Fünf Jahre später
Das George-Freeman-Memorial, kurz G.F.M. genannt, besteht nunmehr seit drei Jahren. Es umfasst ein großes Medical Center und ein Kurzentrum, in dem sich ehemalige Patienten, aber auch Kurgäste aus aller Welt erholen können. Das GFM ist das größte Projekt seiner Art an der südkalifornischen Küste zwischen San Diego und Santa Cruz.
Die Firma Shelton Enterprise, die dieses Projekt ins Leben rief und den Bau letztlich finanzierte, gehört ebenfalls noch immer zu den bekanntesten Immobilienfirmen an der Westküste. Matthew Shelton leitet die Firma inzwischen gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Mason.
Nachdem Edward Hamilton nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis vor zwei Jahren vergeblich versucht hat, in der Immobilienbranche wieder Fuß zu fassen, arbeitet er nun inoffiziell im Management einer etwas zwielichtigen Baufirma im Orange County. Zu seinen Kunden zählen allerdings nicht nur seriöse Geschäftsleute. Es wird gemunkelt, dass sich seine Verbindungen zu gewissen Mafiakreisen während seiner dreijährigen Haftzeit noch vertieft hätten. Doch solange ihm das keiner nachweisen kann, lebt er sein Leben, gemeinsam mit seiner Frau Sophia, in einer schmucken Wohnsiedlung in Newport Beach, nur einige Straßen entfernt von der Villa, in der Michael Donovan und seine Frau Hannah wohnen.
Michael arbeitet nach wie vor eng mit den Shelton-Brüdern zusammen. Als Firmenanwalt hat er einen festen Platz im Team der SE.
Dean und Caroline Lockwood sind seit fast fünf Jahren wieder miteinander verheiratet und führen noch immer das OCEANS. Sie besitzen ein kleines Strandhaus im Süden von Sunset City, welches Dean selbst für sich und seine junge Frau ausgebaut hat. Die beiden wünschen sich nichts sehnlicher als ein Baby…
Roger Miles hat sich inzwischen aus dem Berufsleben zurückgezogen. Er genießt seinen wohlverdienten Ruhestand auf Santa Rosa Island.
Zu John und Kate O`Malley hat er nach wie vor engen Kontakt.
Die beiden Ärzte sind seit fast vier Jahren glücklich verheiratet und leben nach wie vor auf George Freemans Anwesen. Wann immer beide Zeit haben, besuchen sie Roger gemeinsam mit ihrem dreijährigen Sohn Sean auf Santa Rosa. Wenn John und Kate arbeiten, kümmert sich Georges treue Haushälterin Teresa gemeinsam mit Kindermädchen Lisa um den kleinen Sean. John O`Malley leitet das G.F.M. als Chefarzt. Er wird von einem hervorragenden Ärzteteam unterstützt, das er selbst mit ausgewählt hat, und zu dem auch seine Frau Kate gehört, die als medizinische Leiterin der Notaufnahme tätig ist.
Während Mitch Capwell noch immer als Pilot bei OCEANIC Airlines die großen Jets kreuz und quer durch die Staaten fliegt, brechen für seine Frau Suki als Ärztin die vorerst letzten Wochen im G.F.M. an. Nachdem sie seit Bestehen des neuen Medical Centers als leitende Kinderärztin tätig ist, wird sie sich nun eine Auszeit von mindestens einem Jahr gönnen, da sie bereits im achten Monat schwanger ist. Sie und Mitch freuen sich unbändig auf das Baby.
Grace Capwell wird zur Geburt des Kindes in Sunset City erwartet. Sie möchte die jungen Eltern tatkräftig unterstützen, was die beiden natürlich sehr freut. Und, welche Überraschung, Grace wird nicht allein nach Sunset City kommen. Jonathan Shelton wird sie begleiten. Die beiden haben seit der Hochzeit ihrer Söhne auffällig viel Zeit miteinander verbracht.
Alex Franklyn und Annabel Parker sind inzwischen ebenfalls miteinander liiert und leben in San Diego, wo Alex seit über drei Jahren als Chefarchäologe an einem Institut für Heimat-Forschung arbeitet. Anni engagiert sich mittlerweile ebenfalls für dieses Institut. Doch insgeheim wünscht sie sich etwas, was sie vorher nie für möglich gehalten hatte: ein Baby. Sie und ihr Ehemann arbeiten intensiv daran.
Cloe Blackwater-Abu Asshay lebt noch immer glücklich mit Ronald Austin zusammen in der ehemaligen Hamilton-Villa, weigert sich jedoch beharrlich, Ron nach seiner Scheidung von seiner langjährigen Ehefrau Estelle zu heiraten. Sie ist der Meinung, eine Ehe würde ihrer harmonischen Beziehung nur schaden. Austin selbst betreibt inzwischen neben seiner Firma AUSTIN CREATIONS in Los Angeles eine große Geschäftsfiliale in Sunset City, die mit beachtlichem Erfolg läuft.
Stefano und Claudia Cortez sind seit drei Jahren verheiratet und leben inzwischen in Houston/Texas. Stefano ist vor einigen Monaten als Detektiv dorthin versetzt worden. Claudia fiel der Abschied von Sunset City nicht leicht, aber inzwischen arbeitet sie als Assistentin in der Abteilung ihres Mannes und fühlt sich dort recht wohl. Vor allem, weil sie sich nun mit Stefano endlich eine eigene Zukunft aufbauen kann. Solange sie beide im Haus seiner Mutter lebten, war das kaum möglich, auch wenn sich Dolores in den letzten Jahren doch einigermaßen um ein gutes Verhältnis bemühte.
Manuel Cortez findet seine Erfüllung in seiner Tätigkeit als Priester. Er lässt recht selten von sich hören, aber ein bis zweimal im Jahr besucht er seine Familie in Sunset City.
Zur Hochzeit von Claudia und Stefano kam er als Gast, getraut hat die beiden auf seinen Wunsch hin ein anderer Priester.
Mason Shelton hat seit seiner Operation sein Leben Stück für Stück wieder im Griff. Er wohnt mit seiner kleinen Familie in einem schmucken Häuschen in der Mainstreet. Seine Frau Marina trägt er auf Händen, und ihr gemeinsamer fünfjähriger Sohn Martin ist sein ganzer Stolz. Martin ist seinem Vater sehr ähnlich.
Marina Shelton hat sich in den letzten Jahren wieder mehr ihrem früheren Hobby, der Malerei, gewidmet. Damit hat sie großen Erfolg. Ihre kunstvollen, lebensfrohen Aquarelle schmücken unter anderem die Flure des neuen Kur-Zentrums. Inzwischen bekommt sie Aufträge aus mehreren Bundesstaaten und ist vor ein paar Wochen erst von einer Promotion-Tour aus Texas zurückgekehrt. Ihren Aufenthalt in Houston nutze sie auch zu einem Besuch bei ihrem Bruder Stefano und dessen Frau Claudia.
Marina ist glücklich mit Mason. Die Heirat und das in ihn gesetzte Vertrauen hat sie nie bereut.
Ihren gemeinsamen Sohn Martin umsorgen beide mit sehr viel Liebe.
Nur manchmal, ganz im Geheimen, denkt Marina an die Zeit zurück, als Mason noch „ein anderer“ war: skrupellos, eiskalt und unberechenbar. Dann spürt sie tief in ihrem Inneren die Angst, dass Martin etwas von der damaligen Krankheit seines Vaters geerbt haben könnte, obwohl die von ihr aus diesem Grund konsultierten Ärzte diese Möglichkeit nach eingehenden Untersuchungen bereits so gut wie ausgeschlossen haben.
Doch wenn sie das fröhliche Lachen ihres Sohnes hört, wenn er liebevoll seine kleinen Ärmchen um ihren Hals legt und sich vertrauensvoll an sie kuschelt, wenn sie ihm Gutenacht-Geschichten vorliest, dann vergisst sie diese Ängste ganz schnell wieder und freut sich über ihr gesundes, glückliches Kind.
Für Matt und Danielle waren die letzten Jahre schön und schwer zugleich.
Während Danielle ihr Medizinstudium absolvierte, wurde sie schwanger, und obwohl der Zeitpunkt dafür etwas ungünstig war, freuten sie und Matt sich von ganzem Herzen auf das Baby, das, wie sich bald herausstellte, gleich im Doppelpack kommen sollte.
Mittlerweile sind beide glückliche Eltern von zwei gesunden, völlig identisch aussehenden Mädchen, die prächtig gedeihen und mit jedem Tag hübscher werden. Emily und Lucy, die vor ein paar Wochen bereits ihren dritten Geburtstag feierten, sind der unbestrittene Mittelpunkt im Hause Shelton.
Um ihr Studium trotzdem weiterführen zu können, teilte sich Danielle die Arbeit rund um Haushalt und Kinder mit einer tüchtigen und zuverlässigen Haushaltshilfe. Rosita, die all die Jahre zuvor bei den Hamiltons tätig war und bereits Caroline und Cory aufzog, gehört inzwischen schon zur Familie.
Mit unermüdlichem Einsatz, der tatkräftigen Hilfe seines Bruders und nicht zuletzt der moralischen Unterstützung seiner Ehefrau und seiner Freunde schaffte es Matt, das Millionenprojekt seiner Firma, das G.F.M., ganz im Sinne George Freemans fertigzustellen. Sein Vorschlag war es auch, dem Gesundheitszentrum den Namen seines vor fünf Jahren verstorbenen Hauptinvestors zu geben: George-Freeman-Memorial.
Nun, da Danielle ihr Studium erfolgreich abgeschlossen und die erforderliche Praxiszeit absolviert hat, wird sie künftig als frischgebackene Kinderärztin im G.F.M. tätig sein. Zunächst als Vertretung für Dr. Suki Capwell, die in Kürze ihr erstes Kind erwartet. Später möchte sie sich vielleicht ihren Traum von einer eigenen Praxis erfüllen.
Mit Matt Shelton hat Danielle auch noch nach Jahren den Traummann ihres Lebens an ihrer Seite. An ihrer Liebe zueinander hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, die gemeinsame Vergangenheit hat ihre Verbindung zueinander noch mehr gestärkt und gefestigt. Wann immer die beiden Zeit finden, treffen sie sich mit ihren Freunden und verbringen so viel Zeit wie möglich gemeinsam mit den Kindern.
Einmal im Jahr organisiert Matt regelmäßig auf Paradise Island ein Familientreffen, zu dem sein Vater, Mitchs Mutter, die Yamadas aus Tokio und die Belling aus Oklahoma anreisen. Aber auch Stefano und Claudia Cortez, sowie Danielles Schwester Robyn mit ihrem Dauer-Verlobten Randy dürfen dabei nicht fehlen. Diese verlängerten Wochenenden sind jedes Mal wahre Highlights für alle Anwesenden.
Sobald die Zwillinge alt genug dafür sind, möchte Matt mit seiner Familie nach Europa reisen und seiner Frau all die Plätze zeigen, von denen sie in romantischen Stunden zu zweit so oft geträumt haben: Paris, Venedig, Madrid, London, Berlin. Doch bis es soweit ist, genügt es ihnen, sich ab und zu in den Flieger zu setzen und die Großeltern in Crawford/Oklahoma zu besuchen.
Bevor wir jedoch endgültig Abschied nehmen von SUNSET CITY und seinen uns so vertraut gewordenen Bewohnern, machen wir noch einen Besuch auf Paradise Island, wo Matt und Mason mit ihren Familien gerade das Wochenende verbringen.
Paradise Island, 5 Jahre später
Danielle trat auf die Terrasse hinaus, wo ihr fröhliches Lachen entgegenschallte.
„Guck mal, Mom, von Vita!“
Stolz präsentierten die Zwillinge Emily und Lucy ihrer Mutter die zwei nagelneuen Püppchen, die sie von Evita geschenkt bekommen hatten und die, wie die beiden selbst, völlig gleich aussahen.
„Püppi hat schöne Zöpfe, Mom“, jubelte Emily.
„Will auch so gelbe Zöpfe haben“, ergänzte Lucy begeistert.
„Ihr habt braune Locken, die sind viel schöner“, lachte Evita.
„Ooh, bitte im Garten spielen, Vita“, bat Emily artig.
Evita nickte gutmütig.
„Geht schon, aber bleibt in der Nähe.“
„Kommst du mit, Mom?“
Danielle lachte.
„Lauft nur, ich bleibe noch einen Augenblick hier bei Evita und warte auf Daddy.“
Lächelnd sahen die beiden Frauen den Kindern nach.
„Sie sind wundervoll“, schwärmte Evita.
Schokoladenbraune Locken, durchwirkt von sonnengebleichten goldenen schimmernden Strähnchen, umrahmten die niedlichen Gesichtchen, deren unbestrittener Mittelpunkt die strahlenden, nachtblauen Augen waren, die sie von ihrem Vater geerbt hatten. Zwei völlig identische kleine Wesen, und doch in ihrem Charakter schon recht verschieden. Emily war die Sanftere von beiden, ruhig und sehr anhänglich, ihre Schwester Lucy dagegen wirkte oftmals ungestüm und temperamentvoll. Dennoch ergänzten sie einander wunderbar. Eine konnte einfach nicht ohne die andere sein. Wo Lucy auftauchte, war Emily nicht weit.
„Es wird nicht lange dauern, und die beiden werden die Männerwelt total verrückt machen“, mutmaßte Evita mit stolzem Blick.
Danielle lachte.
„Oh Evita, ich hoffe, bis dahin wird es noch sehr lange dauern.“
In diesem Augenblick trat Marina mit dem fünfjährigen Martin aus dem Haus.
„Sind wir zu spät zum Essen?“, fragte sie mit einem Blick zur Uhr. „Martin war einfach nicht vom Strand wegzubekommen.“
„Matt und Mason sind auch noch nicht zurück“, erwiderte Danielle beruhigend. „Sie helfen Vincent beim Holzsammeln.“
„Er hat es im Kreuz“, fügte Evita entschuldigend hinzu. „Es ist eine Schande, da kommen die Männer endlich mal wieder hierher auf die Insel, und dann müssen sie auch noch arbeiten.“
Danielle lachte.
„Aber Evita! Das tun die beiden doch gern für Vincent. Und ein wenig körperliche Arbeit nach den vielen Stunden im Büro wird sicher nichts schaden.“
„Genau“, ergänzte Marina und blinzelte Danielle schelmisch zu. „Ein bisschen Bewegung hat noch niemandem geschadet.“
„Na, wenn das so ist“, lachte Evita. „Dann werde ich inzwischen das Abendessen bereiten.“
„Darf ich mit den Zwillingen spielen?“, fragte Martin. Seine Hände umfassten liebevoll das glänzende rote Feuerwehrauto, welches Evita und Vincent ihm bei seiner Ankunft heute Mittag geschenkt hatten.
„Aber natürlich, geh nur“, nickte seine Tante Danielle. „Die beiden sind unten im Garten.“
„Prima!“ Martin stürmte davon. Mit seinen fünf Jahren wirkte er bereits recht groß und kräftig. Er hatte dunkles Haar und war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
„Er fühlt sich wohl hier auf der Insel“, sagte Marina, die ihrem Sohn lächelnd nachblickte. „Die ganze Woche hat er von nichts anderem geredet als von dem bevorstehenden Wochenende auf Paradise Island.“
„Das kann ich gut verstehen“, erwiderte Danielle und blickte zufrieden hinaus aufs Meer, auf dessen golden schimmernder Oberfläche die tief stehende Sonne bereits ihre allabendlichen Akzente setzte. „Ich habe mich auch darauf gefreut, endlich mal wieder hier zu sein. Ein schönes ruhiges Wochenende nach all dem Prüfungsstress in der letzten Zeit.“
„Aber der Stress hat sich gelohnt, finde ich.“ Marina lehnte sich neben ihre Schwägerin an die Brüstung der Terrasse. „Du hast es geschafft, Danielle! Du bist jetzt Frau Doktor Shelton. George Freeman wäre bestimmt sehr stolz auf dich.“
„Nicht nur George“, ließ sich Matt vernehmen, der eben die Terrasse betreten hatte. „Rate mal, wer noch.“ Er nahm seine Frau lächelnd in die Arme und gab ihr einen Kuss. Dann hielt er ihr mit gespielt wehleidigem Blick seinen rechten Zeigefinger hin. „Hier, ein klassischer Fall für die neue Kinderärztin!“
„Ein Splitter?“, fragte Danielle ungläubig. „Matt, den kannst du doch selbst...“
„Ich möchte eine sanfte Behandlung, und junge, gutaussehende Kinderärztinnen sind immer sanft zu ihren Patienten!“
„Was du nicht sagst“, grinste Danielle und zwinkerte Marina zu. „Einen Augenblick, ich hole Skalpell, Tupfer, Schere und Nadel aus meiner Tasche. Das muss geschnitten und anschließend genäht werden. Das wollte ich sowieso nochmal üben, bevor ich Suki ab Montag in der Klinik vertrete.“
Mason, der seinem Bruder gefolgt war, lachte schallend.
„Nur zu, ich halte ihn fest!“
*
Martin war inzwischen durchs Haus hinunter in den Garten gelaufen. Schon von weitem hörte er seine beiden Kusinen draußen lachen. Sie saßen auf einer Decke, die Evita vorher liebevoll unter einem Zypressenbaum ausgebreitet hatte, und spielten voller Hingabe mit ihren neuen Puppen.
Martin öffnete die Tür und wollte zu ihnen hinüberlaufen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Eine geheimnisvolle Kraft, die sich der kleine Junge nicht erklären konnte. Sie war wie eine innere Stimme, die ihm gebot stehenzubleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren. Er hörte diese Stimme nicht oft, aber manchmal war sie da, und sie machte ihm Kopfweh.
So wie jetzt...
Er stand an der Tür und sah hinüber zu den beiden kleinen Mädchen, die dort beneidenswert einträchtig zusammen spielten. Die Zwillinge waren so vertieft in ihr Spiel, dass sie ihn nicht zu bemerken schienen.
Martin fühlte sich plötzlich ganz seltsam, irgendwie einsam und von allem ausgeschlossen. Er gehörte nicht dazu, obwohl er es so gern wollte und noch nicht einmal einen Versuch gemacht hatte, zu den beiden Kleinen hinüberzugehen. Emily und Lucy waren für ihn mit einem Mal das Sinnbild einer verschworenen Gemeinschaft, zu der ihm jeglicher Zugang verwehrt war.
Martin kniff die Augen zusammen. Sein Kopf tat ihm weh. Er wusste genau, das würde aufhören, wenn er tat, was die innere Stimme ihm sagte.
Sein hübsches Gesicht verzog sich zu einem eigenartigen Lächeln. Achtlos stellte er das neue Feuerwehrauto auf den Boden neben sich.
Oh ja, er würde schon dafür sorgen, dass Emily und Lucy ihm Beachtung schenkten.
*
„Das Abendessen ist fertig!“, rief Evita und erschien mit einem großen Tablett auf der Terrasse. Danielle und Marina sprangen sofort auf, um der Haushälterin dabei zu helfen, den Tisch zu decken.
„Holt ihr bitte die Kinder?“, rief Danielle Matt und Mason zu. „Sie sind alle drei unten im Garten.“
Wenig später erschien Matt mit den Zwillingen, die er links und rechts auf seinen Armen trug. Emily hatte ihre kleinen Ärmchen um den Hals ihres Daddys geschlungen und schmiegte sich liebevoll an ihn, während Lucy wild zappelte und sich kreischend aus seinem Griff zu befreien versuchte.
„Lucy kann selber laufen!“, verkündete sie selbstbewusst.
Matt lachte.
„Zwei Räuber habe ich erwischen können“, grinste er und setzte seine Töchter kurz vor Danielle ab. „Der dritte wird noch vermisst.“
„War Martin denn nicht bei euch?“, fragte Marina die Zwillinge erstaunt. „Er wollte doch mit euch spielen!“
„Wo ist Marti?“, fragte Emily verständnislos, und Lucy schüttelte den Kopf, dass ihre braunen Locken nur so flogen.
„Marti is nüch da“, nuschelte sie.
„Mason wird ihn schon finden“, beruhigte Matt die Frauen, während er seine Töchter der Reihe nach auf ihre Stühlchen platzierte. „So groß ist ja der Garten nicht.“
Mason fand Martin vor dem alten Brunnen hinter dem Haus. Damit der Brunnen keine Gefahr für die Kinder darstellte, hatte ihn Vincent mit einem schweren Gitterrost abgedeckt, durch den man trotzdem gefahrlos in die unergründliche Tiefe blicken konnte. Martin stand da und starrte hinab, während seine kleinen Hände das großmaschige Gitter umschlossen.
„He Partner, was tust du denn ganz allein hier?“, fragte Mason lächelnd. "Ist dir etwas in den Brunnen gefallen?"
"Ähm... nein, da ist nichts", beeilte sich der Junge zu sagen und trat schnell einen Schritt zurück.
„Ich dachte, du spielst mit Emily und Lucy?“
„Ach, die sind mir zu klein und zu doof“, erwiderte der Fünfjährige und verzog geringschätzig das Gesicht. „Außerdem sind sie Mädchen.“
„Oh!“ Mason verkniff sich ein Grinsen. „Und nur weil sie klein, doof und Mädchen sind, magst du sie plötzlich nicht mehr?“
„So habe ich das nicht gemeint.“
„Sondern?“
„Ich will mit jemandem spielen, der so groß ist wie ich. Jemand, der mit mir Pirat spielt, oder Indianer. Und das spielen die beiden nie.“
„Okay Kumpel, schon verstanden“, nickte Mason und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. „Wie wäre es, wenn wir zwei jetzt als Piraten oben auf der Terrasse erscheinen und uns die besten Happen von Evitas köstlichem Abendessen entern?“
Ein versöhnliches Lächeln erschien auf Martins Gesicht.
„Einverstanden!“, rief er.
„Na dann los! Wer zuerst oben ist!“
Mason lief los. Martin warf noch einen letzten, bedeutungsvollen Blick auf den Brunnen, dann jagte er seinem Vater hinterher.
*
Die Sonne war bereits untergegangen, als Matt seine Zwillinge zu Bett brachte. Eng aneinander gekuschelt lagen die beiden links und rechts von ihm in den Kissen und lauschten der Gute-Nacht-Geschichte, die er ihnen vorlas.
Danielle erschien leise an der Tür und nahm dieses friedvolle Bild dankbar in sich auf. Sie spürte sich so herrlich entspannt und unsagbar glücklich. All der Stress der letzten Wochen und Monate schien von ihr abzufallen, kaum, dass sie heute Mittag die Insel betreten hatten. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie und zauberte ein zufriedenes Lächeln auf ihr hübsches Gesicht. Als Matt das Buch umblätterte, bemerkte seine Frau. Ihre Blicke begegneten sich und hielten einander fest. Er schien ihre Gedanken lesen zu können, denn seine Augen bestätigten jeden einzelnen davon.
Es würde ein wunderschöner Abend werden.
Die Geschichte war zu Ende, die Gutenachtküsschen waren verteilt.
Matt löschte das Licht.
Da ertönte ein Entsetzensschrei: „Meine neue Püppi!“
Und gleich darauf noch einer: „Will meine auch haben!“
Matt atmete tief durch.
„Ja okay, wo sind sie denn?“
„Bei Vita...“
„...im Garten!“
„Gut“, ergab sich Matt seinem Schicksal. „Ich werde sie holen. Und ihr beide bleibt schön im Bettchen!“
*
Im Garten waren keine Puppen. Matt suchte überall, ohne Erfolg. Schließlich holte er die anderen dazu. Ratlos sahen sie sich um.
„Ich habe das Spielzeug erst vor ein paar Minuten weggeräumt“, erklärte Marina kopfschüttelnd. „Da waren keine Puppen dabei.“
„Ich hätte schwören können, dass sie hier auf der Decke lagen, als ich Emily und Lucy zum Abendessen geholt habe“, überlegte Matt. „Auf jeden Fall haben wir sie nicht mitgenommen.“
Danielle atmete tief durch.
„Na gut“, resignierte sie schulternzuckend. „Ich werde nach oben gehen und die beiden beruhigen. Ich hoffe, sie schlafen auch ohne ihre neuen Puppen ein. Morgen können wir dann noch einmal in aller Ruhe suchen.“
*
Trotz Danielles einfühlsamer Worte gab es bittere Tränen.
Dann endlich waren die Zwillinge eingeschlafen.
„Weißt du, wo die neuen Puppen sind, die Lucy und Emily heute von Evita geschenkt bekommen haben?“, fragte Marina ihren Sohn, während sie ihn ins Bett brachte.
Martin schüttelte wortlos den Kopf.
„Du weißt doch, welche ich meine“, forschte Marina weiter. „Die Puppen mit den schönen blonden Zöpfen.“
„Ja, ich weiß“, sagte der Junge und kuschelte sich in seine Decke. „Ich habe sie nicht gesehen.“
„Wirklich nicht? Sie sind nirgends zu finden. Die Zwillinge sind sehr traurig darüber. Sie haben bitterlich geweint.“
„Das tut mir leid. Gute Nacht, Mom!“
Marina suchte vergeblich nach einem Zeichen im Gesicht ihres Sohnes. Da war keine Regung, die ihr Aufschluss hätte geben können, ob Martin tatsächlich nichts von dem Verbleib der Puppen wusste.
„Na gut“, sagte sie und küsste ihn liebevoll auf die Wange, während sie das Licht löschte. „Wenn dir noch etwas einfällt, kannst du es mir ja sagen. Gute Nacht, mein Schatz.“
„Gute Nacht, Mommy.“
*
Als Marina das Kinderzimmer verlassen hatte, starrte Martin ein paar Minuten lang in die Dunkelheit. Dann tastete seine kleine Hand nach dem Lichtschalter. Mit einem vorsichtigen Blick zur Tür, die seine Mutter hinter sich geschlossen hatte, stand er stand auf und ging zu dem Rucksack, in dem er sein mitgebrachtes Spielzeug verwahrte. Aus einer der Seitentaschen holte er etwas Weiches, goldgelb Glänzendes... ein blonder Puppenzopf.
Er betrachtete ihn eine ganze Weile, bevor er ihn wieder in dem Versteck verschwinden ließ. In Gedanken hörte er die Stimme seiner Mutter:
„Die Zwillinge sind sehr traurig darüber. Sie haben bitterlich geweint.“
Ein eigenartiges Gefühl überkam ihn, ein Gefühl, das so stark war, dass er Bauchschmerzen davon bekam. Er konnte sich nicht erklären, woher es kam, aber er wollte, dass es aufhörte. Jetzt, sofort!
Kurzentschlossen nahm Martin sein neues Feuerwehrauto und öffnete leise die Tür. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass draußen auf dem Flur niemand zu sehen war, huschte er hinaus und schlich heimlich auf Zehenspitzen zum Kinderzimmer der Zwillinge.
Fast lautlos trat er ein und ließ die Tür offen. Der Lichtschein vom Flur fiel auf die Gesichter der beiden schlafenden Mädchen.
Martin stand da und betrachtete sie.
„Es tut mir leid“, flüsterte er kaum hörbar. Dann legte er sein neues Feuerwehrauto behutsam zwischen die beiden aufs Kissen.
Kurz darauf verschwand er so lautlos, wie er gekommen war...
* ENDE *