. „Shannon...“ flüsterte er mit letzter Kraft, dann wurde es dunkel um ihn herum.
*
Als Matt an diesem Abend endlich zu Hause eintraf, stellte er etwas enttäuscht fest, dass Danielles Wagen noch nicht vor dem Haus stand. Er sah auf die Uhr und wunderte sich. Um diese Zeit sollte sie normalerweise bereits aus der Klinik zurück sein. Aber er hatte in den vergangenen Tagen und Wochen lernen müssen, dass in einer großen und modernen Notaufnahme wie der des CENTINELA Hospitals Überstunden und unvorhergesehene Ereignisse an der Tagesordnung waren.
Mechanisch zog er sein Handy aus der Jackentasche, um seine Mailbox zu checken. Sicher hatte sie bereits eine Nachricht hinterlassen, wie immer, wenn sie sich verspätete.
Und tatsächlich. Erleichtert vernahm er ihre Stimme, die ihm mitteilte, dass sie auf dem Heimweg noch schnell bei George Freeman vorbeischauen wolle.
Die zweite Nachricht war von Michael.
„Hallo Matt, ich habe eben in deinem Büro angerufen, aber wahrscheinlich bist du gerade auf dem Nachhauseweg. Wie auch immer, wenn du das hier hörst, dann ruf mich bitte umgehend zu Hause an. Es gibt wichtige Neuigkeiten!“
Matt zog nachdenklich die Stirn in Falten.
„Noch mehr Neuigkeiten?“, murmelte er skeptisch, während er Michaels Nummer in Newport Beach wählte. Als hätte er den Anruf bereits erwartet, nahm der Anwalt bereits nach dem ersten Klingelzeichen ab.
„Matt, gut dass du anrufst. Es gibt Neuigkeiten aus Caracas“, erklärte er ohne Umschweife. „Kurz nachdem ich aus Sunset City zurück war, hat sich mein Privatdetektiv gemeldet.“
„Und was hat er herausgefunden?“
Michael schnaufte verheißungsvoll.
„Setz dich am besten und mach dich auf Einiges gefasst!“
*
Erschöpft betrat Danielle das Haus.
„Matt? Bist du da?“
Sie schloss die Tür, warf ihre Tasche im Vorbeigehen achtlos aufs Sofa und ging hinauf, um nachzusehen, wo er war. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihn im Schlafzimmer, wo er gerade in aller Eile einen kleinen Koffer mit den notwendigsten Sachen packte.
„Nanu!“ Sie lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen und beobachtete ihn überrascht. „Lass mich raten: Du hast es bereits satt, dir mit mir das Haus zu teilen und ziehst ins Hotel!“
Er blickte kurz auf und ging mit einem Grinsen auf ihr Spiel ein.
„Falsch.“
„Okay“, spann sie den Faden unbeirrt weiter. „Du willst mich mit einem romantischen Kurzurlaub überraschen? Na gut, aber mein Boss wird mir nicht freigeben.“
„Wieder falsch.“ Er ließ seine Sachen liegen und trat lächelnd auf sie zu. „Noch einen Vorschlag?“
„Du bist böse auf mich, weil ich so spät nach Hause komme und das Abendessen nicht fertig war. Deshalb willst du bei Anni übernachten.“
Jetzt lachte er laut.
„Ich muss zugeben, dieser Vorschlag ist der beste von allen!“
Danielle stimmt in sein Lachen ein und schlang die Arme um seinen Hals.
„Ich hab dich vermisst“, flüsterte sie und kuschelte sich an ihn. „Es war ein langer, verrückter Tag!“
„Wem sagst du das“, seufzte Matt und betrachtete liebevoll ihr Gesicht, bevor er der Versuchung nicht länger widerstehen konnte und sie leidenschaftlich küsste. Als sie sich endlich voneinander lösten, atmete er tief durch.
„Komm, setz dich einen Augenblick, ich habe dir eine Menge zu erzählen.“
„Was ist denn los, Matt?“
„Ich muss kurzfristig verreisen.“
„Und wohin?“
„Das ist eine etwas komplizierte Geschichte.“
„Okay“, lachte Danielle. „Kein Problem. Ich habe den Rest des Abends Zeit.“
Sein Gesicht wurde ernst.
„Caroline Hamilton ist entführt worden.“
„Um Gottes Willen!“
„Die Entführer haben sich bei mir gemeldet und fordern von mir, dass ich Edward ausfindig mache, da sie etwas mit ihm zu regeln hätten.“
„Ja aber, du weißt doch gar nicht, wo er sich aufhält!“
„Inzwischen schon. Michaels Privatdetektiv hat es herausgefunden. Edward und Sophia befinden sich in Venezuela, genauer gesagt in Caracas.“
„Caracas? Moment mal...“ Nachdenklich zog Danielle die Stirn in Falten. „Befindet sich nicht Masons angebliche Firma in Caracas? Die, wie heißt sie noch mal? CASTILLO CORPORATION?“
„Tja, genauso ist es“, nickte Matt. „Und stell dir vor, eben diese Firma hat einen neuen Firmenverwalter.“
„Nein! Jetzt sag mir bloß nicht, dass dieser neue Verwaltungschef Edward Hamilton heißt.“ Ungläubig starrte sie ihn an. „Aber wer ist dann diese Frau, diese angebliche Misses Castillo?“
„Mit Sicherheit niemand anders als Cynthia Rodriges, unsere neue Firmenteilhaberin, die Annis HSE-Anteile gekauft hat und dann auf dieselbe mysteriöse Weise aus Sunset City verschwunden ist wie Edward und Sophia.“
„Und was hat diese Cynthia mit Mason zu tun?“
„Das würde ich ihn auch gerne fragen, glaub mir. Aber er kann es mir ohnehin nicht sagen, deshalb muss ich es so schnell wie möglich selbst herausfinden, um Carolines Leben nicht noch zusätzlich zu gefährden. Ich nehme den nächsten Flug nach Venezuela.“
Danielle sah ihn bedeutungsvoll an.
„Vielleicht solltest du damit bis morgen warten.“
„Wieso?“
„Dann kannst du Mason selbst fragen, was es mit der Firma und Cynthia Rodriges auf sich hat.“
Matt starrte sie ungläubig an.
„Was sagst du da?“
„Er hatte heute in der Klinik einen kleinen Unfall. Marina war bei ihm, und sie haben sich unterhalten. Als sie gehen wollte, hatten die beiden eine Meinungsverschiedenheit. Mason ist gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen. Er war für kurze Zeit bewusstlos. Ich habe später mit Dr. Pares gesprochen, und er sagte mir, dein Bruder wäre zwar noch etwas schwach, könne sich jedoch wieder an Einzelheiten aus seiner Vergangenheit erinnern. Der Sturz muss das ausgelöst haben.“
Matt sprang auf.
„Dann fahren wir sofort zu ihm!“
„Warte!“ Danielle hielt ihn am Arm fest und zog ihn mit sanftem Druck wieder zu sich herunter. „Das wäre momentan völlig sinnlos. Dr. Pares hat ihm ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht, so dass er einige Stunden durchschlafen wird. Du kannst also frühestens morgen Vormittag mit ihm reden und danach einen Direktflug von LA nach Caracas nehmen. Außerdem würdest du mitten in der Nacht sowieso niemanden mehr in der Firma antreffen.“
Matt überlegte einen Moment, dann jedoch entspannte er sich sichtlich und nickte.
„Ja, Du hast Recht. Genauso werden wir es machen.“ Liebevoll strich er Danielle übers Haar und sie lächelte.
„Ich hoffe nur, dass Caroline nichts geschieht! Wer sind die Entführer? Weißt du Näheres?“
„Sicher irgendwelche so genannten Geschäftsfreunde von Edward, die sich von ihm betrogen fühlen und nun ihr Recht fordern. Der Mann am Telefon hat nicht viel gesagt, nur dass ich achtundvierzig Stunden Zeit habe, um Edward zu finden, und er sich bald wieder melden wird.“
„Achtundvierzig Stunden?“ Danielle verzog bedenklich das Gesicht. „Das wirst du nicht schaffen.“
„Ja, ich weiß. Ich werde versuchen, mit ihm zu verhandeln, sobald er sich wieder anruft.“
Nach dem Abendessen hatten sich Matt und Danielle gemeinsam auf die Veranda zurückgezogen. Eng aneinander gekuschelt genossen sie die nächtliche Stille und ließen in Gedanken jeder für sich die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren. Danielle fühlte sich geborgen und spürte, wie die Anspannung in ihrem Inneren allmählich nachließ.
Matt hatte seine Arme sanft um sie gelegt und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter.
Es war bereits dunkel, nur das Mondlicht und der Schein der Laternen auf der Strandpromenade spiegelten sich in den Wellen. Von irgendwoher trug der sanfte Wind leise Musik zu ihnen herüber, und der beleuchtete Pier, das Wahrzeichen von Sunset City, vollendete das friedvolle Bild, dass sich ihnen von hier aus bot.
Vor einer halben Stunde hatte Matt bei Mitch angerufen und ihn gebeten, ihn morgen nach Caracas zu begleiten. Eine Dienstreise sozusagen. Danielle hatte ihn dazu überredet, nicht allein zu fliegen. Schließlich konnte er nicht wissen, was ihn dort erwarten würde. Außerdem ging es um Carolines Leben und um ihre Sicherheit, da durfte nichts schief gehen.
„Ich bin froh, dass Mitch mit dir fliegt“, murmelte Danielle mit halb geschlossenen Augen und streichelte gedankenverloren Matts Arm. „Zu zweit seid ihr sicherer.“
„Mach dir bitte keine Sorgen, Liebling. Es wird schon alles gut gehen“, erwiderte er und küsste ihre Stirn. „Allerdings wäre mir wohler, wenn sich die Entführer noch einmal melden würden. So lange nichts von Caroline zu hören, ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen.“
*
Unaufhörlich starrte Caroline auf die Wanduhr, die ihr gegenüber neben der Badezimmertür hing. Noch nie zuvor in ihrem Leben war ihr etwas so lang vorgekommen wie die letzten Stunden. Der Sekundenzeiger tickte träge vor sich hin, und mit jedem Ticken schien sich ihre innere Unruhe zu verstärken.
„Wie kannst du das zulassen, Daddy“, flüsterte sie und versuchte mühsam, die Tränen zurückzuhalten.
Ob Dean schon bemerkt hatte, dass sie nicht mehr da war?
Aber er war ja um diese Zeit im OCEANS, und dieses durchtriebene Miststück Eden würde garantiert dafür sorgen, dass er keine Zeit hatte, auch nur einen Gedanken an irgendjemand anderen zu verschwenden.
Aber wer sonst sollte ihr Verschwinden bemerken? Hatten die Entführer jemanden angerufen? Wen sonst außer Dean?
Nur, was sollte er in diesem Falle tun? Er war finanziell gar nicht in der Lage, irgendwelches Lösegeld zahlen.
Und ihr Vater konnte ihr auch nicht helfen, der hielt sich wer weiß wo auf und ahnte bestimmt nicht einmal, in welche Misere er seine Tochter gebracht hatte.
Und Mom? Vor ein paar Stunden hatte sie noch mit ihr telefoniert. Es schien ihr wie eine Ewigkeit, und doch hatte sie noch Olivias vertraute Stimme im Ohr.
„Ich liebe dich, Cary!“
„Ich liebe dich auch, Mom.“
Caroline schluckte. Nein, sie würde nicht weinen. Diesen Gefallen würde sie ihren Entführern nicht tun.
Ihr Magen krampfte sich in angstvoller Erwartung zusammen, als der Schlüssel von außen im Schloss gedreht und die Tür Sekunden später geräuschvoll geöffnet wurde.
„Miss Hamilton?“
Es war der Kerl mit dem Raubvogelgesicht. Er brachte ein Tablett herein, das er vor ihr auf dem Tisch abstellte. „Sie müssen hungrig sein, meine Liebe. Ich hoffe, wir haben ein wenig Ihren Geschmack getroffen. Bitte, bedienen Sie sich.“
Die belegten Brote auf dem Teller sahen auf den ersten Blick wirklich lecker aus, und der Orangensaft erinnerte Caroline daran, wie durstig sie war. Doch ihr Stolz verbot ihr, das zuzugeben. So würdevoll wie möglich ignorierte sie die Mahlzeit und blickte ihrem Entführer tapfer ins Gesicht.
„Warum tun Sie das?“, fragte sie.
„Ich sagte bereits, dass wir gezwungen sind, zu etwas unkonventionellen Mitteln zu greifen, um einige Missverständnisse mit Ihrem Vater zu klären.“
„Schließen diese Mittel etwa auch ein, mich zu töten, wenn er sich nicht bei Ihnen meldet?“
Die Raubvogelaugen blickten sie erstaunt an. Ihre Frage schien den Mann zu belustigen, denn er lächelte.
„Miss Hamilton“, begann er mit schleppender Stimme. „Wir sind keine primitiven Gangster, müssen Sie wissen. Es besteht für Sie nicht der geringste Grund, sich zu fürchten, Ihnen wird nichts geschehen, solange Sie sich vernünftig verhalten und keine Dummheiten machen. Sie sind nur ein notwendiges Druckmittel, dass wir benötigen, um Ihren Vater zu kontaktieren.“
„Ja aber... Wie soll er denn erfahren, dass Sie mich hier festhalten? Keiner weiß, wo er sich aufhält! Keiner!“
„Nun, wir haben jemanden beauftragt, das herauszufinden.“
„Wen?“
„Matt Shelton.“
„Matt!“ Hoffnung klang in Carolines Stimme. „Er weiß, dass ich hier bin?“
Der Mann holte ein Handy aus seiner Jackettasche und klappte es auf.
„Ich werde gleich noch einmal mit ihm telefonieren, und dann können Sie ihm selbst sagen, dass es Ihnen gut geht. Nicht mehr und nicht weniger, Miss Hamilton, haben wir uns verstanden?“
Sie nickte heftig. „Ja, verstanden.“
*
„Mister Shelton?“
Da war sie wieder, die etwas schleppende Stimme des Entführers.
Matt presste sein Handy ans Ohr, und zum ersten Mal kamen ihm Zweifel, ob es wirklich richtig war, den Forderungen des Unbekannten nachzugegeben, und nicht die Polizei einzuschalten. Vielleicht hätte Stefano ihm helfen können...
Er räusperte sich, um seiner Stimme einen möglichst festen Klang zu geben.
„Ja, ich bin dran. Und bevor wir hier über irgendetwas verhandeln, möchte ich mit Caroline sprechen. Persönlich!“
„Natürlich. Genau das habe ich von Ihnen erwartet. Einen Augenblick...“
Matt lauschte angespannt.
„Caroline?“
„Matt!“ Er hörte sie schluchzen und atmete erleichtert auf. Was auch geschehen war, sie war am Leben.
„Caroline, Kleines, geht es dir gut?“
„Ja... ja, es geht mir gut. Matt, Bitte, du musst meinen Vater finden, dann wird mir auch nichts geschehen. Matt, er soll mich hier herausholen!“
„Okay. Hör zu, Cary, ich weiß vielleicht, wo ich ihn finde. Ich werde gleich morgen versuchen, ihn zu treffen. Kannst du reden?“
„Nein...“
„Steht jemand neben dir?“
„Ja...“
„Sag mir nur, ist es mehr als einer, der dich entführt hat?“
„Ja...“
„Schluss jetzt mit diesem Fragespiel!“
Das war die Stimme des Entführers. Er hatte Caroline das Handy entrissen und befahl ihr in barschem Tonfall, sich hinzusetzen.
„Und nun zu Ihnen, Mr. Shelton“, wandte er sich wieder an Matt. „Sie haben gehört, dass es Miss Hamilton gut geht. Damit das auch so bleibt, erfüllen Sie nun Ihren Teil der Vereinbarung. Bis übermorgen Abend haben Sie Zeit. Und keine Polizei, die herumschnüffelt. Ansonsten wissen Sie ja, was geschieht.“
„Hören Sie“, versuchte Matt den Mann zu beschwichtigen. „Ich werde alles tun, was Sie verlangen, doch ich kann Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich es in der vereinbarten Zeit schaffe, Edward zu finden.“
„Halten Sie mich nicht zum Narren!“
„Nein, das tue ich bestimmt nicht.“
„Okay, das hoffe ich. Ansonsten bringt Ihnen der Postmann ein kleines Andenken von Miss Hamilton ins Haus. Sozusagen als Mahnung.“
Matt knirschte wütend mit den Zähnen.
„Lassen Sie sich eines gesagt sein, Mister, wenn Sie Caroline auch nur ein Haar krümmen, dann werde ich Sie finden, dessen können Sie sicher sein!“
Ein trockenes Lachen war die Antwort.
„Gut zu wissen. Wir melden uns wieder bei Ihnen.“
Ein Klicken in der Leitung verriet Matt, dass die Verbindung unterbrochen worden war. Er schaltete das Handy ab und blickte zu Danielle hinüber, die ihn gespannt beobachtet hatte.
„Caroline war dran, und es geht ihr gut. Sagt sie jedenfalls.“
„Sie muss furchtbare Angst haben“, erwiderte Danielle mitfühlend.
Matt nickte.
„Diese Mistkerle“, fauchte er frustriert. „Ich wünschte, ich könnte im Augenblick mehr für Cary tun, als nur nach ihrem verantwortungslosen Vater zu suchen.“
*
Als Danielle aus der Dusche kam, stand Matt nur mit Shorts bekleidet am Fenster des angrenzenden Schlafzimmers und starrte hinaus. Leise trat sie hinter ihn und legte behutsam ihre Hände auf seine nackten Schultern.
„Entspann dich“, flüsterte sie und begann ihn sanft zu massieren. „Alles wird gut, glaub mir.“
Nach einer Weile drehte er sich zu ihr um. Lächelnd sah er sie an und nahm zärtlich ihr Gesicht zwischen seine Hände.
„Ich liebe dich, Danielle.“
Bevor sie antworten konnte, fanden seine Lippen ihren Mund und verschlossen ihn sehnsüchtig. Sie schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss. Das Handtuch, das sie um ihren Körper geschlungen hatte, fiel unbeachtet zu Boden, während seine Hände über ihre nackte Haut strichen, die noch immer warm und feucht vom Duschen war.
Sie drängte sich voller Verlangen dichter an ihn, aber für ihn bedurfte es keiner weiteren Aufforderung.
Ungestüm befreite er sich von den lästigen Shorts und begann von ihrem verführerischen Körper Besitz zu nehmen, während sie sich beide eng umschlungen auf das breite Bett fallen ließen und seine hungrigen Lippen immer wieder nach ihrem Mund suchten. Jede seiner Bewegungen entzündete ein Feuer in ihr, aus dem es kein Entrinnen gab. Wohlig seufzend ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Ihr Körper passte sich seinem wie selbstverständlich an und verlangte nach mehr, und während sie sich wie haltsuchend an ihn klammerte, um ihm so nahe wie nur möglich zu sein, grub sie ihre Fingernägel voller Leidenschaft in seine Schultern, bevor sie beide ihren gemeinsamen Rhythmus fanden und schließlich in einer gewaltigen alles verzehrenden Explosion unterzugehen drohten, wie sie nur Liebende erleben.
Danielle war sich nicht sicher, ob dieses überwältigende Gefühl nur Sekunden, Minuten oder gar Stunden gedauert hatte, aber als sie irgendwann später atemlos in Matts Armen lag, den Kopf auf seine Brust gebettet, hätte sie vor Zufriedenheit und Glück schnurren können wie ein junges Kätzchen. Zufrieden kuschelte sie sich noch dichter an ihn und genoss das sanfte Streicheln seiner Hände, bevor sie nach einem endlosen Tag voller Hektik und Überraschungen eingehüllt in die Wärme seines Körpers und die friedvolle Stille der Nacht keinen düsteren Gedanken mehr zuließ und erschöpft einschlief.