Unzählige scheinbar zusammenhanglose Gedankenfetzen, unvorhersehbar aus dem Nichts auftauchenden, grellen Geistesblitzen gleich, schossen kreuz und quer durch Masons von Schmerzen und Dunkelheit gepeinigtes Gehirn. Jeder Einzelne davon barg neue, qualvolle Hoffnung, in ihm etwas von der verloren geglaubten Erinnerung zu finden, um sich nur Sekunden später wie ein verlorener Leuchtstreifen in der endlosen Nacht zu verlieren. Es war, als hätte man aus einem Roman verschiedene Seiten wahllos herausgerissen und fände keine Möglichkeit, das ganze Buch wieder vollständig zusammenzufügen.
Aufstöhnend presste Mason seine Fingerspitzen an die pochenden Schläfen.
Er hatte das beklemmende Gefühl, in einem luftleeren Raum zwischen Wachen und Träumen zu schweben, ständig verzweifelt auf der Suche nach Antworten auf die unzähligen Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, und er wusste nicht einmal, ob und wie lange er zwischendurch geschlafen hatte.
Irgendwann war Dr. Pares noch einmal bei ihm gewesen und hatte ihm verschiedene Fragen gestellt. Unter anderem wollte er wissen, wie alt Mason sei. Als er ihm die Frage beantwortete, nickte der Arzt lächelnd und meinte, dies passe genau zu seiner Theorie zum gegenwärtigen Krankheitsbild. Mehr wollte er zunächst nicht verraten, doch als er sich abschließend scheinbar beiläufig danach erkundigte, wer denn der Mann gewesen sei, der ihn besucht hatte, war Mason stutzig geworden. Er verlangte nun seinerseits Antworten auf seine Fragen und hatte sich fürchterlich aufgeregt, als Dr. Pares ihn auf später vertröstete und ihm empfahl, sich noch etwas auszuruhen. Er wollte endlich mehr erfahren.
Was war los mit ihm?
Dr. Pares hatte sich schließlich zu ihm ans Bett gesetzt und ihm in aller Ruhe erklärt, dass der Tumor, der ihm entfernt worden war, lange Zeit negativ auf sein Gehirn eingewirkt hatte. Von Bewusstseinsveränderungen war die Rede gewesen, von Veränderungen in seinem Wesen und seinem Charakter.
„Es ist von großer Wichtigkeit, dass wir gemeinsam herausfinden, wann diese Veränderungen begonnen haben“, hatte Pares ihm erklärt. „Deshalb stelle ich Ihnen all diese Fragen.“
Mason hatte keine Ahnung, von welchem Zeitraum die Rede war, als der Arzt von einer „langen Zeit“ sprach. Erst als Dr. Pares schließlich aufstand und ihm einen Spiegel reichte, begriff er allmählich. Der Mann, der ihm entgegenblickte, hatte das Gesicht eines Erwachsenen, nicht das eines heranwachsenden Teenagers. Er war also älter... viel älter, als er geglaubt hatte.
Mason brauchte einen Augenblick um seine Gedanken zu ordnen, doch dann begriff er.
„Oh Gott... nein!“, stöhnte er auf. „Der Mann, der hier gewesen ist, das war gar nicht mein Vater! Das war Matt!“
*
Als Danielle nach der Arbeit die Klinik verließ, wartete Matt bereits am Eingang auf sie. Erschöpft, aber glücklich ließ sie sich in seine Arme fallen und genoss den ersehnten Begrüßungskuss.
„Bist du bei Mason gewesen?“, fragte sie gespannt, während sie Hand in Hand zum Parkplatz gingen. „Erzähl schon, wie verhält er sich?“
Er hob etwas ratlos die Schultern.
„Er scheint sich an nichts mehr zu erinnern, was in den letzten Jahren passiert ist. Zumindest vermutet Dr. Pares das. Er meinte, Mason wäre momentan in dem festen Glauben, er sei noch ein Teenager.“
Danielle starrte ihn fassungslos an.
„Was sagst du da?“
Er nickte bestätigend.
„Das würde allerdings auch seine recht eigenartige Reaktion mir gegenüber erklären, als er meinte, ich hätte seinetwegen nicht so eine weite Reise machen müssen. Er glaubt, er lebt noch in England, und weiß nicht, wie und warum er nach Kalifornien gekommen ist.“
Danielle atmete sichtlich auf.
„Okay. Und war das alles?“
„Wir haben nicht viel geredet, er war noch sehr erschöpft. Aber als ich mich dann verabschieden wollte, hat er mich plötzlich gefragt, warum Matt nicht mitgekommen sei, und ob er ihm noch böse wäre.“ Er bemerkte ihren verständnislosen Blick und lächelte bitter. „Du musst wissen, dass wir unserem Dad sehr ähnlich sehen. Zuerst habe ich nicht begriffen, was Masons Frage bedeuten sollte, aber nach dem Gespräch mit Dr. Pares war es mir plötzlich klar: Mason glaubte, er habe unseren Vater vor sich.“
Danielle blieb stehen und legte mitfühlend ihre Hand auf seinen Arm.
„Ich weiß, das ist schlimm, aber wie Dr. Pares bereits betonte, es kann sich alles noch ändern. Du musst nur Geduld haben.“ Sie wollte ihm Mut machen, dachte jedoch zugleich insgeheim mit Schaudern daran, wie Mason vor ein paar Stunden aufgewacht und sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. Zum Glück war daran nur das Namensschild an ihrem Kittel schuld gewesen, wie sie kurz danach erleichtert festgestellt hatte. „Mich hat er auch nicht erkannt, als ich nach ihm sehen wollte“, meinte sie und berichtete Matt von ihrem Krankenbesuch. Er hörte aufmerksam zu und legte dann seinen Arm liebevoll um ihre Schultern.
„Es muss dich unendlich viel Überwindung gekostet haben, zu ihm zu gehen“, sagte er leise.
„Mach dir keine Gedanken, ich bin nicht aus Watte“, beruhigte sie ihn lächelnd.
Er nickte.
„Oh ja, das weiß ich.“
Sie waren bei seinem Wagen angekommen und blieben stehen.
„Und wie geht es nun mit Mason weiter?“, fragte Danielle, und Matt seufzte.
„Keine Ahnung. Ich weiß nicht so recht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Vielleicht ist es besser, wenn er sich erst einmal ein paar Tage erholt und nur mit Dr. Pares spricht. Immerhin ist es möglich, dass dadurch seine Erinnerung zurückkommt. Der Doc meint, er braucht einfach etwas Zeit.“ Nachdenklich strich er sich mit der Hand über die Stirn. „Außerdem habe ich erst einmal ein paar sehr wichtige Dinge in der Firma zu klären. Edward hat mir einen ziemlichen Scherbenhaufen hinterlassen, und ich bin noch nicht sicher, ob ich es überhaupt irgendwie schaffen kann, die HSE zu retten.“
„Matt, das tut mir leid!“
„Mach dir bitte darüber keine Sorgen, Liebling. Selbst wenn ich die Firma verlieren sollte, wäre das nicht das Ende der Welt. Jetzt, wo wir beide uns wiedergefunden haben, ist alles andere nur halb so schlimm.“
Danielle schlang spontan ihre Arme um seinen Hals und blickte ihm fest in die Augen.
„Wir werden das gemeinsam durchstehen. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Und nun komm, wir holen meine Sachen aus Venice und dann fahren wir nach Hause.“ Die Tatsache, dass sie sein Haus als ihr Zuhause betrachtete, erfüllte ihn in diesem Augenblick mit einem tiefen Glücksgefühl.
„Nach Hause“, wiederholte er lächelnd. „Das klingt richtig gut!“
*
Dean saß neben Mitch im Cockpit der kleinen HSE- Privatmaschine und starrte gedankenverloren vor sich hin. Sie befanden sich auf dem Rückflug von Las Vegas, wo der zuständige Friedensrichter die erst vor ein paar Tagen geschlossene Ehe zwischen ihm und Caroline annulliert hatte.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Firma sowieso vor dem finanziellen Bankrott stand und es auf ein paar Dollar mehr oder weniger nicht mehr ankam, hatte Matt seinen Freund und Firmen-Piloten veranlasst, Dean und Caroline nach Nevada zu fliegen, um sich so schnell wie möglich scheiden zu lassen. Eigentlich sollte Dean froh sein, dass die ganze Sache ohne größere Probleme von statten gegangen war. Stattdessen jedoch fühlte er sich absolut miserabel. Er warf einen prüfenden Blick über seine Schulter zu Caroline, die hinter ihnen im Passagierraum saß. Sie schien die Sache weitaus gelassener zu nehmen, denn sie lehnte entspannt in ihrem Sitz und blätterte in einer Illustrierten.
´Meine Frau... Meine geschiedene Frau´, schoss es Dean durch den Kopf. Ihm kam es so vor, als hätten sie beide mit der Unterschrift, die sie vor knapp einer Stunde unter die Scheidungsurkunde gesetzt hatten, ihre Liebe zueinander verraten. Und wofür? Für finanzielle Unabhängigkeit? Für eine dämliche Immobilie, die ihm letztlich nicht halb so viel bedeutete wie Cary?
„Ich weiß nicht, ob das alles richtig war“, murmelte er selbstvergessen und starrte auf die Berge der Sierra Nevada, deren staubig rotbrauner Gürtel sich auf dem Weg zurück nach Kalifornien scheinbar endlos unter ihnen durch das Tal des Todes erstreckte und genauso trostlos wirkte wie seine eigene Stimmung.
Mitch warf ihm einen prüfenden Blick zu.
„Hey, alles okay mit dir?“
„Ja, einfach perfekt“, erwiderte Dean sarkastisch. „Ich kann Edward förmlich grinsen sehen.“
„Ach komm schon, Mann, in ein paar Wochen ist die ganze Sache vergessen“, versuchte Mitch ihm in seiner typisch unbekümmerten Art Mut zu machen. „Dann habt ihr die Villa verkauft, und holt euch das OCEANS zurück. Somit sind Edwards testamentarische Verfügungen erfüllt, und du kannst Caroline wieder heiraten. Wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten, mein Freund.“ Er grinste. „Hat Cary dir eigentlich schon erzählt, dass Matt ihr versprochen hat, eure zweite Hochzeit zu finanzieren? Ich finde das wirklich großzügig von ihm, wenn man bedenkt, in welcher geschäftlichen Misere er dank Edward Hamilton momentan steckt.“
Dean nickte.
„Ja, ich weiß. Aber erst einmal muss es soweit sein.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch sein kurzes dunkles Haar und lehnte den Kopf zurück. „Und ich kann mir nicht helfen, ich habe bei der ganzen Sache kein besonders gutes Gefühl.“
„Ach was“, winkte Mitch ab. „Verheiratet oder nicht, was bedeutet das heutzutage denn schon? Suki und ich leben bereits seit Wochen ohne Trauschein miteinander, und ich sage dir, es gibt nichts, was ich vermisse, wenn ich mit ihr zusammen bin.“
„Aber ihr wollt doch heiraten, oder?“
„Ja, klar“, nickte Mitch. „Irgendwann sicherlich. Aber im Grunde ist es völlig egal, ob man mit oder ohne Trauschein zusammenlebt, Hauptsache ist, dass man sich liebt. Und das tut ihr zwei, da bin ich ganz sicher.“
„Stimmt“, nickte Dean. „Ich liebe sie wirklich sehr.“
*
Matt, Danielle, John und Kate hatten nicht lange gebraucht, um Danielles winziges Einraum-Appartement auszuräumen. Allerdings erwies sich Matts Firmentransporter fast schon etwas zu klein für eine solche Aktion. Mit Einfallsreichtum und viel Geschick versuchten sie, dennoch möglich alle Sachen darin unterzubringen.
„So, das ist erst einmal der letzte”, schnaufte John und übergab Matt den vollgepackten Karton, den dieser in die letzte winzige Lücke auf der Ladefläche quetschte.
„Irrtum!“, rief Danielle, die mit zwei weiteren Taschen aus der Haustür trat. „Oben steht noch einer mit Büchern.“ Sie lachte, als sie Matts hilfesuchenden Blick sah. „Den holen wir später, okay?“, lenkte sie diplomatisch ein und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Sonst ist am Ende in deinem Wagen kein Platz mehr für mich.“
Er schüttelte beim Anblick seines vollgestopften Autos nur staunend den Kopf.
„Ich frage mich, wie du in so kurzer Zeit so viele Sachen ansammeln konntest!“
„Also wirklich“, stimmte John grinsend zu. „Ich wohne bereits seit über einem Jahr hier und bekäme meinen persönlichen Kram mit Sicherheit noch immer in einen einzigen Koffer.“
Danielle und Kate warfen sich einen gespielt mitleidigen Blick zu.
„Männer“, sagten beide gleichzeitig, verdrehten theatralisch die Augen und lachten.
„Mitch und Suki haben mir nach und nach meine Sachen hergebracht, und den Rest habe ich mir gekauft“, erklärte Danielle und zwinkerte Matt schelmisch zu. „Ich hoffe, du hast ein paar Schränke für mich freigemacht, wenn ich bei dir einziehen soll.“
„Ein paar? An wie viele hattest du denn gedacht?“
„He Matt, pass bloß auf“, lachte John. „Ehe du dich versiehst, wohnst du auf der Veranda.“
Kate trat auf Danielle zu und umarmte sie spontan.
„Danke, dass du mir deine Wohnung überlässt. John und ich, wir brauchen einfach noch etwas Zeit“, meinte sie leise, so dass es die anderen beiden nicht hören konnten.
Danielle lächelte verständnisvoll.
„Kein Problem. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ihr wieder zueinander findet.“
Kate seufzte.
„Wir müssen einfach abwarten, wie sich alles entwickelt. Übrigens habe ich morgen ein Bewerbungsgespräch in eurer Klinik. Ich habe nachgefragt, und sie meinten, auf der „Inneren“ wäre eine Arztstelle frei. Vielleicht, mit ein wenig Glück, bekomme ich die Stelle und muss gar nicht nach Santa Monica.“
„Das wäre fantastisch, Kate“, erwiderte Danielle mit ehrlicher Begeisterung. „Wir drei zusammen in einer Klinik.“
„Ziehen Sie wirklich aus, Kindchen?“, hörte sie plötzlich eine bekannte Stimme hinter sich. Misses Housman stand kopfschüttelnd an der Haustür und musterte mit einer Mischung aus Neugier und Erstaunen den vollgestopften HSE-Transporter.
Danielle lächelte.
„Ja Misses Housman.“ Sie wies auf Matt, der neben John schmunzelnd an seinem Auto lehnte und das Gespräch interessiert verfolgte. „Ich lasse diesen Mann nicht mehr aus den Augen!“
„Das machen Sie richtig“, nickte die alte Dame eifrig. „Trotzdem ist es schade, dass Sie mich verlassen. So eine nette Nachbarin bekomme ich bestimmt nicht gleich wieder!“
„Nun, vielleicht doch.“ Danielle trat auf sie zu und legte ihr den Arm um die Schultern. „Möchten Sie meine Nachfolgerin kennenlernen?“
Mrs. Housman nickte begierig und ihr aufmerksamer Blick blieb an Kate hängen, die lächelnd näher trat und ihr die Hand entgegenstreckte.
„Ich bin Katherine Grant, und Danielle war so nett, mir ihre Wohnung zu überlassen.“
Mrs. Housman zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.
„Sind Sie nicht die neue Freundin von unserem Doktor?“
„Ähm...“ Etwas verunsichert biss sich Kate auf die Lippen und blickte sich hilfesuchend nach John um.
„Wir sind befreundet“, half er ihr mit einem vielsagenden Lächeln aus der Patsche. „Außerdem ist meine Wohnung viel zu klein für zwei.“
„Freunde“, knurrte Mrs. Housman und runzelte missbilligend die Stirn. „Wenn ich das schon höre! Mein verstorbener Mann – Gott hab ihn selig – der pflegte immer zu sagen: Es gibt keine Freundschaft zwischen Mann und Frau. Entweder da ist was, oder nicht.“
Kate und John grinsten etwas peinlich berührt.
„Ach wissen Sie“, flüsterte Danielle Mrs. Housman verschwörerisch zu. „Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Achten Sie bitte gut auf die beiden, ja?“
„Darauf können Sie sich verlassen, Kindchen“, nickte die alte Dame eifrig, und keiner der Anwesenden zweifelte auch nur im Geringsten an ihren Worten.
Mrs. Housmans wachsamen Augen und Ohren würde auch künftig nichts entgehen.
Sie waren gerade losgefahren, als Matt einen Anruf aus der Klinik erhielt.
„Hier spricht Dr. Pares.“
„Gibt es etwas Neues, Doktor?“, fragte Matt beunruhigt und tauschte mit Danielle einen erstaunten Blick.
„Allerdings.“ William Pares` Stimme klang ernst. „Sie sollten sofort herkommen!“
„Ist etwas mit meinem Bruder?“
„Das kann man wohl sagen.“
Voller dunkler Vorahnungen presste Matt das Handy an sein Ohr.
„Hat sich sein Zustand verändert? Geht es ihm schlechter? Bitte, Doktor... Was ist los?“
„Nicht am Telefon. Wie schnell können Sie hier sein?“
„In etwa zwanzig Minuten.“
„Gut. Ich erwarte Sie.“
Bevor Matt noch irgendetwas fragen konnte, hatte der Arzt aufgelegt.
*
In Sunset City angekommen, bat Dean seine frisch geschiedene Frau allein zur Villa ihrer Eltern zu fahren.
„Ich werde zuerst im OCEANS nach dem Rechten sehen“, erklärte er. „Schließlich möchte ich die Bar pünktlich öffnen.“
„Du willst das OCEANS öffnen?“, fragte Caroline etwas erstaunt. „Ich dachte, du wolltest damit warten, bis...“
„Bis man es mir wegnimmt?“ Dean lachte bitter. „Oh nein, ich öffne den Laden planmäßig wie jeden Abend. Warum sollten wir schließen, wenn wir vorhaben, das OCEANS durch Barbezahlung so bald wie möglich wieder auszulösen?“
Caroline hob die Schultern und nickte dann zustimmend.
„Sicher hast du Recht, Schatz. Ich werde so schnell wie möglich nachkommen.“
Als Dean am OCEANS angelangte, sah er sofort das leuchtend rot-weiße Absperrband.
Nichts Gutes ahnend trat er näher. Das Siegel, mit dem die Tür verschlossen worden war, trug das Wappen der Stadt.
„Eigentum der Stadt Long Beach, CA 90800, United States . Betreten strengstens verboten!“ stand auf dem vom Oberstaatsanwalt eigenhändig unterzeichneten Schreiben, das gut sichtbar darüber angeheftet war.
„Verdammt, diese Aasgeier!“, murmelte Dean wütend. „Edward ist noch nicht einmal achtundvierzig Stunden weg, und schon sind sie zur Stelle!“
Er stand da und starrte verbittert auf die Tür, die ihm nun verschlossen bleiben sollte. „Ich werde mir das OCEANS zurückholen, Edward“, schwor er sich in diesem Augenblick. „Und du wirst es auch nicht schaffen, Caroline und mich zu trennen!“
*
Matt hatte sofort die nächste Abfahrt genommen und sämtliche Geschwindigkeitsrekorde gebrochen, um die Klinik so schnell wie möglich zu erreichen. Was war passiert? Ging es Mason schlechter?
Würde er an irgendeiner Nachwirkung der schweren Operation sterben?
Oder hatte er vielleicht sein Erinnerungsvermögen zurückerlangt?
Alles war möglich.
„Verdammt! Warum kommt denn hier keiner?“, rief er aufgebracht und starrte auf die immer noch verschlossene Tür der Intensivstation.
Danielle drückte beschwichtigend seine Hand, worauf er sie entschuldigend ansah. „Tut mir leid, aber diese Ungewissheit macht mich total verrückt.“
In diesem Augenblick öffnete eine der Stationsschwestern die Tür.
„Mister Shelton?“, fragte sie und trat zur Seite, als er bestätigend nickte. „Bitte kommen Sie herein, Dr. Pares erwartet Sie bereits.“
„Ich möchte zuerst nach meinem Bruder sehen.“
Die Schwester warf ihm einen kurzen Blick zu, den er nicht so recht zu deuten wusste.
„Das ist leider im Moment nicht möglich, Sir“, sagte sie streng und wies auf eine der Türen mit der Aufschrift ÄRZTEZIMMER. „Dr. Pares hat ausdrücklich gesagt, ich soll Sie sofort zu ihm bringen, wenn Sie da sind.“
„Es interessiert mich nicht, was...“, wollte Matt gegen diese Bevormundung protestieren, doch Danielle unterbrach hielt ihn mit einer entschiedenen Handbewegung zurück.
„Matt“, flüsterte sie und deutete zum Ende des Ganges, wo sich Masons Krankenzimmer befand. Erstaunt folgte er ihrem Blick und kniff ungläubig die Augen zusammen.
„Was um alles in der Welt soll das denn bedeuten?“
„Kommen Sie bitte, Mr. Shelton!“, bat die Schwester mit Nachdruck und öffnete die Tür zum Ärztezimmer. „Der Doktor wird Ihnen alles erklären.”
*
Niedergeschlagen und ziellos schlenderte Dean ein Stück den Strand entlang.
Nein, das war heute definitiv nicht sein Tag.
Erst verschwand Edward einfach über Nacht spurlos aus der Stadt, ohne sich im Geringsten darum zu scheren, dass er mit dieser Aktion Deans Bürgschaft verspielte und damit alles zu Nichte machte, was er sich in den vergangenen Monaten mühsam aufgebaut hatte. Es traf ja nicht nur ihn, sondern auch Caroline, aber das störte diesen Bastard anscheinend nicht im Geringsten. Im Gegenteil, der saß jetzt irgendwo im Ausland und lachte sich ins Fäustchen.
Dean kickte wütend mit dem Fuß ein Stück Treibholz aus dem Weg.
Verdammt, er war sich so sicher gewesen, das Richtige zu tun, als er das OCEANS als Kaution für Edward einsetzte! Er hatte bei weitem nicht mit dessen Kaltblütigkeit gerechnet. Oder war es eher Verzweiflung, die Edward veranlasst hatte, bei Nacht und Nebel mit Sophia zu verschwinden?
Immerhin hatte er noch die Nerven gehabt, seine eigene Tochter mit seiner schriftlichen Verfügung zur Scheidung zu zwingen!
Dean blieb stehen und starrte aufs Meer hinaus, die Lippen verbittert zusammengepresst. Man sollte eben nicht mit dem Teufel pokern! Das hatte er nun davon.
Aber er würde sich nicht unterkriegen lassen! Irgendwie würden sie es schon schaffen, er und Caroline.
Kurzentschlossen zog er sein Handy aus der Tasche und rief sie an.
„Die haben das OCEANS beschlagnahmt“, sprach er auf ihre Mailbox, als sie sich nicht meldete. „Ich gehe auf ein Bier zu Becky. Bis später. Ich liebe dich, Cary“, fügte er nach kurzer Überlegung noch rasch hinzu, steckte das Handy in die Hosentasche und verließ den Strand schnellen Schrittes in Richtung Promenade.
*
„Doktor, Mr. Shelton und Miss Belling sind hier“, kündigte die Schwester die Besucher an. Dr. Pares kam aus einem der angrenzenden Räume und durchquerte mit schnellen Schritten das Vorzimmer, um Matt und Danielle zu begrüßen.
„Kommen Sie herein“, sagte er und nickte der Schwester dankend zu, die sich daraufhin diskret zurückzog. „Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell hergekommen sind.“
Matt hatte jedoch keinen Sinn für irgendwelche Höflichkeitsfloskeln.
„Doktor Pares“, stellte er den Arzt mit ernster Miene zur Rede, ohne sich auch nur einen Schritt von der Stelle zu rühren. „Was hat das zu bedeuten? Warum stehen Polizisten vor Masons Tür?“
„Geht es ihm gut?“, fragte Danielle vorsichtig.
Der Arzt nickte.
„Sein Zustand ist stabil, er ist zwar immer noch sehr geschwächt von der Operation, aber seine Werte werden stündlich besser. Bisher sieht alles recht gut aus.“
„Und warum haben Sie mir dann am Telefon gesagt, es sei etwas nicht in Ordnung?“, fragte Matt ungehalten. „Was ist los, aus welchem Grund wird mein Bruder bewacht? Warum...“
„Kommen Sie bitte mit“, unterbrach ihn Dr. Pares, legte ihm entschieden seine Hand auf die Schulter und schob ihn in das angrenzende Zimmer. Voller unguter Gefühle folgte ihnen Danielle.
Dr. Pares war nicht allein.
Am Fenster stand ein Mann und blickte hinaus. Als Matt und Danielle den Raum betraten, wandte er sich um. Matts Augen weiteten sich erstaunt.
„Stefano? Was tust du denn hier?“
Der Detektiv drehte sich um, trat auf die Ankömmlinge zu und reichte beiden mit ernster Miene die Hand. „Ich bin dienstlich hier. Es geht um deinen Bruder, Matt.“
„Setzen Sie sich bitte“, forderte Dr. Pares seine Besucher auf und rückte für Danielle einen der Stühle zurecht.
„Was ist hier los, verdammt?“, fragte Matt ungeduldig. „Weshalb wird Mason bewacht?“
„Dienstvorschrift“, erwiderte Stefano. „Wir haben erfahren, dass er sich hier aufhält und nicht, wie angenommen, bei seinem Autounfall vor einigen Monaten ums Leben gekommen ist.“
„Ja und? Weshalb rückst du gleich mit einer Polizeieskorte hier an?“
„Weil gegen Mason Strafanzeige gestellt wurde. Wegen Entführung, Freiheitsberaubung, Widerstandes gegen die Staatsgewalt, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, unerlaubten Waffenbesitzes, und nicht zuletzt wegen versuchten Mordes...“ Stefano machte eine bedeutungsvolle Pause und suchte Danielles Blick. „Versuchter Mord an dir, Danielle.“
Matt atmete tief durch und lehnte sich in dem Sessel zurück.
„Also darum geht es. Ich dachte, diese Sache wäre zu den Akten gelegt worden.“
„Tja, der Fall galt als erledigt, solange man Mason für tot gehalten hat. Nun sieht das Ganze allerdings etwas anders aus. Wir sind verpflichtet, deinen Bruder in Gewahrsam zu nehmen, sobald das möglich ist.“
„In seinem jetzigen Zustand wird er ja wohl kaum einen Fluchtversuch unternehmen“, widersprach Matt ungehalten. „Ist es da nicht etwas übertrieben, gleich zwei Polizisten vor seinem Zimmer zu postieren?“
„Wie gesagt, das ist Dienstvorschrift. Mason hat uns nicht nur einmal ausgetrickst, das müsstest du doch am besten wissen.“
„Moment“, mischte sich Dr. Pares ein. „Das mag ja alles sein, aber wie ich Ihnen vorhin bereits versichert habe, wird der Patient in den nächsten Tagen mit Sicherheit nicht in der Lage sein, irgendetwas auf eigene Faust zu unternehmen. Dafür kann ich als sein behandelnder Arzt garantieren.“
Stefano hob abwehrend beide Hände.
„Entschuldigung, Doktor, bei allem Respekt, aber darauf darf ich mich nicht verlassen.“
„Das ist doch absurd!“, erboste sich Matt. „Was willst du denn tun, Stefano? Willst du ihn hier rund um die Uhr bewachen lassen, bis er wieder auf eigenen Füßen steht?“
„Nein. Nur solange er auf der Intensivstation liegt.“
„Und danach?“
„Danach wird er von uns ins Bezirkskrankenhaus in Long Beach überführt. Dort gibt es einen Trakt, der zum Untersuchungsgefängnis gehört.“
„Das ist nicht dein Ernst!“
„Matt, wir wissen doch beide, was dein Bruder in den letzten Jahren alles getan hat, um dir zu schaden. Und dabei ist es nicht geblieben. Er hat auch andere verletzt, ohne Rücksicht auf Verluste. Meine Schwester, Danielle, wer weiß, wen noch alles! Erinnere dich, wie du um ihr Leben gezittert hast. Es hätte nicht viel gefehlt, und dein Bruder wäre zum Mörder geworden. Er gehört hinter Gitter!“
„Er war krank, Stefano!“
„Tut mir leid, aber was er getan hat, kann man damit nicht entschuldigen.“
Matt seufzte resigniert.
„Dr. Pares, bitte erklären Sie es ihm.“
„Das habe ich vorhin bereits versucht“, erwiderte der Arzt achselzuckend. „Allerdings ohne großen Erfolg.“ Er wandte sich erneut an Stefano. „Sie sprachen eben von Ihrer Schwester, Detektiv Cortez. Kann es sein, dass Sie in diesem Falle etwas befangen sind?“
„Ich verbitte mir solche Anschuldigungen!“
„Dann öffnen Sie die Augen und sehen Sie sich die medizinischen Gutachten an.“ Dr. Pares nahm Masons Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag und hielt sie Stefano unter die Nase. „Lesen Sie! Ich werde Ihnen gern behilflich sein, wenn Sie etwas nicht verstehen.“
„Ich habe Sie bereits sehr gut verstanden, Doktor, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir es hier mit einem Straftäter zu tun haben. Und das Gesetz verlangt…“
„Ihr Gesetz interessiert mich nicht!“, unterbrach ihn Pares ungehalten. „Hier in dieser Klinik haben wir unsere eigenen Gesetze. Hier geht es vorerst einzig und allein um das Wohl des Patienten!“
Stefano schob die Krankenakte achtlos beiseite und bedachte den Arzt mit einem wütenden Blick.
„Ihr Patient, Doktor, hat sich bisher einen Dreck um das Wohl anderer Menschen geschert!“
Pares schüttelte ungehalten den Kopf.
„Ich sagte doch, das war vor der Operation. Der Patient hatte durch seine Krankheit keinen Einfluss auf das, was er tat!“
„Erzählen Sie das dem zuständigen Richter.“
„Das werde ich gern tun – zu gegebener Zeit.“
„Wo kämen wir denn hin, wenn wir jede Straftat hinterher mit Krankheit entschuldigen!“
„Verdammt nochmal, Detektiv, wie kann man nur so verbohrt sein!“
Bevor Stefano erneut etwas erwidern konnte, mischte sich Danielle ungewohnt energisch ein.
„Schluss damit! So kommen wir nicht weiter.“ Sie atmete tief durch und blickte Stefano entschieden an. „Bitte hör mir nur einen Moment ganz in Ruhe zu. Masons Tumor war vielleicht die Ursache für alles, was er in seiner Vergangenheit getan hat. Die Krankheit könnte seine gesamte Persönlichkeit verändert haben. Momentan scheint es, als hätte er nach dem Eingriff einen Großteil seiner Erinnerungen verloren. Und obwohl Dr. Pares eigentlich ganz anderen Verpflichtungen nachgehen müsste, ist er hier, um herauszufinden, in wie weit sich seine Persönlichkeitsstruktur nach der OP verändert. Mason braucht spezielle Therapien, und wer weiß, vielleicht ist er am Ende ein ganz anderer Mensch und bereut zutiefst, was er getan hat. Aber wenn du ihn jetzt einsperrst und irgendwelchen fremden Ärzten überlässt, die keine Ahnung haben, wie sie ihn richtig behandeln sollen, machst du jede Hoffnung zunichte, denn dann hat er keine Chance, wieder ganz gesund zu werden.“
Im Raum war es still.
Dr. Pares wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Matt und nickte ein paar Mal zustimmend.
Stefano sah Danielle nachdenklich an. Dann lehnte er sich zurück und atmete tief durch.
„Na schön, okay. Ich hab`s begriffen. Ich hoffe nur, du auch, Danielle.“
Erstaunt zog sie die Augenbrauen hoch.
„Was meinst du?“
„Nun... Es liegt allein in Matts Hand, wie wir in der Sache weiter verfahren. Er hat seinen Bruder damals auf meinen Rat hin angezeigt. Immerhin hätte Mason dich fast umgebracht. Dagegen waren all seine anderen Taten nur Bagatellen. Aber du solltest eines genau bedenken: Wenn Matt die Anzeige zurückzieht, ist Mason ein freier Mann, sobald er die Klinik verlässt. Dann kann keiner für deine Sicherheit garantieren.“ Er warf einen Blick auf seinen Notizblock, der vor ihm lag. „Was wollte er eigentlich in LA?“
Matts Miene verdüsterte sich zusehends.
„Er hat nach Danielle gesucht.“
„Na also“ schnaufte Stefano. “Er verfolgt sie noch immer!“
„Das war vor seiner Operation“, warf Danielle ein. „Danach hat er mich nicht einmal erkannt.“
„Das wird er aber vielleicht bald. Und dann?“
Matt griff nach Danielles Hand.
„Dann werde ich da sein.“
„Okay.“ Stefano war deutlich anzusehen, dass er mit der Entscheidung nicht einverstanden war. Aber er musste sich fügen und nickte widerstrebend.
„Das ist allein eure Entscheidung. Deine... und Danielles. Also, wie verbleiben wir nun?“
Danielle kämpfte innerlich sekundenlang gegen den Anflug von Panik, den Stefanos deutliche Worte für einen Moment hervorgerufen hatten. Sie wandte den Kopf und suchte Matts Blick.
„Tu es“, sagte sie leise.
Er drückte sacht ihre Hand.
„Ich weiß nicht... Ich muss das nicht tun, wenn du es nicht willst“, flüsterte er heiser.
Sie schluckte.
„Doch, das musst du. Nicht nur um seinetwillen, auch für uns.“
In stillem Einvernehmen sahen sie einander an. Dann straffte Matt entschieden die Schultern.
„Stefano, ich ziehe hiermit meine Anzeige gegen meinen Bruder Mason wegen Entführung und versuchten Mordes offiziell zurück.“
*
Im Café-Shop herrschte um diese Zeit reger Betrieb. Dean sah sich kurz um und entschied sich dann für einen Platz vorn am Tresen.
„Hallo Becky“, begrüßte er die Besitzerin, die ihn mit freundlichem Lächeln willkommen hieß. „Ganz schön was los heute.“
„Ja, ich bin zufrieden“, nickte die Wirtin und musterte ihn etwas erstaunt. „Was ist mit dir? Müsstest du nicht um diese Zeit im OCEANS sein?“
„Das gehört mir nicht mehr“, erwiderter Dean trocken.
Becky zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Ich habe zwar von der Flucht der Hamiltons gehört, aber ich dachte, du führst die Bar erst einmal weiter, bis die Besitzansprüche geklärt sind.“
Dean lachte bitte.
„Dachte ich auch... Bis vor einer halben Stunde. Dann stand ich plötzlich vor einem dicken Siegel der Staatsanwaltschaft.“
„Meine Güte!“ Die Wirtin schüttelte erbost den Kopf. „Edward ist so ein Mistkerl! Haut einfach ab... Ich kenne ihn schon viele Jahre und traue ihm so manches zu, aber dennoch hätte ich nie gedacht, dass er zu so etwas fähig ist.“
„Er ist zu allem fähig, Becky.“
„Ja, anscheinend. Und anscheinend nicht nur er... Sophia kenne ich noch länger, genau genommen schon mein ganzes Leben lang, sie ist seit der High-School eine meiner besten Freundinnen... zumindest dachte ich das. Von ihr hätte ich solch eine Aktion zu allerletzt erwartet.“
„Ach, was soll`s“, seufzte Dean und hob resigniert die Schultern. „Ich habe mit dem Teufel gepokert und verloren. So ist das Leben. Gibst du mir bitte ein Bier? Das kann ich jetzt gut gebrauchen.“
Sie nickte und holte eine Flasche aus dem Kühlschrank.
„Nur Mut, irgendwie wird es schon weitergehen“, sagte sie und schob ihm das Bier über den Tresen. „Das hier geht aufs Haus.“
„Danke Becky.“ Er nahm einen großen Schluck und atmete tief durch. „Ah... das war gut.“
„Du wirst schon sehen, es kommt ganz bestimmt alles wieder in Ordnung“, meinte sie und zwinkerte ihm zuversichtlich zu. „Das Wichtigste hast du ja noch – deine wunderschöne junge Ehefrau Caroline.“
Dean verschluckte sich fast an seinem Bier und presste verbittert die Lippen zusammen. Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt.
„Ja klar, natürlich.“ Mehr brachte er im Augenblick nicht heraus.
Becky blickte sich um.
„Ich muss wieder an die Arbeit. Wir reden später weiter, okay?“
„Ja klar. Lass dich nicht aufhalten.“
Er sah ihr nach, wie sie flink zwischen den Tischen umher eilte und trotz der Hektik für jeden der Gäste ein freundliches Wort fand. So wie Caroline im OCEANS. Missmutig widmete sich wieder seinem Bier und hing für eine Weile seinen Gedanken nach.
Wie lange er so gesessen hatte, wusste er nicht, als Becky plötzlich neben ihn trat und vertraulich ihre Hand auf seinen Arm legte.
„Dean, die junge Frau dort hinten am Fenster hat nach dir gefragt.“
Erstaunt drehte er sich um und folgte dem Blick der Wirtin.
Dort saß eine Blondine mit dem Rücken zu ihm allein an einem der Tische.
„Ich kenne sie nicht. Was will sie denn?“
Becky hob nur die Schultern.
„Das hat sie mir nicht gesagt. Sie kam vor ein paar Minuten herein. Ich habe sie vorher noch nie hier gesehen, und sie sieht ziemlich... teuer aus.“
Dean grinste über die vorsichtige Wortwahl der Wirtin.
„Na dann werde ich mal nachfragen, was die teure Dame von mir will.“ Er trank sein Bier aus, stand auf und begab sich in gemächlichem Schritt zum Tisch der unbekannten jungen Frau. Obwohl er ihr Gesicht noch nicht sehen konnte, wusste er sofort, dass sie nicht hierhergehörte. Irgendwie umgab sie ein Flair, dass sie auf den ersten Blick von den Strandgirls unterschied, die hier ständig ein und ausgingen. Sie war äußerst elegant gekleidet. Das eisblaue Kostüm sah nicht aus, als hätte sie es bei MACYs gekauft. Vielmehr vermittelte es den Eindruck, als sei es eigens für sie angefertigt worden. Ihr blondes, schulterlanges Haar glänzte wie das eines Filmstars, während sie in selbstbewusster Haltung mit überschlagenen Beinen da saß, mit ihren hochhackigen Pumps wippte und scheinbar gelangweilt an ihrem Drink nippte.
Dean räusperte sich vernehmlich.
„Sie wollten mich sprechen?“
Sie schien ihn erwartet zu haben, denn sie war nicht im Geringsten überrascht, als sie so unverhofft angesprochen wurde, sondern drehte sich langsam um und musterte ihn mit unverhohlener Neugier.
Dean musste sich insgeheim eingestehen, dass die Vorderansicht der Besucherin hielt, was der Blick auf ihre Rückseite bereits versprochen hatte.
Sie war Mitte Zwanzig und ausgesprochen hübsch. Genau genommen war ihr Gesicht von jener makellosen Schönheit, wie sie nur das Skalpell eines begnadeten Schönheitschirurgen hervorzubringen vermochte. Ebenmäßig, wie aus Porzellan gemeißelt. Wie er feststellen musste, passte die übrige Figur in fast unheimlicher Vollkommenheit zu diesem Gesicht. Ihre dezent geschminkten, vollen Lippen verzogen sich zu einem charmanten Lächeln, das ihre katzenhaften grünen Augen nicht erreichte. Sie taxierte ihn wie die interessante Auslage einer Boutique in Beverly Hills.
„Da haben wir ihn also... Dean Lockwood, den Besitzer des legendären OCEANS.“
Dean zog erstaunt die Augenbrauen hoch und schwor sich insgeheim, sich von dieser kühlen Schönheitskönigin nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Schließlich war er verheiratet. Zumindest bis vor ein paar Stunden.
„Nun, ich befürchte, da liegen Sie gleich doppelt daneben, Lady. Ich bin weder der Besitzer, noch ist das OCEANS legendär.“
Sie lachte und entblößte dabei, wie nicht anders zu erwarten, zwei Reihen perlweißer Zähne.
„Eins zu null für Sie, Dean. Ich darf sie doch Dean nennen, oder?“
„Sie dürfen, sobald sie mir verraten, mit wem ich das Vergnügen habe?“
„Eden Hollister.“ Sie wies auf den freien Stuhl an ihrem Tisch. „Würden Sie bitte für einen Moment Platz nehmen?“
„Hollister...“, überlegte er laut und grinste dann, während er sich setzte. „Tut mir leid, unter diesem Namen kannte ich bisher nur ein Luxus-Hotel in Las Vegas.“
„Oh, ja natürlich. Es gehört Ed, meinem Vater“, erwiderte sie betont beiläufig und winkte dem Kellner. „Was trinken Sie, Dean? Betrachten Sie sich bitte als mein Gast.“
Dean versuchte sich sein Erstaunen nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
„Ich nehme ein Bier“, sagte er so cool wie möglich. „Aber nur, wenn Sie mir verraten, was ausgerechnet ich für Sie tun kann, Miss Hollister.“
„Eden“, verbesserte sie und gab die Bestellung auf. Dann wandte sie sich ihm wieder zu. „Jetzt sind Sie es, der danebenliegt, Dean. Ich bin nicht hier, damit Sie etwas für mich tun.“ Ihre Sphinx-Augen funkelten wie die einer Katze, die sich ihrer Beute sicher war. „Ganz im Gegenteil. Ich würde gern etwas für Sie tun!“
Wie im Trance griff Dean nach dem Bier, das Becky vor ihm abgestellt hatte.
„Sie wollen etwas für mich tun, Miss Hollister... ähm, Eden? Und was bitte sollte das sein?“
Sie rührte in ihrem Drink, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen.
„Ich möchte, dass Sie das OCEANS wie bisher weiterführen.“
Dean lachte.
„Tja, da sind Sie bei mir leider an der falschen Adresse. Die Bar wurde von der Staatsanwaltschaft Long Beach geschlossen, und ich bin, wie schon erwähnt, nicht mehr länger der Besitzer.“
„Okay, dann formuliere ich es etwas anders“, erwiderte Jade geduldig und sah ihn herausfordernd an. „Arbeiten Sie ab sofort für mich, Dean.“ Sie lehnte sich zurück und lächelte unergründlich. „Ich komme nämlich geradewegs aus dem Büro des Staatsanwaltes in Long Beach. Ich bin die neue Besitzerin des OCEANS.“
*
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Matt, als er kurz darauf gemeinsam mit Danielle und Stefano den Raum verließ.
„Ich werde heute noch meinen Bericht fertigmachen“, erwiderte Stefano. „Komm morgen früh aufs Revier und melde dich bei Chief Henderson. Dort musst du dann deine Aussage unterschreiben.“
„Bist du denn nicht da?“
„Nein, ich habe ab morgen Urlaub.“
„Und was ist mit Edward?“
„Wir verfolgen seine Spur, doch wenn er sich ins Ausland abgesetzt hat, und momentan spricht leider alles dafür, dann können wir erst einmal gar nichts tun.“
„Verdammt“, knurrte Matt. Stefano legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Tut mir leid für dich.“ Er gab den beiden Polizisten vor Masons Krankenzimmer ein Zeichen, und die Beamten zogen sich daraufhin sofort zurück.
„Okay“, nickte Matt und reichte ihm die Hand. „Danke für dein Verständnis, Stefano.“
Der Detektiv nickte mit einem immer noch etwas skeptischen Lächeln.
„Ich hoffe nur, du wirst nicht eines Tages bereuen, was du eben getan hast.“
Matt sah ihn nachdenklich an.
„Ich habe mir mein halbes Leben lang gewünscht, dass Mason und ich ein brüderliches Verhältnis zueinander haben könnten. Vielleicht ist das jetzt die Chance, unseren Hass aufeinander ein für alle Mal zu vergessen.“
„Ja, vielleicht.“ Stefano drehte sich um und maß Danielle zum Abschied mit einem bedeutungsvollen Blick.
„Pass auf dich auf.“
„Das werde ich.“
Matt hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und blickte Stefano nach, wie er hinter der Tür verschwand.
„Geht es Mason wirklich gut?“, wandte sich er an Dr. Pares, der ebenfalls das Zimmer verlassen hatte. „Oder hat er mitbekommen, was hier los war?“
William Pares schüttelte den Kopf.
„Nein. Das, was heute hier geschehen ist, bleibt unter uns. Ihr Bruder wird es nie erfahren. Es sei denn, Sie wollen, dass er es erfährt!“
*
Auf der Heimfahrt nach Sunset City fiel Matt auf, wie still Danielle war. Blass und in sich gekehrt saß sie neben ihm und starrte die ganze Zeit geradeaus durch die Windschutzscheibe.
„Was ist denn los, Liebling? Fühlst du dich nicht wohl?“, fragte er besorgt.
„Nein, mir fehlt nichts“, erwiderte sie etwas hastig. „Es geht mir gut.“
Matt war noch immer viel zu sehr mit den Geschehnissen der letzten Stunde beschäftigt, sonst hätte er bemerkt, dass das Gegenteil der Fall war.
Es ging ihr ganz und gar nicht gut...
Es waren die Worte, die Dr. Pares zuletzt gesagt hatte. Diese Worte hatten etwas in ihr wachgerufen, eine unangenehme Erinnerung, die bisher irgendwo in ihrem Unterbewusstsein geschlummert hatte, und die sie noch nicht so recht zu deuten wusste.
´Das, was heute hier geschehen ist, wird Matt nie erfahren... Es sei denn, ich will, dass er es erfährt!´
Sie hörte die Worte immer und immer wieder, aber es war nicht die Stimme von Dr. Pares, die in ihrem Kopf widerhallte.
Es war Masons Stimme...