Danielle war wie vor den Kopf gestoßen. Der grenzenlosen Erleichterung darüber, dass es allem Anschein nach nicht Matt war, der nach dem tragischen Unfall hier in der Klinik zur Stunde auf eine Not-OP vorbereitet wurde, folgte die erschreckende Erkenntnis, dass Mason noch lebte und kurz davor gewesen war, sie zu finden. Er hatte heimlich ihre Spur aufgenommen, und niemand, zuallerletzt sie selbst, hatte geahnt, wie dicht er ihr bereits auf den Fersen gewesen war. Allein diese Tatsache ließ sie frösteln, und sie zog ihre Jacke enger um sich, als sie gemeinsam mit Lynn, einer ihrer Kolleginnen, kurz darauf die Klinik verließ.
„Ich bin so furchtbar müde, ich könnte glatt im Stehen einschlafen“, stöhnte Lynn und kramte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. „Soll ich dich bei dir zu Hause absetzen? Dann musst du nicht auf den Bus warten.“
„Ich will dir keine Umstände machen“, erwiderte Danielle zögernd, doch Lynn winkte nur ab.
„Deine Wohnung liegt doch fast auf meinem Nachhauseweg, das ist kein Umweg.“
„Okay“, nickte Danielle erleichtert. „Ich bin froh, wenn ich heute schnell hier wegkomme.“
„Wow... Was haben wir denn da?“ Lynn, die endlich ihre Wagenschlüssel gefunden hatte, blieb plötzlich stehen und packte ihre Kollegin am Arm. „Guck dir bloß mal den absolut heißen Typen dort drüben an! Meine Güte, ein solches Exemplar lässt mich jegliche Müdigkeit glatt vergessen! Auf wen der wohl wartet?“
Nicht sonderlich interessiert folgte Danielle Lynns Blicken und blieb wie erstarrt stehen.
Da stand er, lässig an seinen Wagen gelehnt und blickte aus seinen geheimnisvollen dunklen Augen zu ihnen herüber - Matt.
Er trug, wie so oft, eine schwarze Lederjacke und dunkle Jeans und sah einfach fantastisch aus. Kein Wunder, dass die Frauen sich nach ihm umblickten.
Er selbst hatte jedoch nur Augen für die Eine.
Als er sie sah, kam er langsam auf sie zu.
„Du, der kommt hierher“, flüsterte Lynn aufgeregt und blickte sich nach Danielle um. Als sie jedoch deren Gesicht sah, begriff sie in Sekundenschnelle.
„Sag bloß, du kennst den Kerl!“
Danielle antwortete nicht. Sie verharrte noch immer wie angewurzelt, bis Matt sie fast erreicht hatte. Ihre Lippen formten seinen Namen, doch sie brachte keinen Ton heraus, als könne sie es nicht glauben, ihn zu sehen.
Er blieb dicht vor ihr stehen und sah sie einen Augenblick wortlos an, bevor er ihr Gesicht zärtlich zwischen seine Hände nahm.
„Danielle!“
„Matt?“ Mit großen Augen starrte sie ihn ungläubig an.
Lynn hatte die Szene mit wachsendem Erstaunen verfolgt und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Na so was! Meinen Glückwunsch, Süße! Ich geh dann mal. Gute Nacht!“
Danielle hörte sie gar nicht.
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vor ein paar Minuten noch hatte sie in dasselbe Gesicht geblickt, das bleich und stumm in den Kissen lag – Masons Gesicht.
Oder hatte er sie wieder getäuscht? War es am Ende vielleicht doch Matt, der im OP soeben um sein Leben kämpfte?
Völlig durcheinander trat sie einen Schritt zurück.
„Wer bist du?“
„Was?“
„Ich brauche einen Beweis, dass du Matt bist und nicht Mason!“
Nach kurzem Überlegen verstand er.
„Anni hat dich angerufen“, sagte er und nickte lächelnd. „Du willst wissen, ob ich der Richtige bin? Okay...“
Er trat spontan einen Schritt vor, nahm sie kurzentschlossen in die Arme, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, küsste er sie.
Dem ersten Impuls folgend wollte sie sich dagegen wehren, doch da war urplötzlich dieses Gefühl einer tiefen Vertrautheit, kaum, dass er sie berührt hatte. Sie nahm in diesem Augenblick nichts Anderes mehr wahr, spürte nur noch seine Lippen auf ihrem Mund, zuerst ganz sacht, dann intensiver, fordernder und so voller unendlicher Sehnsucht, dass ihre Knie zu zittern begannen. Eine wohltuende Welle der Erleichterung durchflutete ihren angespannten Körper und schaltete den Verstand aus, der bis zuletzt alles infrage gestellt hatte. Der letzte Rest von Misstrauen verflog wie Asche im Wind. Einem guten, sicheren Gefühl folgend schlang sie die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss ohne Vorbehalte.
Seine Hände strichen sacht über ihren Rücken, während er leidenschaftlich und voller Begierde ihre letzten Zweifel einfach wegküsste. Sie stöhnte leise auf und vergrub ihre Finger in seinem dichten Haar. Nichts war in diesen Sekunden mehr wichtig, es gab nur noch sie beide, und als sie sich nach einer kleinen Ewigkeit schweratmend voneinander lösten und einander stumm in die Augen sahen, brauchte Danielle keine weiteren Beweise mehr.
„Bist du jetzt sicher?“, fragte er mit belegter Stimme. Sie nickte, völlig benommen.
„Du bist wirklich da!“
Er lächelte und strich sacht mit seinen Fingerspitzen über ihre Wange.
„Ja, ich bin da, und ich werde auch nicht wieder weggehen. Es sei denn mit dir zusammen.“
„Heißt das, du wirst Marina nicht heiraten?“
„Das hatte ich nie vor.“
Danielle lehnte ihre heiße Stirn an seine Brust.
„Ich dachte, ich hätte dich verloren“, sagte sie leise und konnte nicht verhindern, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten.
„Nicht weinen, Liebling“, flüsterte er zärtlich und hielt sie fest umschlungen. „Ich wollte dir bestimmt niemals wehtun, und ich muss dir unbedingt so vieles erklären.“
Das brachte Danielle zurück in die Wirklichkeit.
Mit einem Ruck hob sie den Kopf.
„Was es auch ist, es kann warten“, unterbrach sie ihn hastig. „Ich muss dir nämlich auch etwas sagen. Es geht um deinen Bruder.“
„Mason?“ Nichts Gutes ahnend horchte Matt auf. „Was ist mit ihm?“
„Er ist damals bei dem Unfall nicht ums Leben gekommen. Anni hat mich angerufen und mir gesagt, dass er nach mir sucht.“
„Ja, ich weiß“, erwiderte Matt bitter. „Wenn es stimmt, was sie sich da zusammengereimt hat, dann hat er uns die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Ich kann es kaum glauben.“
Danielles Hände krallten sich in das Revers seiner Jacke.
„Aber es stimmt, Matt. Er ist hier!“
„Ja, schon möglich, dass er irgendwann hier auftaucht, wenn er wirklich nach dir sucht. Aber keine Angst, dann werde ich da sein!“
„Nein, du verstehst nicht. Er ist bereits hier, in der Klinik!“
„Was?“
Bevor Danielle ihm alles erklären konnte, hielt ein Wagen mit Vollbremsung direkt neben ihnen. John und Kate sprangen heraus.
Angesichts des Mannes der neben Danielle stand, stutzte John O`Malley.
„Habe ich vorhin etwas falsch verstanden?“ murmelte er ungläubig.
Erleichtert darüber, dass er so schnell hergekommen war, umarmte Danielle den jungen Arzt. Etwas irritiert beobachtete Matt die nicht zu übersehende Vertrautheit zwischen den beiden.
„John, ich bin so froh, dass du da bist! Bitte, du musst ihm helfen!“
„Ich bin hergekommen, so schnell ich konnte“, erwiderte er und maß Matt über Danielles Kopf hinweg mit einem zweifelnden Blick. „Du hast mir am Telefon gesagt, Matthew Shelton hätte einen Unfall gehabt? Wie ich sehe, scheint es ihm jedoch recht gut zu gehen!“
„Entschuldige John.“ Danielle atmete tief durch, trat einen Schritt zurück und zwang sich zur Ruhe. „Es ist nicht Matt, den sie gerade operieren, sondern sein Zwillingsbruder Mason!“
„Mason?“, riefen John und Matt gleichzeitig.
Danielle nickte.
„Ja, er ist von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und schwer verletzt worden. Ich dachte zuerst auch, er sei Matt, aber dann...“ Sie brach ab und maß John mit einem flehenden Blick. „Bitte beeile dich, sie brauchen dich im OP! Alles andere erkläre ich dir später!“
John sah sich kurz nach Kate um, die unschlüssig beim Wagen stehengeblieben war.
„Kommst du mit? Ein Arzt zu viel ist besser als einer zu wenig!“
„Okay.“ Sie nickte und trat näher, während John sich noch einmal besorgt an Danielle wandte.
„Und du bist wirklich sicher, dass er der Richtige ist?“, erkundigte er sich leise, mit einem misstrauischen Blick in Matts Richtung.
„Ja, das bin ich“, erwiderte sie voller Überzeugung. „Geh jetzt, hilf Masons Leben zu retten!“
„Nach allem, was er dir angetan hat?“, fragte John voller Zweifel.
„Er ist Matts Bruder. Lasst ihn nicht sterben!“
Kate nickte ihr beruhigend zu.
„Ich denke, John wird alles tun, was in seiner Macht steht“, sagte sie beruhigend.
„Danke Kate“, flüsterte Danielle zurück. „Davon bin ich überzeugt.“
Während sie den beiden nachschauten, schüttelte Matt ungläubig den Kopf.
„Dieser verdammte Mistkerl“, murmelte er fassungslos. „Er hat es tatsächlich geschafft, dass ich dich fast ein zweites Mal verloren hätte! Vielleicht ist das, was heute geschehen ist, endlich die gerechte Strafe für alles.“
„So etwas darfst du nicht sagen“, widersprach Danielle fast erschrocken. „Mason ist…“
„Durchtrieben, gewissenlos und ohne Skrupel“, fiel Matt ihr ins Wort. „Man sagt zwar immer, Blut sei dicker als Wasser, aber ich bezweifle, dass mein Blut dick genug ist, um ihm noch länger zu vergeben.“ Er besann sich und legte behutsam seinen Arm um ihre Schultern. „Wie dem auch sei, möge das Schicksal entscheiden, ob er heute auf dem OP-Tisch stirbt oder weiterleben darf.“
„Wir haben sehr gute Ärzte hier“, sagte Danielle leise. „John ist einer der besten.“
Matt nickte nachdenklich.
„Ihr beide steht euch anscheinend ziemlich nah“, bemerkte er mit einem nicht zu überhörenden Anflug von Eifersucht in seiner Stimme.
„Ja“, erwiderte sie und suchte seinen Blick. „So nah, wie sich gute Freunde stehen können.“
„Gute Freunde“, wiederholte er nachdenklich, und sie merkte sofort, was ihm unter den Nägeln brannte.
„Bevor du jetzt vielleicht falsche Schlüsse aus meiner Beziehung zu John ziehst, solltest du eines wissen: Die letzten Wochen waren für uns alle verdammt schwer. Ich habe auf Johns Couch geschlafen, habe mich unzählige Male an seiner Schulter ausgeweint und ihn mit meiner Sehnsucht nach dir genervt. Er war zu jeder Zeit für mich da, er hat meine Launen ertragen, wenn mir zum Heulen zumute war, oder wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Er war absolut loyal und hat niemals irgendetwas von mir dafür erwartet. Glaub mir, ohne einen Freund wie ihn an meiner Seite hätte ich die Trennung von dir nicht übergestanden.“
„Entschuldige, Danielle.“ Schuldbewusst schüttelte Matt den Kopf. „Ich wollte nicht eifersüchtig sein, dazu habe ich nach allem, was geschehen ist, gar kein Recht. Aber ihr beide wirkt so… vertraut.“
„Ja, das stimmt. Ohne Vertrauen funktioniert eine Freundschaft nicht.“
„Und nun muss dein Freund obendrein auch noch Mason helfen.“
„John ist Arzt, er würde jedem helfen.“
„Schon klar.“ Er nickte und fuhr sich über die Stirn. „Trotzdem ist es bemerkenswert, wie mein Bruder es immer wieder schafft, dass sich alle bedingungslos um ihn bemühen.“
Danielle maß ihn mit einem leicht vorwurfsvollen Blick.
„Hör mal Matt, was auch immer Mason in seinem Leben getan hat, er ist dein Zwillingsbruder, und keiner von uns wünscht sich seinen Tod. Auch du nicht, wenn du ehrlich zu dir selbst bist. Für das, was vorhin hier geschehen ist, konnte er nichts. Aber wenn das Ärzteteam da drin es nicht schaffen sollte, sein Leben zu retten, dann ist es wohl wirklich Schicksal.“
Matt starrte finster vor sich hin.
„Ja, vielleicht hast du Recht“, stimmte er nach ein paar Sekunden schließlich zu und zog sie sacht zu sich heran. „Entschuldige, wenn meine Worte eben vielleicht etwas hart klangen, aber Mason hat in seinem Leben schon so viel Unheil angerichtet, dass ich einfach nicht mehr weiß, ob ich überhaupt noch etwas Anderes als Hass für ihn empfinden kann. Dich hätte er fast getötet. Dafür hasse ich ihn am meisten.“ Er zögerte einen Augenblick und suchte dann erneut ihren Blick. „Na komm, gehen wir hinein und warten ab, wie das Schicksal entscheidet.“
*
Stunden waren inzwischen vergangen. Stunden, in denen Matt und Danielle sich unendlich viel zu erzählen hatten. Inzwischen war ihnen klar, in was für eine gemeine Intrige sie beide verstrickt worden waren, und wie kaltblütig Marina und Mason sie hintergangen hatten.
Nicht gemeinsam, oh nein, jeder der beiden auf seine ganz spezielle Art.
Obwohl Matt kein Hehl daraus machte, dass er seinem Zwillingsbruder nahezu alles zutraute, hegte Danielle dennoch Zweifel.
„Warum ist er so?“, grübelte sie, während sie beide eng umschlungen in einer Nische vor dem OP- Trakt saßen und darauf warteten, genaueres über Masons Zustand zu erfahren. „Man wird schließlich nicht als hinterhältiger Mensch geboren! Es muss doch irgendeinen Grund dafür geben, warum er versucht, dir immer und immer wieder wehzutun.“
Matt hob nur die Schultern.
„Was meinst du, wie oft ich mir diese Frage bereits gestellt habe“, meinte er mit einem bitteren Lächeln. „Ich finde auch keine Antwort darauf.“
Nachdenklich sah Danielle ihn an.
„Ihr beide seid euch äußerlich so ähnlich, wie man es nur ganz selten findet, aber vom Charakter her könntet ihr nicht unterschiedlicher sein.“
Matt erwiderte nichts, sondern starrte eine Weile gedankenverloren auf die gegenüberliegende, schmucklose Wand, die so kalt und bedrückend auf ihren Betrachter wirkte wie der gesamte, offene Raum, in dem sie saßen.
Wer war eigentlich dafür verantwortlich, dass Krankenhausflure und Nischen so furchtbar steril gehalten wurden? War es nicht für die Wartenden schon deprimierend genug, hier draußen verharren zu müssen, während ihre Angehörigen hinter den weißen OP- Türen oftmals um ihr Leben kämpften?
Er seufzte leise.
„Kannst du dich daran erinnern, was ich dir damals erzählt habe, als Mason in Sunset City auftauchte und wir das erste Mal über ihn sprachen?“
Danielle nickte.
„Ja, ich erinnere mich genau. Du sagtest, du glaubst, er gibt dir die Schuld daran, dass eure Mutter nach eurer Geburt gestorben ist, weil du der Zweitgeborene warst. Seiner Meinung nach würde sie noch leben, wenn es dich nicht gäbe.“
„Genau.“ Er lächelte bitter. „Und die Psychiater, zu denen mein Vater ihn daraufhin pausenlos geschleppt hat, haben die Sache nur noch verschärft. Solange ich denken kann, war mein Bruder mir gegenüber hinterhältig und gemein. Und trotzdem habe ich mich immer mit ihm verbunden gefühlt und ihm bereits unendlich viel verziehen.“
„Ist das nicht normal bei Zwillingen? Man sagt ihnen nach, dass sie eine übernatürlich starke Bindung hätten.“ Danielle hob den Kopf und sah ihn an. „Was hast du damals gefühlt, als alle sagten, Mason sei tot?“
„Gar nichts, deshalb habe ich auch nie so richtig an seinen Tod geglaubt.“
„Was fühlst du jetzt, wenn du hier sitzt und an ihn denkst?“
„Je länger ich hier sitze, desto deutlicher spüre ich diese Angst. Angst davor, dass er sterben könnte.“ Matt schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist doch verrückt, oder?“
„Nein, das ist überhaupt nicht verrückt“, erwiderte Danielle voller Überzeugung. „Ganz und gar nicht.“
In diesem Augenblick öffnete sich die automatische Schwingtür, die in den OP- Trakt führte, und John trat heraus, gefolgt von Kate, die ihnen jedoch nur flüchtig zunickte und zielstrebig den Gang entlang zum Fahrstuhl eilte.
„Sobald ich ihn in der Leitung habe, stelle ich das Gespräch in den OP durch“, rief sie und verschwand hinter den sich schließenden Türen.
Mit ernstem Gesicht kam John O`Malley auf die beiden Wartenden zu und blieb dicht vor ihnen stehen.
Matt und Danielle waren aufgesprungen. In banger Erwartung starrten sie ihm entgegen.
„Was ist mit Mason?“, fragte Danielle atemlos. „Wie geht es ihm?“
John wirkte angespannt, doch es gelang ihm, ein einigermaßen optimistisches Lächeln zustande zu bringen.
„Wir haben ihn fürs Erste stabilisiert. Aber leider ist er noch nicht über den Berg.“
„Was heißt das genau, Doktor?“, fragte Matt beunruhigt.
John blickte ihn ernst an.
„Ihr Bruder hat massive Verletzungen erlitten, die, wie wir sehr schnell feststellen konnten, allesamt nicht unbedingt lebensbedrohlich waren. Der gebrochene Arm und die angebrochenen Rippen werden heilen. Der Milzriss hat innere Blutungen verursacht, die wir stoppen konnten, und auch der Schlag gegen die Wirbelsäule hat außer ein paar ordentlichen Blutergüssen voraussichtlich keine bleibenden Schäden verursacht. Es könnte allerdings sein, dass Mason nach seinem Erwachen aus der Narkose seine Beine nicht spürt. Wir gehen jedoch davon aus, dass dies nur vorübergehend ist, bis die Hämatome, die auf den Nervenkanal drücken, etwas abschwellen. Er wird ziemliche Rückenschmerzen haben, aber das MRT zeigt deutlich, dass keine Nerven verletzt oder durchtrennt wurden.“
Matt ließ John nicht aus den Augen.
„Bis hierher klingt alles recht gut“, bemerkte er. „Doch irgendetwas in Ihrer Stimme sagt mir, dass da noch ein „Aber“ folgt.“
John nickte ernst.
„Allerdings.“
Danielle fasste nach O`Malleys Arm.
„Komm schon, John“, bat sie. „Sag, was los ist!“
Er wies auf die Besucherbank.
„Setzen wir uns einen Augenblick.“
Den Blick gespannt auf ihn gerichtet nahmen Matt und Danielle Platz.
„Die Sache ist die...“, begann John etwas zögernd „Mason hat bei dem Aufprall eine Kopfverletzung erlitten, die uns erhebliche Sorgen bereitet. Wir befürchten, dass wir seinen Schädel öffnen müssen, da wir auf dem CT etwas entdeckt haben, das auf eine innere Blutung schließen lässt. Diese Einblutung müssen wir unbedingt stoppen, um bleibende Schäden im Gehirn zu vermeiden.“
Matt unterdrückte vergeblich einen Fluch, während Danielle John aufmerksam ansah.
„Soweit ich weiß, ist für solch einen Eingriff ein Spezialist erforderlich“, stellte sie fest. „Ist einer im Haus?“
Der junge Arzt schüttelte den Kopf.
„Keiner, der dazu befähigt wäre. Die Verletzung ist an einer denkbar ungünstigen Stelle. Der Eingriff wäre äußerst riskant.“
Danielle suchte Matts Blick, doch er schien für einen Augenblick total abwesend und starrte nur wortlos die Wand an. Nach allem, was in der Vergangenheit zwischen Mason und ihm vorgefallen war, müsste ihm vollkommen egal sein, was mit seinem Bruder geschah.
Aber das war es nicht.
Er fühlte sich so abscheulich, als läge eine Hälfte von ihm selbst hinter diesen Milchglas-Türen im Sterben.
Hatte Danielle am Ende Recht? Gab es wirklich diese geheimnisvolle Verbindung zwischen ihm und seinem Zwilling? Eigentlich glaubte er nicht an solche Sachen, hatte es nie getan.
Nachdem Mason vor Monaten aus Sunset City verschwunden war und alle glaubten, er sei tot, hatte er tatsächlich kein Bedauern gespürt. Wahrscheinlich war die Wut darüber, was er Danielle damals angetan hatte, stärker gewesen als jedes andere Gefühl. Doch jetzt, in diesem Augenblick, war das anders.
Entschlossen wandte er sich an den Arzt.
„Holen Sie einen Spezialisten! Egal, was es kostet, ich werde das bezahlen Aber helfen Sie meinem Bruder!“
John nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
„Kate telefoniert bereits mit jemandem, der dafür in Frage käme. Er ist einer der besten Gehirnchirurgen des Landes und war während ihres Medizinstudiums für einige Zeit ihr Mentor in Chicago. Dr. William Pares.“
„Aber dauert das nicht viel zu lange, bis dieser Doktor von Chicago aus hier ist?“, gab Danielle besorgt zu bedenken, doch O`Malley schüttelte den Kopf.
„Er hält sich derzeit nicht in Chicago auf, sondern unterrichtet in Stanford und praktiziert die meiste Zeit an der Universitätsklinik in San Francisco. Und wir haben Glück, denn momentan befindet sich Dr. Pares auf einem Ärztekongress hier in Los Angeles.“
„Dann wird er herkommen?“, fragte Matt hoffnungsvoll.
„Ich hoffe es.“ John überlegte kurz und wandte sich wieder an Danielle.
„Keine Sorge, wenn er hört, was für eine Herausforderung hier auf ihn wartet, wird er keine Sekunde lang zögern.“
„Herausforderung?“, fragte Matt misstrauisch.
John lächelte entschuldigend.
„Bitte verstehen Sie das nicht falsch, aber Danielle hatte mich gebeten, ganz offen zu sein. So wie es aussieht, handelt es sich bei dem Eingriff um einen außergewöhnlich komplizierten Fall. Jede nicht alltägliche Operation bedeutet für einen Spezialisten wie Dr. Pares eine Herausforderung besonderer Art.“ Er blickte auf die Uhr. „Eines kann ich Ihnen jedoch versichern, Matt: wenn Pares es schafft, rechtzeitig hier zu sein, dann ist Ihr Bruder wirklich in den allerbesten Händen. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.“
Matt atmete tief durch und wies dann auf das Schriftstück, das John O`Malley in den Händen hielt.
„Was ist das?“
„Eine Einwilligungserklärung, dass wir diese Operation vornehmen dürfen. Ich vermute, Sie sind momentan der einzige Familienangehörige, den wir fragen können. Wie gesagt, es ist ein sehr komplizierter und äußerst riskanter Eingriff.“
Entschlossen griff Matt nach dem Stück Papier und setzte ohne zu zögern seinen Namen darunter.
„Tun Sie Ihr Bestes“, sagte er und reichte es John zurück.
Der nickte.
„Das werden wir. Ihr Bruder ist, von seinen Verletzungen abgesehen, in guter körperlicher Verfassung. Er kann es schaffen.“
Einige Minuten später trat Kate aus dem Fahrstuhl und eilte auf die Wartenden zu.
„Ich habe persönlich mit Pares gesprochen, er ist bereits auf dem Weg hierher“, berichtete sie atemlos. „Wir sollen alles vorbereiten.“ Mit einem Lächeln wandte sie sich an Matt und Danielle. „Dr. Pares ist der Beste. Wenn jemand einen solchen riskanten Eingriff erfolgreich durchführen kann, dann er.“ Sie wandte sich an John. „Wir müssen uns beeilen.“
Der nickte zustimmend.
„Ihr solltet nach Hause fahren“, riet er den beiden Wartenden. „Diese Operation dauert mit Sicherheit ein paar Stunden. Ich verspreche, dass ich mich sofort melde, wenn alles vorbei ist.“
Danielle wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Matt und legte ihre Hand auf seinen Arm.
„John hat Recht. Du kannst Mason im Moment sowieso nicht helfen.“
Schweigend sahen sie Kate und John nach, die beide erneut hinter den sich automatisch schließenden OP-Türen verschwanden.
Matt atmete tief durch, als müsse er sich von einer zentnerschweren Last befreien, und legte seinen Arm um Danielles Schultern. „Also gut. Lass uns gehen.“
*
Unruhig lief Cynthia in ihrem Hotelzimmer auf und ab. Nachdem die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft ihre Durchsuchung in der HSE am späten Nachmittag endlich beendet hatten, war sie sofort hierhergeeilt, in der Hoffnung, mit Mason einige wichtige Details in Bezug auf die Probleme, die in der CASTILLO CORPORATIONS aufgetreten waren, besprechen zu können.
Aber Mason war nicht da.
Er hatte weder eine Nachricht für sie hinterlassen, noch war er auf seinem Handy zu erreichen. Zähneknirschend hatte Cynthia in Caracas angerufen und war dort sofort mit dem Firmenanwalt verbunden worden, der sich erst einmal bitterlich über die unkonventionelle Vorgehensweise Mr. Castillos beschwerte. Nur widerwillig, und, wie er betonte, ausschließlich unter Masons massivem Druck, hatte der Anwalt die ganze Sache zufriedenstellend erledigen können.
Trotzdem strich sich Cynthia besorgt über die Stirn.
Wenn sie beide noch länger hier in Sunset City festsitzen würden, konnte sie für nichts garantieren. Masons Firma brauchte eine feste Hand, man durfte sie nicht auf Dauer aus der Ferne lenken. Aber das schien er nicht begreifen zu wollen. Oder lag ihm am Ende vielleicht gar nichts an CASTILLO CORPORATIONS? Sollte ihm Joannas Lebenswerk vielleicht nur als finanzielles Sprungbrett dafür dienen, um seinen Bruder zu ruinieren und sich auf diese Art an ihm zu rächen?
Cynthia blickte beunruhigt zur Uhr und wählte erneut Masons Handynummer.
„Der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar“ meldete sich die monotone Stimme der Mailbox.
Cynthia unterdrückte mit aller Mühe ein Stöhnen und starrte stattdessen ratlos auf das Telefon. Dann wählte sie kurzentschlossen die Nummer der Rezeption.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Charles“, hauchte sie so liebenswürdig wie möglich in den Hörer. „Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten, Ihre Diskretion natürlich vorausgesetzt. Wie sich sicher herumgesprochen hat, führt die Staatsanwaltschaft diverse Untersuchungen bei HS-ENTERPRISES durch, und ich habe einige wichtige Akten in Mr. Castillos Zimmer liegen gelassen, die diese Herren ganz dringend benötigen. Mr. Castillo ist momentan leider nicht zu erreichen, aber ich möchte die Untersuchungen in der Firma keinesfalls behindern. Würden Sie mir bitte einen Ihrer Mitarbeiter hinaufschicken, der mir die Zimmertür öffnet? ... Oh, natürlich... ich weiß Ihr Entgegenkommen sehr zu schätzen, Charles... Das ist wirklich liebenswürdig von Ihnen... Vielen Dank!“
Zufrieden legte sie auf.
Sie würde sich in Masons Zimmer gründlich umsehen. Wer weiß, vielleicht gab es ja einen Hinweis darauf, wo er sich aufhielt.
*
„Was hat er gesagt?“, fragte John gespannt, als er mit Kate allein war. „Immerhin übernimmt ein Arzt wie Pares nicht einfach jeden beliebigen Fall.“
Kate blieb stehen und maß ihn mit einem bedeutungsvollen Blick.
„Dies ist kein beliebiger Fall, und das weißt du auch, Mall. Wenn wir uns geirrt haben, und es sich nicht um eine Einblutung handelt, dann steht er vielleicht in wenigen Minuten vor der größten Herausforderung seiner bisherigen medizinischen Laufbahn.“ Sie lächelte geheimnisvoll, während sie beide damit begann, sich die Hände gründlich zu desinfizieren. „Wer weiß, vielleicht hat das Thema des Ärztekongresses den Doktor gelangweilt, oder ich hatte einfach Glück, dass er sich an eine unbedeutende, kleine Studentin erinnern konnte, die ihn ständig mit unbequemen Fragen genervt hat. Jedenfalls war er sofort bereit, uns den Gefallen zu tun und herzukommen.“
John blickte vom Waschbecken hoch und lächelte.
„Wer würde sich nicht an dich erinnern!“
„War das jetzt ein Kompliment?“, fragte Kate unsicher und sah ihn aufmerksam an.
„Du hast doch unseren Oberarzt vorhin gehört“, zog er sich vorsichtig aus der Affäre. „Er war ziemlich beeindruckt von dir und meinte, er könnte eine tüchtige Ärztin wie dich hier gut gebrauchen. Aber leider hast du ja schon andere Pläne.“
Sie musterten einander sekundenlang schweigend, dann atmete Kate tief durch und betätigte mit Hilfe ihres Ellenbogens den Wasserhebel.
„Nun, ich habe mich noch nicht endgültig entschieden. Wann ich das tue, hängt von verschiedenen Umständen ab. Wenn wir hier fertig sind, können wir vielleicht noch einmal darüber reden. Aber jetzt ist erst einmal wichtig, was mit unserem Patienten geschieht.“
Inzwischen war sie mit dem Desinfizieren der Hände fertig und streifte die sterilen Handschuhe über. „Na komm, lass uns hineingehen und den anderen helfen, Mall!“ Sie war bereits an der Tür zum OP, als sie hinter sich seine Stimme hörte.
„Kate?“
Erstaunt drehte sie sich noch einmal um und konnte sehen, wie John hinter seinem Mundschutz lächelte.
„Du bist noch genauso erstaunlich wie damals!“
*
Auf dem Weg zu Danielles Wohnung hatten sie beide kaum ein Wort gesprochen. Hin und her gerissen von den sich überschlagenden Ereignissen dieses Tages hatte sich Danielle in die weichen Polster von Matts Wagen fallen lassen und die Augen geschlossen. Sie öffnete sie erst wieder, als er vor ihrem Haus angekommen war.
Er stellte den Motor ab, lehnte sich zurück und betrachtete sie einen Augenblick schweigend, als könne er sein Glück nicht fassen, sie endlich gefunden zu haben. Schließlich strich er ihr zärtlich übers Haar, beugte sich herüber und küsste sie sanft auf die Wange.
„Aufwachen, wir sind da.“
„Ich habe nicht geschlafen. Ich habe nachgedacht.“
„Und worüber?“
„Über alles, was heute passiert ist. In meinem Kopf herrscht ein völliges Durcheinander. Es begann damit, als Kate plötzlich vor Johns Tür stand.“
„Kate? Die Ärztin von vorhin?“
Danielle nickte.
„Sie und John, sie arbeiteten an derselben Klinik in Chicago und wollten heiraten. Aber das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir später, wenn du möchtest.“ Sie atmete tief durch. „Dann, während meiner Schicht kam dieser Anruf von Anni. Das hat mich total überrascht. Ich dachte immer, sie hasst mich, weil sie glaubt, ich hätte dich ihr weggenommen.“
Matt lächelte.
„Tja, bei Anni kann man nie ganz sicher sein, was sie gerade denkt und fühlt. Aber im Grunde ihres Herzens ist sie schwer in Ordnung.“
„Sie hatte sich eben in den falschen Mann verliebt. In einen, den sie nicht haben konnte. So etwas ist bitter.“
Matt lehnte sich zurück und lachte leise.
„Tut mir leid, aber Anni ist nun einmal nicht mein Typ.“
Trotz aller Strapazen dieses Tages wirkte sein Lachen ansteckend und irgendwie befreiend.
„Und darf ich fragen, welchen Typ du bevorzugst?“, forschte Danielle lächelnd.
Er zwinkerte ihr zu.
„Ich stehe total auf diese kleinen, zierlichen Brünetten, die mir den Atem nehmen, wenn sie mich mit ihren großen, unschuldigen Augen anschauen, so wie du das jetzt gerade tust. Und da gibt es tatsächlich eine, die mich bereits vom ersten Augenblick an so fasziniert hat, dass mich seitdem keine andere mehr interessiert.“
„Wie wäre es, wenn wir hineingehen, und du mir mehr von dieser Frau erzählst?“, ging Danielle auf seinen Tonfall ein. Anstatt einer Antwort stieg Matt eilig aus und hielt ihr die Wagentür auf.
„Nichts lieber als das. Ich glaube, ich habe dir noch viel mehr zu erzählen, als nur von der Frau, in die ich mich verliebt habe.“
Danielle lächelte
„Dann lass uns keine Zeit verlieren.“
Arm in Arm betraten sie beide das Haus.
*
„Mason, du elender Mistkerl“, zischte Cynthia wütend.
Sie hatte auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt, die Augen hinter einer riesigen dunklen Sonnenbrille verborgen, während sie die Szene vor Danielles Haus mit unverhohlener Neugier verfolgte.
„Irgendwie habe ich die ganze Zeit über geahnt, dass du ihr noch immer nachstellst!“ Grimmig beobachtete sie, wie sich die Haustür hinter den beiden jungen Leuten schloss. Ihr Blick fiel auf das glänzende, schwarze Mercedes-Cabriolet, und sie verzog angewidert das Gesicht. „Sogar den Wagen deines Bruders hast du kopiert! Das ist absolut krank.“
Sie lehnte sich zurück und dachte daran, wie sie vor ein paar Stunden Masons Hotelzimmer durchsucht und den Zettel mit Danielles Adresse gefunden hatte. Er empfand demnach mehr für diese junge Frau, als er zugeben wollte. Warum sonst sollte er sie jetzt noch verfolgen, nachdem sie gar nicht mehr mit Matthew Shelton liiert war! Seinen Bruder konnte er jedenfalls nicht mehr damit ärgern, indem er sich mit dessen Ex-Freundin traf.
Cynthia fühlte die heiße Wut, die ihr Blut fast zum Überkochen brachte. Gepaart mit der nagenden Eifersucht, von der ihr die ganze Zeit über schon ganz schlecht war, gab das einen nahezu tödlichen Cocktail.
„Ich hasse dich, Mason Shelton“, murmelte sie mit vor Zorn bebenden Lippen und rachsüchtig zusammengekniffenen Augen. „Du hast mich die ganze Zeit über nur für deine Zwecke benutzt! Du hast mit mir gespielt und meine Gefühle mit Füßen getreten!“
Der bloße Gedanke an jene erste Liebesnacht und sein Benehmen danach trieb ihr noch immer die Schamesröte ins Gesicht. Warum hatte sie sich nur so gehen lassen, sich selbst so belogen, sich von ihm benutzen lassen wie eine billige… Oh Gott, das alles war so erniedrigend!
Und dabei hatte er nie von Liebe gesprochen.
Zum Teufel mit ihm! Das würde sie sich nicht gefallen lassen!
„Das wirst du mir büßen, das schwöre ich dir!“
Sie startete den Motor und fuhr entschlossen davon.