Auf Edwards Entsetzensschrei folgte zunächst eine sekundenlange unheilvolle Stille. Irgendwann betätigte jemand schließlich geistesgegenwärtig den Lichtschalter und der Raum wurde taghell.
Alle starrten wie gebannt auf die vor ihren Füßen liegende Gestalt. Augenblicke später sank Edward mit einem Seufzer der Erleichterung in die Knie. Es war nicht Caroline, die da auf dem Boden lag und ihn aus leblosen Augen anstarrte. Es war die Leiche eines fremden Mannes.
Im selben Augenblick heulte draußen hinter dem Haus ein Motor auf.
„Auf die Reifen!“, hörten sie jemanden rufen. „Verdammt nochmal, zielt auf die Reifen!“ Mehrere Schüsse krachten, und ein Wagen jagte mit durchdrehenden Rädern über den Waldweg davon, eine dicke, schmutzige Staubwolke hinterlassend.
Matt, Stefano und Edward stürzten aus dem Haus und sahen gerade noch, wie der Fluchtwagen gefährlich schlingerte und fast ins Schleudern kam, als ihm völlig unverhofft ein anderes Fahrzeug auf der Lichtung entgegenkam. In letzter Sekunde gelang dem Fahrer des entgegenkommenden Autos ein Ausweichmanöver.
„Mitch!“, schrie Matt und winkte aufgeregt mit den Armen. „Nicht schießen, das ist Mitch!“ Gefolgt von Stefano und Edward rannte er über die Lichtung und riss die Beifahrertür auf. „Konntest du etwas erkennen? Saß Caroline mit in dem Wagen?“
Mitch nickte.
„Ja, sie und ein unbekannter Mann!“
„Fahr los!“, rief Matt und sprang in den Wagen. „Wir müssen sie einholen!“
Edward und Stefano gelang es gerade noch, sich auf den Rücksitz zu werfen, bevor Mitch aufs Gaspedal trat.
„Die kriegen wir!“
Sie jagten mit Vollgas den Waldweg entlang, gefolgt von den beiden Polizei- Einsatzfahrzeugen, die sich jedoch in dem unwegsamen Gelände weitaus schwerfälliger vorwärts bewegten als Mitchs robuster alter Chevy. Zudem wurde die Verfolgungsjagd dadurch erschwert, dass das Fahrzeug des Entführers eine undurchdringliche Staubwolke hinterließ, die den Verfolgern fast gänzlich die Sicht nahm. Selbst Mitch, der ein hervorragender Fahrer war, kam aufgrund dessen mehrfach vom Weg ab und geriet fast ins Schleudern.
Der Verfolgte schien sein Fahrzeug weniger gut zu beherrschen, denn er verkalkulierte sich in den tiefen Spurrinnen einer Kurve und übersteuerte den Wagen, so dass dieser seitwärts ausbrach, zur Seite kippte und ächzend auf seinen Rädern wieder zum Stehen kam.
Mitch erkannte im letzten Augenblick durch den aufgewirbelten Staub vor sich die roten Stopplichter und trat geistesgegenwärtig auf die Bremse.
Der Entführer schien trotz des Unfalls unversehrt geblieben zu sein, denn er versuchte sofort, seine Flucht fortzusetzen, doch der Wagen gehorchte ihm nicht. Die Räder blockierten, der Motor heulte noch einmal vergeblich auf, bevor er mit einem ächzenden Geräusch verstummte.
Dann war sekundenlang alles still.
„Was hat er vor?“, fragte Matt und starrte angestrengt durch die Windschutzscheibe.
Sekunden später wurde die Fahrertür des Fluchtwagens aufgerissen. Der Entführer zerrte Caroline gewaltsam aus dem Auto und hielt sie mit einem Arm wie ein Schutzschild an sich gepresst, während er ihr mit der anderen Hand die Waffe an die Schläfe drückte. Stefano zog blitzschnell seine Dienstwaffe aus dem Halfter und sprang ebenfalls aus dem Wagen, wobei er hinter der geöffneten Tür Schutz suchte.
„Sitzenbleiben!“, befahl er den anderen Insassen und bedeutete Matt durch ein Handzeichen, dass ebenfalls seine Tür öffnen und als Schutzschild benutzen sollte. Alle drei waren unbewaffnet und konnten nichts tun, außer in Deckung zu bleiben.
„Wenn ihr auch nur einen einzigen Schritt näher kommt, ist sie tot!“, warnte der Entführer und hielt Caroline gnadenlos umklammert, während nun auch die Einsatzwagen der Polizei mit heulenden Sirenen aufrückten und hinter dem Chevy zum Stehen kamen.
Stefano hockte geduckt hinter der geöffneten Wagentür, seine 38iger noch immer in Anschlag.
„Die Waffe weg, Bulle!“, warnte der Entführer und zerrte Caroline weiter zurück. Wehrlos stolperte sie und hing wie eine leblose Puppe in seinem Arm. Edward stöhnte wütend auf.
„Nein, das werde ich nicht zulassen, verdammt!“, fauchte er, und bevor einer der anderen Männer reagieren konnte, hatte er die hintere Wagentür aufgerissen und sprang hinaus. „Lassen Sie meine Tochter gehen!“, rief er dem Entführer zu, richtete sich auf und hob die Hände über den Kopf. „Nehmen Sie mich an ihrer Stelle!“
„Daddy!“, schrie Caroline verzweifelt.
„Na, wen haben wir denn da!“ Der Mann lachte hämisch auf. „Was sagen Sie, ich soll sie gehen lassen, Hamilton?“ Er riss Caroline unbarmherzig weiter zurück. „Ich glaube, Sie sind nicht in der Position, mir Forderungen zu stellen!“
„Bitte!“, ächzte Edward. „Ich tue, was immer Sie wollen, aber lassen Sie meine Tochter gehen!“
„Kommen Sie herüber!“, forderte der Entführer, scheinbar unbeeindruckt davon, dass sich hinter den Einsatzfahrzeugen bereits mehrere nach wie vor schwer bewaffnete SEK-Einsatzkräfte verschanzt hatten und ihn nun ihrerseits aufs Korn nahmen. Er glaubte mit der Geisel alle Trümpfe in der Hand zu haben. Zumindest schien es so. „Na los, herkommen, langsam und mit erhobenen Händen!“
„Tu es nicht, Edward“, warnte Matt mit unterdrückter Stimme, und auch Stefano schien ganz und gar nicht einverstanden mit dem, was Edward vorhatte.
„In Deckung, Hamilton!“, zischte er. „Verdammt noch mal, lassen Sie uns das regeln!“
„Geben Sie auf, Mister!“, ertönte der Befehl des SEK-Einsatzleiters an den Entführer. „Zwingen Sie uns nicht, das Feuer zu eröffnen!“
Edward schien gar nicht mehr wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. Er hatte nur Augen für seine Tochter und sah die Todesangst in ihrem Blick. Ungeachtet der warnenden Zurufe lief er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf sie und ihren Peiniger zu.
„Nicht schießen! Bleibt alle zurück!“, rief er und blieb kurz vor dem bewaffneten Mann stehen. „Ich bin hier. Lassen Sie meine Tochter frei!“
Der Entführer verzog das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen, während er den Druck mit der Waffe an Carolines Schläfe noch einmal verstärkte, so dass Edward einen Augenblick lang glaubte, er werde sie erschießen, doch im nächsten Moment gab er seiner zitternden Geisel einen heftigen Stoß, so dass sie mit einem erschrockenen Aufschrei seitwärts im Staub landete, und griff blitzschnell nach Edward, um nun wiederum ihn als Schutzschild zu benutzen.
Doch er war nicht schnell genug. Stefano sprang ohne Vorwarnung hinter der Autotür hervor und schoss dabei mehrmals auf den Mann mit der Waffe. Der stürzte schwer getroffen zu Boden, feuerte jedoch noch im Fallen zurück.
Aufstöhnend sank Stefano in die Knie.
Als die Schüsse fielen, hatte sich Edward geistesgegenwärtig losgerissen, war seitwärts gesprungen und hatte sich schützend über seine Tochter geworfen. Aus dem Augenwinkel heraus erblickte er die Leute des Einsatzkommandos und sah ihre Waffen in Anschlag. Während ihm das Adrenalin durch die Adern schoss, und sein eigener Pulsschlag wie Trommelfeuer in den Ohren widerhallte, hörte er wie aus weiter Ferne Kommandos und Schüsse. Dann war es plötzlich still um ihn. Nur Carolines leises Schluchzen drang ein sein Ohr.
„Daddy... Oh mein Gott!“
Kurz darauf war Matt bei ihnen.
„Seid ihr beide okay?“, fragte er atemlos und half ihnen auf die Beine.
„Ja, es geht schon.“ Edward legte schützend seinen Arm um Carolines Schultern und wies hinüber zu dem reglos am Boden liegenden Entführer, um den sich bereits die Männer der Einsatztruppe scharrten.
„Ist er tot?“
„Sieht so aus. Stefano hat ihn getroffen“, erwiderte Matt und wandte sich besorgt an Caroline, die sich zitternd an ihren Vater klammerte. „Alles in Ordnung?“ Sie nickte heftig.
„Ja... ja, mir fehlt nichts.“ Nach den schockierenden Ereignissen der letzten Stunden und Minuten schien sie langsam wieder zur Besinnung zu kommen. Mit einer entschiedenen Bewegung ließ sie Edward los und stürzte sich stattdessen in Matts Arme. „Gott sei Dank, du bist da“, schluchzte sie und barg ihren Kopf an seiner Schulter. „Danke Matt… für alles, was du für mich getan hast! Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt ganz sicher tot!“
Völlig geschockt stand Edward da und starrte die beiden einen Augenblick lang fassungslos an. Schließlich jedoch nickte er verbittert und ging langsam mit hängenden Schultern zum Auto zurück. Von einer Sekunde zur anderen wirkte er plötzlich um Jahre gealtert.
„Was ist mit Cortez?“, fragte er heiser, als er sah, dass Stefano noch immer am Boden lag, während sich seine Kollegen bereits um ihn kümmerten.
„Er wurde am Bein getroffen“, erklärte einer der Polizisten. „Der Krankenwagen ist bereits unterwegs.“
*
Caroline war kurz darauf gemeinsam mit dem durch einen Streifschuss am Bein verletzten Stefano ins nächstgelegene Medical Center nach Olinda Village gefahren worden. Stefanos Schussverletzung wurde sofort in der Notaufnahme behandelt, und auch Caroline musste sich einer Routine-Untersuchung unterziehen, um sicher zu gehen, dass sie während der Entführung und dem Autounfall keinen körperlichen Schaden erlitten hatte. Während Mitch und Stefanos Männer draußen auf dem Flur warteten, wich Matt nicht von ihrer Seite. Auch dann nicht, als der der Einsatzleiter des Polizeikommandos unmittelbar nach der Untersuchung auf eine klärende Befragung von ihr bestand.
„Wie viele Männer haben Sie entführt?“, lautete die erste Frage.
„Sie waren zu dritt“, gab Caroline tapfer Auskunft. „Einer von ihnen hat die Telefongespräche geführt, das war der mit dem Raubvogelgesicht. Er nannte sich Mr. Smith und schien der Boss zu sein. Derselbe Mann, den Detektiv Cortez auf der Waldlichtung erschossen hat.“
Der Einsatzleiter blickte von seinen Notizen auf und sah streng in die Runde.
„Übrigens ein äußerst riskantes Manöver, über das ich mich noch ausführlich mit dem Detektiv unterhalten werde.“
„Stefano hat meinem Vater und mir dadurch das Leben gerettet!“, begehrte Caroline empört auf.
„Es hätte aber auch anders kommen können“, erwiderte der Einsatzleiter ungerührt. „Dann wären Sie und Ihr Vater jetzt tot.“
Caroline verstummte und senkte die Augen. Was auch immer dieser Mann sagte, sie würde Stefano für sein mutiges Eingreifen ewig dankbar sein.
„Und weiter, Miss Hamilton, was wissen Sie über die anderen?“
„Der eine hat nur Befehle ausgeführt, der war ganz offensichtlich zu dumm, um selbst etwas zu planen. Mr. Smith nannte ihn Clay.“
„Der wurde getötet, während wir das Haus stürmten“, zog der Einsatzleiter Bilanz. „Und wer war dieser Mann, den wir im Haus gefunden haben? Er wurde nicht von meinen Männern erschossen. Er war bereits tot, als wir ankamen.“
Carolines Augen füllten sich mit Tränen.
„Er hat ihn erschossen!“
„Wer? Smith?“
Sie nickte heftig.
„Jacob... Er arbeitete zum ersten Mal für Mr. Smith. Er hat den Wagen gefahren und mir ein paar Mal etwas zu Essen gebracht. Wir haben uns unterhalten. Er hat er ein Gespräch belauscht, in dem die Männer beschlossen, mich zu töten, sobald sie meinen Vater in der Gewalt haben würden. Sie meinten, sie könnten mich nicht laufen lassen, da ich sie jederzeit wiedererkennen könnte.“ Caroline schluckte und putzte sich die Nase. „Jacob war damit nicht einverstanden. Er meinte, das war nicht so geplant. Aber er konnte nichts tun. Einmal hat er kurz sein Handy auf dem Tisch liegen lassen. Versehentlich oder absichtlich, ich weiß es nicht. Mir blieb nicht viel Zeit, also habe ich Stefano im Police Departement angerufen, damit er den Anruf zurückverfolgen lässt.“
„Deshalb also war das Einsatzkommando so schnell vor Ort!“ Matt nickte ihr beruhigend zu. „Das war ganz richtig so, Caroline.“
Die Erinnerung trieb ihr abermals die Tränen in die Augen.
„Als Mr. Smith vorhin mitbekam, was draußen lief, kam er herein und nannte Jacob einen Verräter. Dann erschoss er ihn vor meinen Augen!“ Sie umklammerte Matts Hand und lehnte erschöpft an seiner Schulter. „In diesem Augenblick war ich überzeugt, dass ich ebenfalls sterben würde.“
„Und was wollten diese Männer von Ihrem Vater, Miss Hamilton?“, forschte der Einsatzleiter unbeirrt weiter. Matt legte schützend den Arm um Caroline.
„Das sollten Sie vielleicht Mister Hamilton selbst fragen“, sagte er bestimmt. „Ich finde, Caroline hat erst einmal genug Fragen beantwortet.“
Erstaunlicherweise zeigte sich der Beamte einsichtig.
„In Ordnung. Vielen Dank, Miss Hamilton. Wir werden uns bei Ihnen melden, falls noch etwas unklar sein sollte. Einer unserer Männer wird Sie nach Hause bringen.“
„Nicht nötig. Das übernehme ich“, erwiderte Matt und nickte Caroline beruhigend zu. „Zu Hause wartet schon jemand ungeduldig auf dich.“
*
„Alle Achtung, Detektiv! Ich würde sagen, Sie haben unverschämtes Glück gehabt”, bemerkte der Notarzt, der Stefanos Schussverletzung am Oberschenkel behandelte. „Nicht auszudenken, die Kugel hätte stattdessen Ihr Kniegelenk zerschmettert oder wäre gar ein Stück höher...“
„Das stelle ich mir besser nicht vor!“, unterbrach ihn Stefano eilig. „Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen!“
Der Doktor lachte.
„Jedenfalls ist es nur eine simple Fleischwunde, allerdings eine ziemlich schmerzhafte.“
„Wem sagen Sie das, Doc“, erwiderte Stefano und biss tapfer die Zähne zusammen, als die Schwester die Kompressen auflegte und damit begann, ihm einen Verband anzulegen. Der Arzt machte einige Notizen und blickte Stefano mitten in seiner Arbeit über den Rand seiner Brille hinweg prüfend an.
„Ich fürchte allerdings, die Schmerzen sind nicht Ihr größtes Problem, Detektiv.“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, ich habe vorhin zufällig gehört, wie der Boss dieser Polizei-Einsatztruppe meinte, Ihr kleines Feuergefecht würde sicher ein Nachspiel haben.“
Stefano schnaufte abfällig.
„Der ärgert sich doch nur, weil ich schneller war als seine Super-Rambos!“
„Keine Sorge, er wird mit seiner Beschwerde noch etwas warten müssen. Fürs Erste bleiben Sie jedenfalls hier in der Klinik.“
„Was? Auf keinen Fall!“, begehrte Stefano auf. „Ich werde mit den anderen nach Hause fahren!“
„Mit dieser Verletzung?“ Skeptisch sah der Doktor ihn an. „Sind Sie sicher?“
Der Detektiv nickte mit zusammengebissenen Zähnen.
„Ganz sicher. Ist doch nur eine simple Fleischwunde“, wiederholte er die Worte des Arztes und grinste säuerlich. „Zu Hause wartet die bezauberndste Lady, die Sie sich vorstellen können, und sie kann es sicher kaum erwarten, mich gesund zu pflegen.“
„Na wenn das so ist.“ Der Doktor nickte der Schwester lächelnd zu. „Verpassen wir ihm ein ordentliches Schmerzmittel, dann wird es schon gehen.“ Er griff nach einem Rezeptformular.
„Damit wir uns richtig verstehen, Sie haben Bettruhe, Detektiv! Ich schreibe Ihnen sicherheitshalber noch etwas auf, falls die Schmerzen so stark werden sollten, dass nicht mal Ihre bezaubernde Lady sie besänftigen kann.“
Stefano atmete erleichtert auf.
„Danke, Doc!“
*
Danielle stand am Empfangstresen der Notaufnahme, als sie einen Anruf von Matt erhielt. Er teilte ihr kurz mit, was geschehen war und bat sie, nach ihrer Schicht noch zum Flughafen zu fahren und Sophia Hamilton abzuholen, die mit dem Nachtflug aus Caracas ankommen würde. Zutiefst erleichtert darüber, dass Matt und Caroline wohlauf waren, machte sie sich wieder an die Arbeit und erledigte den anstehenden Schreibkram, als John O`Malley aus einem der benachbarten Ärztezimmer trat. Suchend sah er sich um. Als er sie erblickte, eilte er zielstrebig auf sie zu.
„Gerade habe ich erfahren, dass am kommenden Samstag die Testamentseröffnung von Georges Nachlass stattfindet“, erklärte er ohne große Umschweife. „Ich habe bereits mit deinem Personalchef gesprochen und eine Vertretung für dich organisiert.“
„Eine Vertretung?“, wiederholte Danielle erstaunt. „Ja aber, bist du sicher, dass ich bei dieser Testamentseröffnung dabei sein sollte? Ich meine, ich war ja nicht einmal mit George verwandt.“
John nickte überzeugt.
„Roger hat extra betont, dass du unbedingt anwesend sein solltest.“ Er sah sie bedeutungsvoll an und griff nach ihrer Hand. „Und ich möchte ebenfalls, dass du dabei bist.“
Sie verzog bedenklich das Gesicht.
„Ich weiß nicht recht.“
„Bitte Danielle. George wollte es so, und ich werde auch kein Nein akzeptieren.“
„Also gut, wenn dir so viel daran liegt, okay.“
Zufrieden über ihre Zusage beugte sich John über den Tresen, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie spontan auf die Stirn. „Danke!“
Ein lautes Geräusch ließ sie beide aufschauen. Kate stand unweit von ihnen am Tresen und hatte einige Aktenordner schwungvoll auf die Tischplatte fallen lassen. John war nicht sicher, wie lange sie dort schon gestanden hatte, aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wohl schon eine ganze Weile. Als sich ihre Blicke begegneten, drehte sie sich um und ging schnellen Schrittes davon.
„Oh nein“, stöhnte Danielle. „Sie hat das eben garantiert falsch verstanden. Lauf ihr nach John!“
„Ich soll... Warum?“
„Weil sie dich liebt, du Idiot, und weil sie jetzt eifersüchtig ist!“
„Du meinst, sie...“
„Ja!“, rief Danielle ungeduldig und schob ihn energisch in die Richtung, in der Kate vor ein paar Sekunden verschwunden war. „Na los, nun mach schon!“
John überlegte einen Augenblick, dann nickte er.
„Vielleicht hast du Recht. Wir sollten das jetzt ein für alle Mal klären. Bis später!“
Sie sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er eilig den Gang hinunter in Richtung der Aufzüge lief.
„Also wirklich“, sagte sie leise zu sich selbst. „So begriffsstutzig kann doch nur ein Mann sein.“
Nach einem kurzen Blick zur Uhr machte sie sich wieder an die Arbeit.
*
“Was geschieht jetzt mit meinem Vater?”, fragte Caroline und starrte auf die Tür, hinter der die Polizisten vor einer ganzen Weile mit Edward verschwunden waren.
„Er muss, genau wie du, einen kurzen medizinischen Gesundheits-Check machen“, antwortete Matt. „Und danach werden sie ihn sicherlich erst einmal nach Long Beach aufs Revier bringen.“
„Er muss also wieder in Untersuchungshaft?“
„Das ist anzunehmen.“
„Er ist wegen mir hierher zurückgekommen“, sagte Caroline bitter, doch Matt legte ihr die Hand auf die Schulter und sah sie bedeutungsvoll an.
„Er hätte die Stadt beziehungsweise das Land gar nicht erst verlassen dürfen“, erwiderte er ernst. „Alles, was geschehen ist, hat er sich selbst zuzuschreiben.“
Caroline presste die Lippen zusammen und nickte dann.
„Ja, schon klar. Trotzdem tut es mir leid. Vor allem für meine Mutter.“ Sie blickte erschrocken auf. „Wo ist sie eigentlich?“
„Sie kommt mit der nächsten Maschine von Caracas nach LA. Ich habe Danielle angerufen und sie gebeten, sie abzuholen. Wir warten kurz ab, was mit deinem Vater geschieht, und danach bringe ich dich erst einmal nach Hause zu Dean.“
„Dean!“ Carolines vom Weinen gerötete Augen blitzten für eine Sekunde erschrocken auf. „Er wird sich furchtbare Sorgen machen!“
Matt reichte ihr sein Handy.
„Ruf ihn an.“
*
John erreichte Kate gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Fahrstuhltüren hinter ihr schlossen. Schnell stieg er zu und stellte erleichtert fest, dass sie beide allein waren.
„Kate, warte doch mal“, begann er, etwas außer Atem vom schnellen Laufen. „Ich möchte nicht, dass du irgendetwas missverstehst.“
Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch, eine Geste, die ihm noch immer sehr vertraut an ihr war.
„Was meinst du?“
„Das eben. Der Kuss, den ich Danielle gegeben habe. Das war rein freundschaftlich.“
Kates Lächeln wirkte ein wenig aufgesetzt.
„Und wenn schon, O`Malley. Du kannst küssen, wen du willst, das geht mich doch überhaupt nichts an.“
„Doch, natürlich tut es das!“
Wieder gingen die Augenbrauen nach oben.
„Warum sollte es?“
John kannte Kate lange genug, um zu wissen, dass es ihr sehr wohl etwas ausmachte. Allerdings hatte sie schon immer Probleme damit gehabt, anderen ihre Gefühle zu offenbaren. Manch einer würde sie deswegen vielleicht als abgebrüht bezeichnen, aber er kannte sie besser. Diese Reaktionen waren reiner Selbstschutz davor, wieder enttäuscht zu werden.
„Das fragst du noch?“, sagte er leise und trat einen Schritt auf sie zu, obwohl sie sich in der engen Kabine ohnehin schon ziemlich nahe waren. „Okay, ich werde es dir erklären.“ Bevor sie wusste, wie ihr geschah, küsste er sie.
Aus dem ersten Impuls heraus wollte sie ihn abwehren, doch sie hatte die Hände in den Taschen ihres Arztkittels vergraben und kam nicht schnell genug frei. John dagegen hatte seine Arme um sie gelegt und hielt sie fest. Sie verloren das Gleichgewicht und taumelten eng umschlungen nach hinten gegen die Wand, an der die Schalttafel angebracht war.
Mit einem Ruck blieb der Fahrstuhl stehen. Doch das nahmen weder Kate noch John wahr. Sie waren gefangen in ihren Gefühlen füreinander, die mit der Berührung ihrer Lippen explosionsartig freigesetzt worden waren. Es war, als hätten sie beide nur auf diesen einen Augenblick gewartet. Unerfüllte Sehnsucht, zügelloses Verlangen und der unbändige Wunsch, den anderen zu berühren und ihm so nah wie nur möglich zu sein waren das Einzige, was hier und jetzt von Bedeutung war. Kate hatte es endlich geschafft, ihre Hände aus den Kitteltaschen zu befreien. Mit einem wollüstigen Stöhnen klammerte sie sich an John, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
Als sich ihre Lippen irgendwann voneinander lösten, hatte keiner von beiden bemerkt, dass sich der Fahrstuhl mit einem sanften Ruck wieder in Bewegung gesetzt hatte und abwärtsgefahren war. Als sich die Türen öffneten, befanden sie sich im Kellergeschoss.
„Meine Güte“, stöhnte John atemlos und sah Kate an, als sähe er sie seit langer Zeit zum ersten Mal. „Wir sollten ganz schnell nach Hause fahren.“
„Ich muss noch einmal auf die Station zurück“, erwiderte Kate heiser und lehnte völlig aufgelöst an der Wand. Ihr Haar war leicht zerzaust, ihre Wangen glühten, und ihre Lippen waren von dem heftigen Kuss gerötet.
Für John hatte sie nie schöner ausgesehen.
„Dein Dienst ist zu Ende! Und meiner auch“, erinnerte er sie lächelnd und drückte einen der Knöpfe auf der Schalttafel. Fast geräuschlos schlossen sich die Türen wieder.
„Aber ich muss mich umziehen“, unternahm sie einen letzten zaghaften Versuch und ordnete schnell ihre Frisur. Er strich ihr zärtlich mit dem Daumen über die Wange.
„Du siehst fantastisch aus, Dr. Grant. Warum also erst umziehen? Wenn wir zu Hause sind, musst du nur noch etwas ausziehen!“
Sie versuchte einigermaßen schockiert auszusehen.
„Mall!“
„Halt den Mund und küss mich noch mal!“
*
Nach Carolines Anruf wartete Dean bereits ungeduldig. Als Matts Wagen vor dem Haus hielt, lief er hinaus auf die Straße.
Ein Albtraum war zu Ende.
Caroline stieg aus dem Wagen und warf sich in Deans Arme.
„Alles okay, mein Schatz?“, fragte er und blickte dabei über ihre Schulter hinweg fragend auf Matt, der ebenfalls ausgestiegen war.
„Ja... ja, mir geht es gut“, erwiderte sie aufschluchzend.
Matt nickte bestätigend. Dean atmete erleichtert auf. Liebevoll strich er Caroline übers Haar.
„Ich bin in den letzten Stunden hier fast verrückt geworden vor Angst um dich!“
„Jetzt ist es ja vorbei“, sagte sie leise und lehnte sich erschöpft an seine Schulter. „Ich habe die ganze Zeit über befürchtet, dass ich dich niemals wiedersehe!“
„Ganz ruhig“, flüsterte er zärtlich. „Du bist zu Hause, in Sicherheit.“
Matt klopfte Dean kameradschaftlich auf die Schulter.
„Kümmere dich gut um sie.“
„Klar, das werde ich. Vielen Dank für alles, Matt“, erwiderte Dean. „Ich weiß nicht, was ohne deine Hilfe vielleicht für furchtbare Dinge geschehen wären.“
„Wozu hat man Freunde“, nickte Matt und wandte sich an Caroline. „Schlaf dich erst einmal richtig aus. Später kannst du dann deine Mutter besuchen. Danielle bringt sie ins PAZIFIC INN, wo ich ein Appartement für sie genmietet habe. Dort wird sie vorerst wohnen.“
Caroline nickte.
„Vielleicht werden wir morgen versuchen, meinen Vater zu sehen. Allerdings befürchte ich, dass wir ihm diesmal nicht helfen können. Das Geld vom Verkauf der Villa brauchen wir, um eine neue Existenz aufzubauen. Und das OCEANS können wir auch nicht mehr verpfänden.“
„Mach dir darüber erst einmal keine Gedanken“, erwiderte Matt und sah Dean bedeutungsvoll an. „Und was das OCEANS betrifft, da müssen wir beide uns dringend unterhalten. Kannst du morgen früh in mein Büro kommen?“
„Kein Problem, ich werde da sein.“
„Gut, dann lasse ich euch jetzt allein. Danielle wird sicher bald zu Hause sein, und ich sehne mich genau wie Caroline nach einer heißen Dusche.“
Die beiden jungen Leute sahen seinem Wagen nach, bis er hinter der Kurve verschwunden war.
„Was meinte er, als er sagte, er müsse dringend mit dir über das OCEANS reden?“, fragte Caroline neugierig, während sie eng umschlungen das Haus betraten. Dean hob ratlos die Schultern.
„Keine Ahnung, was Matt vorhat, aber Cloe und Anni haben irgendeinen Plan ausgeheckt, wie sie Eden Hollister von hier vertreiben können.“
Erstaunt blickte Caroline auf.
„Eden von hier vertreiben?“, wiederholte sie erstaunt. In Sekundenschnelle überzog ein zuversichtliches Lächeln ihr angespanntes Gesicht. „Dean, was auch immer das für ein Plan sein mag, ich bin dabei!“
*
Einen Tag nach seiner Venezuela-Reise besuchte Matt seinen Bruder in der Klinik. Mason sah gut aus, er machte hervorragende Fortschritte, und die Ärzte waren sehr zufrieden mit ihm. Dr. Pares nutzte jede freie Minute seines Aufenthaltes hier in LA, um die Studien über seinen Hirnpatienten zu vervollständigen. Mason half ihm dabei, so gut er konnte.
Dem Besuch seines Bruders sah er erwartungsvoll und äußerst gespannt entgegen.
„Erzähl schon, wie ist es gelaufen?“
Matt setzte sich ihm gegenüber in den Sessel.
„Ich habe Edward Hamilton dazu gebracht, mit mir nach Sunset City zu kommen. Inzwischen konnten wir gemeinsam mit der Polizei seine Tochter unverletzt aus den Händen der Kidnapper befreien. Die Männer, die sie entführt hatten, sind alle von einem Sondereinsatzkommando getötet worden.“
„Und... meine Firma?“
„Ich habe mit Cynthia um deine Firma gepokert. Cynthia ist übrigens eine wirklich faszinierende Frau. Ich verstehe nicht, weshalb du sie so schlecht behandelt hast. Eine wie sie sollte man nicht einfach abblitzen lassen.“
„Hast du etwa... ich meine, habt ihr...“
Matt hob nur gleichgültig die Schultern.
„Denk was du willst. Dich hat sie doch sowieso nicht interessiert.“ Er maß seinen Bruder mit einem bedeutungsvollen Blick. „Auf jeden Fall gehört mir jetzt die Hälfte der CASTILLO CORPORATION.“
„Du meinst, sie gehört mir!“, verbesserte Mason etwas zaghaft.
Matt lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nein“, erwiderte er in einem Ton, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt. „Ich sagte, ich habe mir die Hälfte der Firma erpokert.“
„Wie soll ich denn das jetzt verstehen?“, fragte Mason empört und lauschte angespannt, während Matt ihm die Sache erklärte. „Aber... das ist meine Firma!“, protestierte er schließlich fassungslos. „Du kannst sie nicht einfach zur Hälfte Cynthia überlassen! Sie hat überhaupt keinen Anspruch!“
„Okay, Mason“, erwiderte Matt ungerührt. „Du kannst jederzeit nach Caracas reisen und die Sache einklagen. Allerdings handelt es sich dabei um einen Deal, den du selbst mit deiner „Ehefrau“ ausgehandelt hast, zumindest glauben das dort alle. Ich war ziemlich überzeugend.“
„Zum Teufel, Matt“, begehrte Mason wütend auf, doch dann besann er sich. „Weshalb konntest du nicht die gesamte Firma retten, anstatt Cynthia die Hälfte in den Rachen zu werfen?“, fragte er mit deutlich mehr Zurückhaltung.
„Darf ich dich daran erinnern, dass du mit ihr verheiratet bist?“, erwiderte Matt ungerührt. „Jedenfalls behauptet sie das, und sie hat recht glaubhafte Beweise, woher diese auch immer stammen mögen. Und da für euch beide in dieser merkwürdigen Ehe kein Ehevertrag existiert, gehört ihr im Falle einer Scheidung die Hälfte deines Vermögens.“
Das war bitter.
Mason sprang auf und begann frustriert im Zimmer auf und ab zu laufen.
„Zum Henker, Matt! Dann besitze ich keinen einzigen Dollar mehr!“
„Wann hast du es das letzte Mal mit ehrlicher Arbeit versucht?“
„Mach dich nicht lustig über mich!“
Matt sah seinen Bruder nachdenklich an.
„Du könntest in meiner Firma arbeiten.“
„Als was? Als dein Laufbursche?“
„Nein, als Leiter der Abteilung für Sicherheit.“
„Sicherheitschef?“
„Nicht mehr und nicht weniger.“
„Und als dein Teilhaber ist keine Stelle frei? Ich meine, immerhin arbeitest du mit meinen Firmengeldern!“
„Irrtum, Bruderherz. Was diese Firmengelder betrifft, die ich durch mein kleines Täuschungsmanöver von Edward zurückbekommen habe, die gehören rechtmäßig der HSE. Wobei...“ Er überlegte kurz und nickte dann. „Ein kleines Startkapital könnte ich vielleicht davon für dich abzweigen. Als Beweis für deine Kooperation in der Sache. Alles andere musst du dir allerdings erst erarbeiten und verdienen.“
„Sprichst du von Geld?“
Matt sah Mason fest in die Augen.
„Nein. Ich spreche von Vertrauen.“