„Was wollen Sie denn hier?“, fragte Caroline unfreundlich.
Der Besucher ignorierte ihre offensichtlich zur Schau gestellte Ablehnung und streckte stattdessen entgegenkommend seine Hand zur Begrüßung aus.
„Caroline, ich freue mich, Sie wiederzusehen. Hat Matthew Shelton Sie denn nicht angerufen?“
Instinktiv trat Caroline einen Schritt zurück und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust.
„Er hat mir jemanden angekündigt, der an dem Haus interessiert ist. Ihr Interesse dürfte ja wohl eher meiner Mutter gelten. Aber da haben Sie leider Pech, Sophia ist nicht da.“
Der Mann in dem makellos sitzenden hellen Designeranzug lächelte nachsichtig und zog seine Hand diskret wieder zurück.
„Ich versichere Ihnen, meine Liebe, ich bin ausschließlich wegen der Villa hier. Ich hörte, dass Sie einen Käufer suchen.“
Caroline lachte spöttisch.
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich auch nur einen Augenblick lang erwägen würde, ausgerechnet Ihnen das Haus meiner Eltern zu verkaufen!“
„Doch, das glaube ich allerdings. Ich kann mir nämlich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Käufer Ihnen momentan die Türen einrennen.“
Er musterte sie abwartend und lächelte noch immer. „Wollen Sie nicht endlich das Kriegsbeil zwischen uns begraben und mich hereinbitten?“
Caroline musste sich insgeheim eingestehen, dass er Recht hatte. In Sunset City und Umgebung war ihr auf Anhieb niemand bekannt, der sich ein Haus wie dieses hätte leisten können. Es dürfte unter Umständen Wochen, ja sogar Monate dauern, bis die extravagante Immobilie sich verkaufen ließ, und solange würden sie und Dean ohne jede finanzielle Unterstützung dastehen.
Widerwillig gab sie die Tür frei.
„Kommen Sie herein.“
„Vielen Dank.“
Mit einem charmanten Lächeln, für das ihm Caroline liebend gern die Augen ausgekratzt hätte, betrat Ron Austin die Villa der Familie Hamilton.
*
„Du willst... Waaas?“ Anni knallte ihr Besteck auf den Tisch und ließ ihre Handfläche in eindeutiger Geste vor ihrer Stirn kreisen. „Hast du sie noch alle, Tantchen?“
Cloe, die ihr gegenüber saß, sah sich peinlich berührt um. Einige der Gäste an den Nachbartischen im YACHT CLUB blickten bereits interessiert zu ihnen herüber. Sie lächelte entschuldigend nach allen Seiten und warf ihrer Nichte gleich darauf einen vernichtenden Blick zu.
„Annabel, würdest du dich bitte etwas angemessener benehmen? Ich bin hier Stammgast und möchte es auch weiterhin bleiben!“, zischte sie verärgert.
Anni lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
„Seit wann interessieren dich denn die anderen Leute?“, fragte sie mit zuckersüßem Lächeln. „Lass mich nachdenken... Ach ja, du benimmst dich so seltsam, seitdem du mit diesem Schneider ins Bett gehst.“
Cloe atmete tief durch.
„Hör zu, meine Liebe, Ronald Austin ist ein überaus angesehener, charmanter, gut aussehender...“
„...stinkreicher, verheirateter Schneider“, ergänzte Anni ungerührt und nippte an ihrem Aperitif. „Du hattest schon immer einen etwas eigenartigen Geschmack, was Männer betrifft, aber diesmal übertriffst du dich selbst, Tante Cloe.“
„Du hast absolut kein Recht, an mir herumzukritisieren“, erwiderte Cloe beleidigt.
Anni lachte verächtlich.
„Als ob dich das je gestört hätte.“
„Hat es auch nicht.“
Die beiden Frauen starrten einander einen Moment lang wütend an.
In diesem Augenblick erschien Geràrd, ein junger Kellner, der erst seit kurzem im YACHT CLUB arbeitete, an ihrem Tisch. Er schien sichtlich fasziniert von Annabel Parker, denn er vermochte seinen Blick kaum von ihr und ihren üppigen, wie immer gut zur Schau gestellten Kurven losreißen. Erst vor ein paar Minuten hatte er seinem Kollegen hinter der Bar vorgeschwärmt, wie toll er die Rothaarige da drüben fand, und auf was er alles verzichten würde, nur um ein einziges Mal ihr Schlafzimmer von innen zu sehen.
Sein Kollege hatte ihn gewarnt und gemeint, die Dame sei als äußerst zickig und unhöflich bekannt, doch er ließ sich davon nicht abschrecken. Schließlich stammte er aus Paris, der Stadt der Liebe, und französische Männer waren für ihren angeblich unwiderstehlichen Charme weltweit bekannt.
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte er mit betontem Akzent, deutete eine knappe Verbeugung an und starrte dabei wie hypnotisiert auf Annis großzügiges Dekolleté.
„Ja allerdings!“, fauchte diese, wobei sie Cloes Blick hartnäckig standhielt. „Bringen Sie meine durchgeknallte Tante zur Vernunft!“
Geràrds mühsam einstudiertes Lächeln entgleiste auf der Stelle.
„Wie meinen...?“, stammelte er verwirrt wie ein Dreizehnjähriger, doch Cloe winkte nur ärgerlich ab.
„Schon gut, mein Lieber. Vielen Dank.“
„Können Sie sich vorstellen, dass sie mit ihrem neu eroberten Galan in die teuerste Villa von Sunset City einziehen will?“, erboste sich Anni weiter, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. Einmal in Fahrt war sie schwer zu bremsen.
„Annabel!“, zischte Cloe in warnendem Unterton.
Der junge Kellner, dem dieser Auftritt unerwartet peinlich war, grinste schief.
„Na ja, ähm… also... was soll ich sagen…“
„Schon gut, Kleiner, kriegen Sie sich wieder ein. Das sollte nur ein Scherz sein. Tun Sie, wofür sie bezahlt werden: Bringen sie mir ein Mineralwasser“, winkte Anni lässig ab und beachtete ihn nicht weiter. Zutiefst gekränkt zog Geràrd von dannen. Auf eine solch offensichtliche Niederlage war er nicht vorbereitet gewesen! Was bildete sich diese rothaarige Zicke eigentlich ein! Nicht einmal richtig angesehen hatte sie ihn!
„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, grinste sein Kollege schadenfroh, als der Franzose an die Bar zurückkam.
„Hast du gehört, wie sie mich genannt hat?“, fauchte Geràrd erbost.
„Klar. Alle hier haben das gehört!“
„Diese Frau ist absolut… impossible!“
„Was du nicht sagst“, amüsierte der andere sich köstlich. „Dabei war sie heute noch nicht einmal annähernd in Höchstform!“
Anni hatte indessen ihr Besteck wieder aufgenommen und begann weiter in ihrem Salat zu stochern.
„Aber mal ernsthaft, Tante Cloe, hat dir das eine blaue Auge nicht gereicht, dass dir seine Frau verpasst hat?“
„Das war nicht Estelle, sondern Sophias alte Freundin Kelly, ein Zwei-Zentner-Drachen, der seit mindestens einhundertfünfzig Jahren unglücklich in Ron verschossen ist“, verbesserte Cloe ungerührt. „Aber das wird bestimmt nicht wieder vorkommen, denn nun bin ich ja gewarnt.“
„Mal ehrlich“, kaute Anni etwas versöhnlicher. „Warum suchst du dir nicht einen Kerl, der reich und charmant, aber unverheiratet ist?“
„Die sind heutzutage leider Mangelware, Süße. Wer von den Typen in diesem Alter noch ledig ist, hat entweder einen Buckel oder ist nicht ganz richtig im Kopf.“
Anni verzog nachdenklich das Gesicht.
„Aber dieser Austin, der hat doch seine Firma in LA, wenn ich mich nicht irre. Was will er dann hier bei uns?“
„Er will eine größere Modefiliale in der Ferienanlage aufmachen, die Edward und Matt bauen“, erklärte Cloe und tupfte sich die sorgfältig geschminkten Lippen vorsichtig mit ihrer Serviette ab.
Anni zog missbilligend die Augenbrauen hoch.
„Du meinst, die Ferienanlage, die Matt nun allein baut“, verbesserte sie altklug. „Edward kannst du nämlich getrost vergessen. Das Projekt steht und fällt ausschließlich mit Matt Shelton. Wer weiß, ob er das allein schafft. Und wenn nicht, kann dein Schneiderlein Nadel und Faden gleich wieder einpacken.“
Cloe ließ sich nicht entmutigen.
„Egal, wie sich die Sache auch entwickeln mag, in ein paar Wochen werde ich bis auf weiteres mit Ronald Austin gemeinsam in der Villa wohnen, die den Hamiltons gehört hat. Und glaub mir, ich werde jede Minute genießen. Das solltest du übrigens auch tun, meine Liebe, denn wenn deine finsteren Prognosen wirklich eintreffen, bin ich im Handumdrehen zurück in unserem gemeinsamen Strandhaus und werde dir und deinem überaus gut aussehenden Liebhaber in eurem Liebesnest wieder auf die Nerven fallen.“
Anni grinste.
„Gott bewahre mich davor, Tante Cloe. Zieh zu deinem Schneider, wenn dich das glücklich macht.“
„Na also.“ Cloe hob ihr Glas und lächelte ihrer Nichte honigsüß zu. „Warum nicht gleich so! Spätestens in vier Wochen seid ihr mich los. Dann schlafe ich nämlich in Sophia Hamiltons Himmelbett!“
*
Danielle stand vor dem Eingang des sonnengelben Eckhauses in der Ocean Avenue, welches für einige Zeit ihr Zuhause gewesen war. Lächelnd blickte sie hinauf zu der aufgemalten Sonne, die noch immer als Wahrzeichen von Mitchs Wohngemeinschaft über der Tür prangte. Genau hier an dieser Stelle war es gewesen, wo sie Matt damals wiedergetroffen hatte. In diesem Haus war sie unbeschwert und glücklich und voller Zukunftspläne gewesen, und als sie vor ein paar Wochen ausgezogen war, hatte sie in ihrem Zimmer oben unter dem Dach die bisher bittersten Tränen ihres Lebens geweint.
Sie lächelte und spürte zugleich einen winzigen Anflug von Wehmut.
In diesem kleinen Zimmer, das so viele Erinnerungen barg, wohnte jetzt Robyn, und Danielle freute sich darauf, ihre Schwester in wenigen Augenblicken endlich wiederzusehen. Erwartungsvoll drückte sie auf den Klingelknopf.
Eine Weile blieb es still und Danielle wollte schon wieder gehen, als schließlich doch die Tür geöffnet wurde.
Randy, nur mit Shorts bekleidet, starrte sie fast erschrocken an.
„Danielle...“
„Hallo Randy“, sagte sie und lachte über sein entgeistertes Gesicht.
„Wo... kommst du denn her?“, stotterte er verwirrt.
„Das werde ich dir gerne erzählen“, erwiderte sie amüsiert. „Falls du mich hereinlässt.“
„Ja... klar... natürlich!“ Er trat zur Seite und ließ sie ein. Von irgendwo her kam Scout um die Ecke gesaust und umkreiste die unerwartete Besucherin freudig kläffend. Lachend nahm Danielle ihn hoch. „Na mein Freund, wie geht es dir?“
Neugierig blickte sie sich um, während sie den kleinen Hund liebevoll zwischen den spitzen Ohren kraulte. Nein, hier hatte sich nichts verändert, alles war genauso wie vor ein paar Wochen. Sofort umfing sie das vertraute Flair der Wohngemeinschaft. Sie atmete tief durch und drehte sich zu Randy um, der sich inzwischen einigermaßen gefasst zu haben schien.
„Schön dich zu sehen“, sagte er herzlich. Danielle setzte Scout wieder ab und umarmte ihren ehemaligen Mitbewohner zur Begrüßung.
„Mitch hat uns erzählt, was Marina getan hat. Ich hoffe, du hast dich mit Matt ausgesprochen, und ihr habt euch versöhnt!“
Danielle nickte.
„Ja, das haben wir. Ich wohne ab sofort auch wieder in Sunset City. Gestern bin ich bei Matt eingezogen.“
„Das freut mich für dich! Für euch beide.“ Randy schob sie in die Stube und wies auf das Sofa. „Setz dich doch erst einmal, ich mache dir einen Kaffee, wenn du möchtest. Oder vielleicht lieber einen Tee?“
Danielle musterte ihn erstaunt. Warum erschien er ihr nur die ganze Zeit über so nervös? Er war doch sonst immer so ausgeglichen und unkompliziert.
„Weißt du, eigentlich hatte ich vor, meine kleine Schwester zu besuchen“, sagte sie und schlug den Weg zur Treppe ein. „Ist sie da?“
Mit wenigen Schritten eilte Randy an ihr vorbei und baute sich vor den Stufen auf.
„Nein... äh, doch... ja, sie ist oben. Ich werde ihr sagen, dass du hier bist!“
„Randy“, lachte Danielle und schob ihn sanft beiseite. „Das kann ich ihr doch selber sagen. Meinst du nicht auch, dass ich es hinbekomme, mein ehemaliges Zimmer allein wiederzufinden?“
Randy räusperte sich umständlich.
„Ähm... Danielle... Robyn ist aber nicht in deinem… ähm… ihrem Zimmer.“
„Nein?“ Irritiert blieb sie stehen und sah sich nach ihm um. „Wo ist sie dann?“
Er biss sich auf die Lippen und grinste verlegen.
„Sie ist... in meinem Zimmer.“
Danielle starrte Randy sekundenlang sprachlos an. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und lief weiter die Treppen hinauf.
„Danielle, warte doch mal...“, versuchte Randy sie vergeblich aufzuhalten.
„Ich hätte jetzt doch ganz gern einen Kaffee“, erwiderte sie unbeirrt über die Schulter hinweg, bevor sie nach oben auf den Gang verschwand.
„Heiliger Strohsack, so ein Schlamassel!“, stöhnte Randy und strich sich nervös über die Stirn, bevor er sich schließlich seinem Schicksal ergab und achselzuckend in die Küche trottete.
Währenddessen betrat Danielle Randys Zimmer.
„Wo bleibt mein Frühstück? Ich sterbe vor Hunger!“, tönte es irgendwo aus den zerwühlten Kissen hervor, zwischen denen nur ein heller Haarschopf zu sehen war. Danielle blieb an der Tür stehen und verschränkte abwartend die Arme.
„Frühstück? Um diese Zeit? Wie wäre es stattdessen mit Mittagessen? Oder einer klärenden Unterhaltung?“
„D... Danielle!“ Zu Tode erschrocken fuhr Robyn hoch und zog sich angesichts der unerwarteten Besucherin beschämt das Laken um die nackten Schultern. „W...was tust du denn hier?“
„Ich wollte dich überraschen, kleine Schwester“, erwiderte Danielle mit sarkastischem Unterton. „Stattdessen werde ich nun überrascht.“
„Es... es... es ist nicht so, wie es scheint“, stotterte Robyn aufgeregt. „Randy und ich... wir... ähm... wir haben nämlich ... nur unsere Zimmer getauscht!“
Danielle grinste, bückte sich nach einer achtlos am Boden liegenden Männerjeans und hob sie hoch.
„Ah ja, und die Sachen habt ihr bei der Gelegenheit anscheinend auch gleich getauscht. Wie praktisch!“
Robyn verzog peinlich berührt das Gesicht.
„Ich weiß, du bist überrascht, aber Randy und ich, das hat sich einfach so ergeben. Er ist total süß.“
Danielle grinste und setzte sich auf die Bettkante.
„Na sicher ist er das. So wie fast alle kalifornischen Boys.“
„Oh nein“, protestierte Robyn entschieden. „Du denkst jetzt bestimmt, dass ich mir Randy geschnappt habe, weil ich Mitch nicht bekommen konnte.“
„Und, ist das so?“
„Natürlich nicht!“
„Das hoffe ich für dich“, warnte Danielle ab und lächelte. „Randy ist ein netter Kerl. Wenn du ihn wirklich liebst, wird er dich auf Händen tragen. Wenn du ihn nur ausnutzt, bekommst du es mit einer ganzen WG zu tun.“
„Ich nutze ihn bestimmt nicht aus.“
„Dann ist es ja gut.“
Robyn strahlte, sichtlich erleichtert, dass ihre ältere Schwester die Sache anscheinend gelassen nahm.
„Ich bin total glücklich“, gestand sie. „Irgendwie war das Liebe auf den zweiten Blick zwischen Randy und mir. Jetzt weiß ich, wie du dich gefühlt haben musst, als du Matt begegnet bist.“
Danielle zwinkerte ihr zu.
„Wenn es dir ernst ist, kannst du davon ausgehen, dass dieses Gefühl noch eine ganze Weile anhält.“
*
Matt stützte den Kopf in die Hände und starrte auf die Tischplatte vor sich.
Es war zum Verzweifeln! Was Elisabeth ihm in den letzten Stunden offenbart hatte, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Edward hatte in der Firma anscheinend eine Art zweites Leben geführt. Er hatte spekuliert, gepokert, bestochen, vertuscht und manipuliert, wo es nur ging.
Vor einer Stunde hatte ihn ein Anruf aus Tokio erreicht. Kobayashi Makoto, einer der Hauptinvestoren der Ferienanlage, dem zu Ohren gekommen war, dass es in der Firma anscheinend Unstimmigkeiten gab, zeigte sich alles andere als erfreut über diesbezügliche Gerüchte und wollte Sicherheiten. Leider sah sich Matt derzeit nicht in der Lage, ihm diese zu gewährleisten. Also war damit zu rechnen, dass die HSE diesen wichtigen Investor verlieren würde, was einer mittleren Katastrophe gleichkam.
Und das alles sollte er jetzt ausbaden?
Nein, das war allein gar nicht möglich.
Vor ein paar Minuten war ein Anruf von irgendwelchen Leuten gekommen, die sich von Edward um eine größere Geldsumme betrogen glaubten. Sie forderten ihr Geld nun mit Nachdruck zurück, und der Mann am Telefon, bei dem es sich ganz bestimmt nicht um irgendeinen seriösen Geschäftsmann handelte, hatte kein Hehl daraus gemacht, dass es ihm egal war, ob es von Edward oder von dessen Partner kam. Er wollte es haben, so oder so. Seine Beschimpfungen waren noch das wenigste gewesen, die offene Drohung, die er dabei ausgestoßen hatte, bereitete Matt viel mehr Kopfzerbrechen. Diese Leute kannten kein Pardon. Was wäre, wenn ihm etwas zustoßen würde?
Ihm, oder – noch schlimmer - Danielle!
Der Gedanke daran jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
Nein, soweit durfte er es nicht kommen lassen. Für die privaten Schulden von Edward würde er erst einmal selbst aufkommen müssen, um jegliche Gefahr von dieser Seite so weit wie möglich abzuwenden.
Und für die Firma?
Ein cleverer Rechtsbeistand war zunächst das Wichtigste, was er brauchte, um das Gröbste auf die Reihe zu bringen. Ein Anwalt, der sich im Labyrinth der Gesetzeslücken bestens auskannte, sich nicht einschüchtern ließ, und auf den mindestens zweihundertprozentiger Verlass war.
An Andrew Hamilton konnte er sich nicht wenden, soviel war sicher. Edwards Bruder würde er auch vor Gericht keinen Meter weit trauen.
Aber gab es überhaupt noch so einen fähigen Mann?
Matt hielt plötzlich inne, ließ den Stift sinken und lächelte.
Oh ja, natürlich! Und ob es den gab!
Entschlossen griff er zum Telefon.
„Elisabeth? Verbinden Sie mich bitte sofort mit der Kanzlei von Michael Donovan in Newport Beach!“
*
„Ich freue mich, dass wir beide uns so gütlich einigen konnten“, verabschiedete sich Ron Austin mit einem freundlichen Lächeln und reichte Caroline die Hand. Diesmal erwiderte sie seinen Gruß und blickte nicht mehr ganz so finster drein wie zu Beginn seines Besuches.
„Ich danke Ihnen, Mister Austin, und wünsche ihnen viel Glück mit der Villa.“
Er nickte ihr wohlwollend zu.
„Wenn Sie Hilfe brauchen, dann kommen Sie zu mir. Ich werde jederzeit für Sie da sein“, versprach er.
Sie lächelte säuerlich.
„Danke, das weiß ich zu schätzen“, erwiderte sie dennoch so diplomatisch wie möglich. „Glücklicherweise habe ich hier in der Stadt auch ein paar gute Freunde, die mir während dieser schwierigen Zeit beistehen.“
„Alles Gute, Caroline.“
Sie sah ihm nach, wie er die Auffahrt entlang zu seinem Wagen ging. Ihr Groll gegen den Mann, der versucht hatte, ihre Mutter zu verführen, hatte sich in den letzten Minuten etwas gelegt. Nach ihrer Unterhaltung mit ihm musste Caroline sich eingestehen, dass er Recht hatte. Er hatte Sophia kennengelernt, als sie unglücklich und allein war, und hatte ihr damals das Gefühl gegeben, schön und begehrenswert zu sein. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen, indem er ihr zuhörte und für sie da war, als sie jemanden brauchte. Er war charmant, freundlich und geduldig, alles Eigenschaften, die Edward im Laufe seiner Ehe verlernt zu haben schien.
Caroline seufzte. Es gehörten bekanntlich immer zwei dazu, wenn eine Beziehung nicht funktionierte, und Sophia hätte sich nie auch nur ansatzweise mit einem anderen Mann eingelassen, wenn Edward ihr die Liebe und Geborgenheit gegeben hätte, die sie so verzweifelt suchte. Vor allem damals, nach ihrer Fehlgeburt.
Doch das Verhältnis zwischen ihren Eltern war schon lange nicht mehr perfekt gewesen. Caroline hatte nur die Augen davor verschlossen, um sich selbst ihre heile Welt zu erhalten.
Das war nun vorbei. Für immer.
Der Preis, den Ron Austin für die Villa geboten hatte, war mehr als akzeptabel. Sie würde zu diesen Konditionen mit Sicherheit keinen anderen Käufer finden. Also hatte sie sein Angebot angenommen.
Glücklicherweise würde Ron die Villa erst in frühestens vier Wochen benötigen. Solange hatte sie noch das Wohnrecht und konnte sich gemeinsam mit Dean in aller Ruhe nach einer geeigneten Wohnung umsehen.
Dean... sie musste ihm unbedingt die erfreulichen Neuigkeiten berichten. Nun war ihre zwangsläufige Scheidung doch wenigstens nicht ganz umsonst gewesen.
*
Nachdem die Verträge unterzeichnet waren, hatte Eden Hollister kurzerhand eine Flasche Champagner geöffnet und Dean aufgefordert, mit ihm auf die Neuentwicklung anzustoßen. Eigentlich wollte er dankend ablehnen, doch sie machte ihm in ihrer unmissverständlich direkten Art, die keinen Widerspruch duldete, sehr deutlich klar, dass er von nun an ihr Angestellter war, und dass heute sein erster Arbeitstag sei. Also setzte er sich und trank seinen Champagner, in der Hoffnung, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden.
Er führte sie kurz im OCEANS herum, zeigte ihr Büro, Safe und die Lagerräume im Keller, wobei er immer sorgsam darauf achtete, ihr nicht zu nahe zu kommen.
Zugegeben, sie war eine wunderschöne, begehrenswerte Frau, und er spürte sehr genau, dass sie ganz unverblümt mit ihm flirtete, doch er dachte an Caroline und hielt sich bewusst zurück. Nein, seine neue Chefin würde privat ganz bestimmt kein Glück bei ihm haben.
Sie selbst schien das allerdings etwas anders zu sehen.
Die Flasche Champagner war fast leer, als sie mit verführerisch lasziven Bewegungen zur Musikanlage hinüberging und einen Titel auswählte. Kurz darauf erfüllte langsame, einschmeichelnde Musik den Raum.
„Eden, was soll denn das?“, fragte Dean unwillig, als sie ihn einfach mit sich auf die Tanzfläche zog.
„Ich muss das Flair dieser Bar spüren und sicher sein können, dass die Gäste sich hier auch wirklich wohl fühlen“, erwiderte sie lächelnd und schlang die Arme um seinen Hals, während sie sich leicht im Takt der Musik zu bewegen begann. Dean nahm den verführerischen Duft ihres Parfüms wahr und wandte den Kopf etwas zur Seite, um ihr nicht so verdammt nahe zu sein. Er war ja schließlich auch nur ein Mann...
Eden lächelte siegessicher. ´Früher oder später bekomme ich immer, was ich will´, schien ihr Blick zu sagen. ´Allerdings wäre mir früher eindeutig lieber.´
In diesem Moment betrat Caroline die Bar.
Ihre Augen brauchten einen Augenblick, um sich an die dämmrige Beleuchtung zu gewöhnen. Doch was sie dann sah, ließ sie erstarren:
Sie erblickte das Paar, das sich eng umschlungen zu den Klängen romantischer Musik auf der ansonsten leeren Tanzfläche bewegte.
Reglos stand sie da und starrte die beiden an, als kämen sie von einem anderen Planeten. Dean - ihr Dean - in trauter Zweisamkeit in den Armen einer Frau, die wie aus einem Modemagazin entsprungen zu sein schien. Sie brauchte niemanden zu fragen, wer die Unbekannte war, sie wusste es sofort. Das war Eden Hollister, die Millionenerbin.
´Bildschön. Fast zu schön, um real zu sein...´, schoss es Caroline durch den Kopf, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen, doch der Schmerz in ihrem Inneren hielt sie bei Bewusstsein und schien sie wachzurütteln. Das war zuviel!
Langsam drehte sie sich um und verließ das OCEANS genauso leise, wie sie es betreten hatte.
Draußen verharrte sie und versuchte verzweifelt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Nein, sie würde jetzt nicht weinen. Sie würde auch nicht wieder da hineingehen und eine Szene machen.
Was hätte ihr Vater jetzt getan?
Sie wollte nicht immerzu an Edward denken, doch in diesem Augenblick konnte sie nicht anders.
Er hätte gekämpft. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln hätte er versucht, sich zurückzuholen, was ihm gehörte.
Caroline atmete tief durch.
Genau das würde sie jetzt auch tun - kämpfen. Aber dazu benötigte man einen klaren Kopf. Sie wusste, sie musste sich etwas Wirksames einfallen lassen, denn diese Eden Hollister war eine offene Bedrohung. Caroline war bereit, sich ihr zu stellen, bevor es zu spät war!
Eden blinzelte über Deans Schulter hinweg in Richtung Ausgang. Als die Tür hinter Caroline Hamilton zufiel, umspielte ein überaus zufriedenes Lächeln ihre roten Lippen.
„Schluss jetzt!“
Entschlossen, fast grob, schob Dean Eden von sich, als der Song kurz darauf zu Ende war. Er ließ sie mitten auf der Tanzfläche stehen und lief zum Tresen hinüber. „Sie haben das Flair der Bar nun ausreichend getestet. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gern nach Hause gehen. Um alles Weitere kümmere ich mich dann morgen.“
Seine neue Arbeitgeberin schien einen Augenblick fassungslos, doch dann folgte sie ihm wortlos an die Bar und griff mit versteinertem Gesicht nach ihrer Tasche.
„Wie Sie meinen, Dean“, erwiderte sie eisig. „Ich möchte, dass das OCEANS am Wochenende wieder geöffnet ist. Ich werde mich persönlich davon überzeugen, dass alles perfekt ist.“
„In Ordnung“, nickte er. „Morgen werde ich mich um die Bestellungen kümmern und alles vorbereiten. Sie können sich darauf verlassen.“
Eden strich sich ungeduldig eine Haarsträhne aus der Stirn, und ihre grünen Augen blitzten ihn gefährlich an.
„Bei allem, was Sie tun, Dean, sollten Sie eines nie vergessen: Ab jetzt bin ich hier der Boss!“
„Wenn es nach mir ginge, nicht mehr lange“, knurrte Dean unhörbar, während er ihr mit einer Mischung aus Wut und Faszination nachblickte, wie sie in stolzer, selbstbewusster Haltung die Bar verließ.
*
Als Danielle am späten Nachmittag nach Hause kam, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass Matt schon da wäre und sie liebevoll in seine Arme nehmen würde. Leider wurde ihr Wunsch nicht erfüllt.
Auf ihrer Mailbox fand sie eine Nachricht von ihm. Er teilte ihr telefonisch mit, dass er im Büro noch aufgehalten worden war und versuchen würde, wenigstens zum Abendessen pünktlich zurück zu sein.
Seufzend ergab sie sich ihrem Schicksal und begann ihre restlichen Sachen auszupacken. Doch so sehr sie sich bemühte, ihre Gedanken wanderten unaufhörlich in eine ganz bestimmte Richtung und machten es ihr unmöglich, sich zu entspannen.
„Das, was heute hier geschehen ist, bleibt unter uns. Ihr Bruder wird es nie erfahren. Es sei denn, Sie wollen, dass er es erfährt!“
Diese Worte von Dr. Pares klangen ihr noch immer in den Ohren und verschmolzen in ihrer verschwommenen Erinnerung mit Masons Stimme:
´Das, was heute hier geschehen ist, wird Matt nie erfahren. Es sei denn, ich will, dass er es erfährt!´
Vergeblich versuchte sie sich immer wieder einzureden, dass sie sich da unbewusst in etwas hineinsteigerte, was vielleicht nur in ihrer derzeit etwas überdrehten Fantasie existierte.
Sie hätte so gern mit jemandem darüber gesprochen.
John O`Malley... Ihm hätte sie sich anvertrauen können, er war in den letzten Wochen immer der enge Freund gewesen, mit dem man vorbehaltlos über alles reden konnte. Einen Augenblick lang überlegte Danielle, ob sie ihn anrufen sollte. Doch dann entschied sie sich anders. Sie war ihm schließlich lange genug mit ihren Problemen auf die Nerven gefallen, jetzt war es für ihn an der Zeit, sich um sein eigenes Privatleben zu kümmern. Danielle wusste, dass er heute Abend keinen Dienst mehr hatte und wollte ihn und Kate nicht stören. Die beiden hatten mit Sicherheit eine Menge zu besprechen. Vielleicht gelang es ihnen, ihre ehemaligen Differenzen aus dem Weg zu schaffen, denn sie wünschte sich nichts mehr, als dass John sein Glück finden würde.
Er hatte es so sehr verdient!
Mit Matt konnte sie auch nicht über diese Sache reden, die sie insgeheim bedrückte. Erst wenn sie sicher sein konnte, was das Ganze zu bedeuten hatte, würde sie sich ihm vielleicht anvertrauen. Doch vorerst konnte sie nur abwarten, ob Mason sich an seine Vergangenheit lückenlos erinnern würde. Bis dahin musste sie die nagenden Ängste und Zweifel in ihrem Inneren bekämpfen und möglichst geduldig ausharren.
Sie trug die leeren Taschen hinunter und stellte sie in den großen Wandschrank neben der Tür. Suchend sah sie sich um. Womit sollte sie sich beschäftigen, bis Matt heimkam? Irgendetwas wollte sie tun, um nicht ständig nachdenken zu müssen.
Ihr Blick fiel auf das Jackett, das er gestern Abend, als sie von LA heimgekommen waren, achtlos über die Sessellehne geworfen hatte. Als sie es aufnahm und in den Garderobenschrank hängen wollte, fiel ein Umschlag aus der Innentasche. Danielle bückte sich danach und hob ihn auf. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und erkannte erstaunt den Stempel der CENTINELA- Klinik auf der Rückseite. Neugierig sah sie in das unverschlossene Kuvert. Ausweis, Führerschein, eine Hotel-Chipkarte und eine Brieftasche kamen zum Vorschein. Beim näheren Hinsehen erkannte sie, dass es sich um Masons persönliche Sachen handelte, die er zur Zeit des Unfalls bei sich getragen und die man Matt als seinem nächsten Angehörigen ausgehändigt hatte. Interessiert betrachtete sie das Foto auf dem Ausweis und überflog die Daten. Plötzlich stutzte sie.
Da stand dieser andere Name!
Castillo...
Schlagartig fiel ihr jene Szene im Krankenhaus ein, als sie nach dem Unfall glaubte, Matt läge auf dem OP- Tisch. Ihre Kollegin Shelby hatte sie gebeten, Masons Sachen auf die Überwachungsstation zu bringen. Überdeutlich erinnerte sich Danielle an deren Worte:
„Ich habe seine Personalien eben in den Computer eingegeben. Der heißt doch überhaupt nicht Matt. Wenn ich mich recht erinnere, ist sein Name Mason. Mason Castillo.“
Wieso eigentlich Castillo und nicht Shelton? Vermutlich eine absichtliche Namensänderung, nachdem er die Staaten damals fluchtartig verlassen hatte und alle in dem Glauben zurückließ, er sei tot. Aber was verbarg sich hinter dem Namen Castillo? Ein weiteres dunkles Geheimnis?
Niemand wusste bisher, wo genau Mason sich in Südamerika aufgehalten hatte. Ob er selbst sich jemals daran erinnern würde, war bisher mehr als fraglich.
In seiner Brieftasche fand Danielle auf einem abgerissenen Zettel eine Telefonnummer.
Kurzerhand griff sie zum Telefon und wählte die unbekannte Nummer.
Es dauerte einen Augenblick, dann ertönte ein Rufzeichen. Kurz darauf nahm am anderen Ende der Leitung jemand den Hörer ab.
„CASTILLO CORPORATIONS in Caracas, guten Abend, was kann ich für Sie tun?“, fragte eine freundliche Frauenstimme in fast akzentfreiem Englisch.
„Guten Abend, Señorita“, antwortete Danielle etwas zögernd. „Könnte ich bitte Mister Castillo sprechen?“
„Tut mir leid, aber Mister Castillo befindet sich momentan auf einer längeren Geschäftsreise“, erwiderte die Frau am Telefon.
„Und wann erwarten Sie ihn zurück?“
„Das kann ich leider noch nicht genau sagen. Wenn Sie eine wichtige Nachricht haben, können Sie gern Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen, und ich vereinbare für Sie einen Termin mit Misses Castillo.“
„Misses Castillo?“, wiederholte Danielle verwirrt, fasste sich jedoch schnell wieder. „Nein, das ist nicht nötig, Señorita. Ich melde mich später noch einmal. Haben Sie vielen Dank.“ Schnell legte sie auf und atmete tief durch.
CASTILLO CORPORATIONS.
Es gab also eine Firma auf Masons Namen in Caracas?
Und was noch viel erstaunlicher war, es gab dort sogar eine Misses Castillo!
*
„Mike!“
Erfreut sprang Matt auf, um den späten Besucher zu begrüßen. „Ich bin froh, dass du es tatsächlich noch geschafft hast, vorbeizukommen!“
„Also, wenn sich Matthew Shelton einmal in hundert Jahren an die Nummer meiner Kanzlei erinnert und bei mir anruft, dann bleibt mir doch gar keine andere Wahl!“
Die beiden Männer lachten und umarmten sich herzlich.
„Lass dich anschauen!“ Prüfend betrachtete Matt seinen alten Freund. „Du hast dich kaum verändert.“
„Nun ja, mit den Jahren sind die Stirnfalten etwas tiefer und der Hosenbund etwas enger geworden.“
„Ach was! So wie du aussiehst, kannst du noch immer noch an den nächsten Surf-Meisterschaften teilnehmen“, stellte Matt neidlos fest. Michael Donovan hatte die Vierzig bereits überschritten, aber das sah man dem leidenschaftlichen Hobbysurfer mit seiner sportlichen Figur nicht an. Er war groß, schlank und wirkte sehr athletisch, hatte tiefschwarzes glänzendes Haar und ein freundliches Gesicht. Fast zu freundlich für einen Strafverteidiger.
Aber Matt kannte ihn besser. Er wusste, dass diese gutmütig dreinblickenden dunklen Augen unter den dichten Brauen einen Gegner in Sekundenschnelle förmlich durchbohren konnten. In seinem Job war Michael brillant. Er besaß einen messerscharfen Verstand und eine nahezu untrügliche Menschenkenntnis, um die ihn so mancher seiner Berufskollegen beneidete. Außerdem war er dafür bekannt, jeden noch so verborgenen Winkel im Gesetzbuch zu kennen und im täglichen Kampf um Gerechtigkeit für seine Mandanten auch hin und wieder rücksichtslos die Ellenbogen einzusetzen.
Michael Donovan konnte man so leicht nichts vormachen, denn er selbst hatte einen erstklassigen Mentor gehabt: Andrew Hamilton.
Aus ärmlichen Familienverhältnissen stammend hatte sich Michael sein Jura- Studium hart erarbeiten müssen. Als er sich nach einem geeigneten Praktikumsplatz umsah, lernte er Andrew kennen, der sich damals in Sunset City und Umgebung bereits einen sehr guten Namen gemacht hatte. Andrew nahm sich des begabten und äußerst ehrgeizigen Studenten an und führte ihn nicht nur in den Irrgarten der Paragraphen und Gesetze ein, sondern zeigte ihm auch, wie ein guter Anwalt so manche Gesetzeslücke zu seinen Gunsten nutzen konnte.
Michael lernte schnell, und als er sein Studium abgeschlossen hatte, stellte Andrew ihn bei sich ein. In den nächsten Jahren arbeiteten die beiden sehr eng zusammen. Irgendwann in dieser Zeit kam Matt nach Sunset City. Er wiederum lernte von Andrews Bruder Edward Hamilton, und als dieser etwas später HAMILTON & SHELTON ENTERPRISES gründete, bot er Matt eine Partnerschaft in der Firma an.
Während der junge Engländer das Angebot dankbar annahm, lehnte Michael jedoch eine weitere Zusammenarbeit mit Andrew entschlossen ab. Er sah seine Zukunft nicht als Anwalt im Schatten seines „großen Meisters“, sondern wollte lieber auf eigenen Beinen stehen. So entschied er für sich, dass es an der Zeit war, dieses Ziel nun zu verwirklichen. Er trennte sich von dem Mann, von dem er die praktische Seite der Strafverteidigung mit allem, was dazugehörte, beigebracht hatte und eröffnete eine Kanzlei in Newport Beach, wo er schon seit fast einem Jahrzehnt mit seiner Frau Hannah und seinem Sohn lebte. Es dauerte gar nicht lange, und Michael zählte im Orange County und Umgebung zu den besten und gefragtesten Strafverteidigern.
Andrew nannte ihn einen undankbaren Bastard und brach jeden persönlichen Kontakt zu ihm ab, aber Matt und Michael waren in Verbindung geblieben.
Nun saßen sie sich hier in Matts Büro gegenüber, und Michael lauschte erstaunt, in welcher Misere sich sein Freund durch die Schuld von Edward Hamilton befand.
„Ich habe von seiner Verhaftung gehört. Die Nachricht hat sich im Orange County wie ein Lauffeuer verbreitet. Und ich muss gestehen, dass ich schon immer geahnt habe, dass nicht alles, was Edward tat, mit rechten Dingen zuging. Aber das, was er hier veranstaltet hat, übersteigt selbst meine Vorstellungen.“ Fassungslos schüttelte er den Kopf. „So ein verdammter Gauner!“
Matt sah ihn aufmerksam an.
„Sei ehrlich, Mike, als Jurist und als Freund: Habe ich noch eine Chance, die HSE zu halten, nach allem, was ich dir erzählt habe?“
„Nein“, erwiderte Michael knallhart.
Matt hatte zwar mit einer negativen Antwort gerechnet, dennoch traf sie ihn wie ein Faustschlag. Er lehnte sich zurück und strich sich mit der Hand über die Stirn. All die Jahre harter Arbeit, der gute Ruf, den die Firma hatte, das Ferienprojekt, alles umsonst.
Resigniert nickte er.
„Okay. Dann war es das also.“
Michael zog tadelnd die Augenbrauen hoch.
„Matt, du hörst mir nicht richtig zu, genau wie früher“, meinte er und verzog das Gesicht zu einem schelmischen Grinsen. „Du allein hast keine Chance. Wir beide zusammen schon!“