Anmerkung: Außer dem Markgrafen von Meißen, Albrecht I. aus dem Hause der Wettiner, auch Albrecht der Stolze genannt, der von 1190 bis 1195 Markgraf war, sind alle Personen reine Fantasie. Die Berggasse und Frauengasse, sowie den Brühl gibt es im heutigen Altenburg wirklich. Der Brühl war im 12. Jahrhundert bereits Marktplatz. Ob es damals die Berg- und Frauengasse schon gab, ist mir unbekannt.
Altenburg, im Spätherbst anno 1193
Der Andrang auf dem Wochenmarkt war trotz Nieselregen dieses Mal sehr groß. Es gab kaum eine Möglichkeit, den in der Menschenmenge entgegenkommenden Passanten auszuweichen. Es wurde geschubst und gedrängelt. Jeder war sich selbst der Nächste. Schulter an Schulter schoben sich die Leute in den Gassen zwischen den Marktständen, an denen die Händler ihre Waren feilboten. So geschah es, dass Wenzel, der sich ganz in Gedanken versunken durch die Menge zwängte, die Kaufmannstochter Engelin fast umstieß.
„So passt doch auf! Ihr seid wahrhaftig ein Tölpel!“, schimpfte Engelin, als sie von hinten einen Stoß in den Rücken bekam und beinahe zu Boden ging. Ihre Magd Melisande konnte sie gerade noch auffangen, sonst wäre sie im Matsch gelandet. Der andauernde Nieselregen hatte Straßen, Gassen und Plätze in Schlammwüsten verwandelt. Dies auch noch an einem Markttag, an dem sich die Bürger der Stadt auf dem großen Platz am Brühl tummelten und Wocheneinkäufe tätigten.
Engelin strich sich die Schürze des Gewandes glatt und richtete die Haube, die ihren dicken Zopf kaum bändigen konnte. Da sie noch nicht verheiratet war, durfte sie ihr Haar eigentlich offen tragen. Doch um es vor der Nässe zu schützen, zog sie es heute vor, es zu einem langen Zopf gebunden zu tragen und mit einer Haube zu bedecken. Als sie ihre Kleidung wieder gerichtet hatte, blickte sie hoch und sah direkt in die Augen eines hochgewachsenen, schlanken Jünglings mit blondem Haar und strahlend blauen Augen. Dieser Anblick brachte sie sofort in Verzückung.
„Entschuldigt vielmals, werte Dame, das wollte ich nicht“, stotterte der Unbekannte, dem es offensichtlich sehr peinlich war, die junge Frau angestoßen zu haben. Sein Gesicht rötete sich vor Scham. Trotzdem schaute er nicht verlegen zu Boden, sondern sah sie eher interessiert an. Die zarten Züge, die gerade Nase, der volle Mund mit den sinnlichen Lippen und die hohe, edel wirkende Stirn faszinierten ihn. Vor allem ihre grünen Katzenaugen, die leuchteten wie zwei Sterne am Firmament, verzauberten ihn.
„Was starrt Ihr mich so an wie ein Depp?“, zeterte Engelin weiter. Sie wusste, ihr Benehmen war keinesfalls die beste Kinderstube, vor allem auch, da sich der Fremde so herzlich bei ihr entschuldigt hatte. Sein Bedauern klang aufrichtig, das spürte sie.
Der Jüngling ließ sich von ihrem Geschimpfe nicht beeindrucken, sondern schaute ihr weiterhin offen in die Augen. Er schien von ihr beeindruckt zu sein, warum auch immer. „Entschuldigt nochmals“, verkündete er noch einmal seine Reue und verbeugte sich galant, ohne auf die Menschen um sie herum zu achten. „Wenn ich Euch behilflich sein kann?“ Er reichte ihr seine Hand, um sie aus der Menge führen zu können.
Engelin war beeindruckt. Noch nie war ein Mann, auch noch ein ihr unbekannter, so höflich und zuvorkommend zu ihr gewesen. Auch sie begutachtete ihn unverhohlen. Er war nur wenig größer als sie selbst, schlank, mit einem aristokratischen Gesicht, aus denen blaue Augen sie offen anschauten.
Dieser Unbekannte schien ganz anders zu sein, als alle anderen Männer, die sie bisher kennengelernt hatte oder musste, da ihr Vater bereits seit geraumer Zeit einen Ehemann für sie suchte. Die meisten verließen fluchtartig das Terrain, wenn sie wie ein Waschweib anfing zu schimpfen. Sie wusste, es war keine gute Art, die sie da an sich hatte. Diese war wohl auch ein großes Hindernis, einen geeigneten Ehemann zu finden. Da nützte auch die hohe Mitgift nichts, die ihr Vater, ein angesehener Kaufmann in der Stadt, den potentiellen Gatten bot. Sie würde wohl eine ewige Jungfer bleiben, wenn sie so weiter machte. Doch das war ihr egal, sie wollte sich nicht verbiegen und in eine Schablone stecken lassen. Sie wollte keine Ehefrau zum Vorzeigen und ohne eigene Meinung sein, die nur sprach, wenn sie gefragt wurde und ansonsten nur zum Kinder gebären und zur Zierde da sein sollte.
Interessiert begutachtete Engelin ihren Begleiter. Adrett sah der Bursche auch noch aus, musste sie unverhohlen feststellen. Obwohl seine Kleidung nicht die teuerste war, sah man ihr das Können des Schneiders, der sie gefertigt hatte, sehr wohl an. Auch das Benehmen ihres Gegenübers zeugte von einer sehr guten Erziehung.
„Da hinten ist eine Bank. Dort könnt Ihr Euch ausruhen“, sagte der junge Mann, als sie es endlich geschafft hatten, aus dem Gewirr der Menge zu entkommen.
„Das tut wirklich not“, erwiderte Engelin, ein wenig wehleidig tuend. „Meine Füße schmerzen bereits vom vielen Laufen.“ Sie schaute sich um, ob Melisande ihnen gefolgt war. Zum Glück hielt sich ihre Magd immer an ihrer Nähe, wenn sie von ihrer Mutter zum Markt geschickt wurde. So auch jetzt. Sie erblickte das Mädchen nur wenige Schritte hinter sich, den Korb mit den Einkäufen an ihrer Seite und sie interessiert beobachtend.
„Melisande, kommst du“, rief sie ihrer Magd zu, die zu den beiden aufschließen sollte. Die Herbeigerufene kam sofort an ihre Seite.
„Meine Magd wird mit uns gehen, wenn Ihr nichts dagegen habt. Es geziemt sich nicht für eine junge Dame von Stand sich von fremden Männern begleiten zu lassen. Damit kommt man ganz schnell in schlechtes Gerede.“ In Wirklichkeit war es Engelin egal, was die Leute von ihr dachten und über sie erzählten. Der Fremde gefiel ihr sehr. Sie verspürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. Ungebührliche Gedanken verirrten sich in ihren Kopf und ließen sie zart erröten.
Wenzel sah Engelin belustigt an. Was sich geziemte und was nicht, war ihm noch mehr egal. Das Mädchen gefiel ihm. Wer sie wohl war? Er musste es unbedingt herausfinden. Sie schien ihm gegenüber aufgeschlossen zu sein. Ein Vorteil, den er sich zu Nutzen machen sollte, wenn er sie für sich gewinnen wollte. Er musste sie unbedingt wieder sehen.
An der Bank angekommen, wischte Wenzel mit seinem Taschentuch über die Sitzfläche, damit Engelin Platz nehmen konnte, ohne sich ihr Kleid zu beschmutzen.
„Nach Ihnen, werte Jungfer“, bot Wenzel dem Mädchen an, sich zu setzen. Auch Melisande gegenüber benahm er sich wie ein Mann von edlem Geblüt, was diese genau wie ihrer Herrin die Röte in die Wangen schießen ließ. Erst als beide Damen saßen, ließ er sich nieder.
„Woher kommt Ihr? Ich sah Euch noch nie in der Stadt. Seid Ihr neu hier?“, fragte Engelin, neugierig wie sie war. Sie hasste es, in Gesellschaft zu schweigen. Viel lieber unterhielt sie sich mit ihrem Gegenüber.
„Ihr habt recht. Ich bin erst heute angekommen. Die Mark Meißen, genauer gesagt, die Burg Meißen ist meine Heimat. Dort bin ich aufgewachsen“, erwiderte Wenzel ohne zu zögern. Er hatte nichts zu verbergen.
„Warum seid Ihr nach Altenburg gekommen?“, wollte das Mädchen nun auch noch wissen.
„Ach, wisst Ihr. Das ist eine sehr lange Geschichte.“ Wenzels Blick wurde traurig, was Engelin sofort bemerkte.
„Erzählt doch einfach. Ich merke doch, dass Euch etwas bedrückt“, forderte sie den jungen Mann auf. „Reden hilft manchmal“, tat sie ein wenig schulmeisterhaft.
„Ich möchte Euch auf keinen Fall langweilen.“
„Papperlapapp! Ihr langweilt mich nicht!“, schimpfte Engelin diesmal scherzhaft und drohte mit dem Finger.
„Na gut, wie Ihr wollt“, gab sich Wenzel geschlagen. „Mein Vater war Hofschneider auf der Burg Meißen. Als ich alt genug war, nahm er mich in die Lehre. Eigentlich sollte ich zu einem anderen Schneider in der Stadt und dort das Handwerk von der Pike auf lernen. Es war schon alles ausgemacht. Doch unser Herr, der Markgraf von Meißen, Albrecht I. (auch Albrecht der Stolze genannt) befahl, dass mein Vater mich selbst ausbildete. Er hielt sehr viel von ihm und bestimmte mich als dessen Nachfolger, wenn dieser einmal nicht mehr sein würde. Jedoch nur, wenn ich meinen Meisterbrief noch vor seinem Tode erhielte. So gab ich alles, um unseren Herrn nicht zu enttäuschen. Immerhin war mein Vater bereits in hohem Alter.“
„Es kam anders als geplant“, erkannte Engelin richtig.
„So ist es“, sprach Wenzel weiter. „Kurz nachdem ich meinen Gesellenbrief erhielt, verstarb mein Vater plötzlich. Da ich aber den Meister noch nicht hatte und ich diesen auch nicht so schnell erreichen konnte, nachdem mein Vater zu zeitig von uns ging, bestimmte unser Herr einen anderen Schneider als Nachfolger meines Vaters. Für mich gab es bei ihm keine Arbeit, denn er brachte seine eigenen Gesellen mit.“
Mitleidig sah Engelin Wenzel an. Sie erkannte, wie sehr er an seiner Heimat hing und wie es ihn schmerzte, sie verlassen zu müssen.
„Für mich würde nichts anderes übrig bleiben, als auf Wanderschaft zu gehen. Da auch meine Mutter bereits vor langer Zeit von uns gegangen war, hielt mich nun nichts mehr in Meißen und der Burg. So bin ich nun hier gelandet, so gut wie mittellos, ohne Arbeit und Unterkunft“, sagte der junge Mann. „Doch einen Lichtblick habe ich in dieser schönen Stadt hier.“ Er schaute Engelin verliebt an, die sofort wieder errötete.
„Wie meint Ihr?“, wagte sie zu fragen. Die Worte wollten beinahe nicht aus ihrem Mund, so sehr schnürte es ihr den Hals zu. Sollte es womöglich sein, dass dieser Fremde das Gleiche fühlte wie sie? Ihr Herz wurde warm. „Bitte, sagt es mir! Ich sterbe sonst vor Neugier!“, forderte sie ihn auf. Dass Melisande neben ihr verlegen hüstelte, überhörte sie einfach. Zu sehr hatte Wenzel sie in seinen Bann gezogen.
„Dieser Lichtblick, der seid Ihr, liebste Jungfer. Ich sah Euch und sofort machte mein Herz einen lebhaften Sprung, dass ich dachte, es verließe meine Brust um zu dem Euren zu fliegen“, gab er nach einer Weile zu.
Engelin jubilierte innerlich. Am liebsten hätte sie ihr Glück laut herausgerufen, doch ein Stups ihrer Magd in die Seite ließ sie inne halten. Melisande war wie eine Schwester mit ihr zusammen aufgewachsen und kannte sie gut genug, um ihr Handeln vorhersehen zu können. Es gehörte sich für eine Jungfer ihres Standes nicht, sich in der Öffentlichkeit so zu benehmen.
„Eure Meinung über mich ehrt mich sehr“, säuselte Engelin stattdessen. „Was wollt Ihr nun tun? Habt Ihr ein Ziel?“, fragte sie noch.
„Ich wollte mich hier in der Stadt umsehen. Vielleicht gibt es einen Schneider, in dessen Dienste ich treten kann“, erwiderte Wenzel. „Außerdem gibt es hier eine junge Dame, für die es sich lohnt, zu bleiben“, flüsterte er Engelin zu und küsste verstohlen ihre Hand. Melisande neben ihnen musste die Ohren spitzen, um seine Worte verstehen zu können, so leise sprach er.
„Ihr beschämt mich“, flüsterte Engelin zurück. Doch dann besann sie sich auf das Wesentliche. Sie musste dem jungen Mann unbedingt helfen. Er durfte die Stadt keinesfalls verlassen, bevor sie ihn nicht näher kennen gelernt hatte. „In der Frauengasse gibt es einen Schneider. Schnack ist sein Name. Bei ihm lassen meine Eltern ihre Gewänder schneidern. Geht zu ihm und sagt, ich würde Euch schicken und Euch wärmstens empfehlen.“ Sie schaute sich Wenzels Rock an. „Ich nehme an, Ihr habt Eure Kleidung selbst geschneidert“, fragte sie.
„Natürlich, das habe ich. Darauf gebe ich mein Ehrenwort. Ich habe auch noch weitere meiner Kleider dabei, sowie mein Gesellenstück, die ich dem Meister gerne zur Begutachtung vorzeigen kann.“ Er wies auf das Bündel, das er neben sich auf der Bank abgelegt hatte.
Plötzlich hörte Engelin die Glocken der nahen Stiftskirche. Es schlug elf Mal.
„Oh mein Gott, so spät schon!“, stieß sie aus. „Mutter wird außer sich sein und mit mir schimpfen. Sie mag es nicht, wenn ich trödele. Melisande, wir müssen ganz schnell nach Hause.“ Engelin sprang auf. „Es tut mir leid. Meine Mutter wartet auf die Einkäufe. Wie gern hätte ich noch länger mit Euch geplaudert“, sagte sie zu Wenzel, der ebenfalls aufgestanden war. „Gehabt Euch also wohl.“ Damit wollte sie sich entfernen, obwohl es ihr das Herz brach, Wenzel zurück zu lassen. Doch irgendwie würde sie ihn bestimmt finden. Nur was sollte sein, wenn er nicht in der Berggasse unterkam? Sie wusste es noch nicht, würde aber ganz bestimmt einen Weg finden.
„Haltet ein!“, rief Wenzel aus. „Sagt mir noch Euren Namen, damit ich ihn beim Schneider in der Frauengasse auch nennen kann.“
„Engelin Nickolin, die Tochter des Kaufmanns Nickol aus der Berggasse“, nannte sie ihm das Gewünschte. Da fiel ihr im letzten Augenblick noch ein, die Gunst der Stunde zu nutzen. „Nun muss ich aber wirklich eilen. Kommt morgen nach der Frühmesse zu dieser Bank. Ich werde auf Euch warten“, rief sie ihm noch zu und lief so schnell sie konnte, davon. Melisande folgte ihr.
Nachdenklich blickte Wenzel den beiden Mädchen hinterher, bis sie um die Ecke bogen und aus seinem Blickfeld verschwanden. Er haderte erst mit sich selbst, doch dann besann er sich. Er musste zum Schneider Schnack in die Frauengasse, nach Arbeit und Unterkunft fragen.
Am Abend saß Engelin mit ihrer Mutter in der Wohnstube. Der Vater war ins Wirtshaus gegangen und das Gesinde hatte sich bereits zurück gezogen.
Engelins Mutter hatte das Strickzeug herausgeholt und arbeitete an Handschuhen für den Winter, während die Tochter Hemden des Vaters ausbesserte. Ihre Gedanken schwirrten wie ein Vögelchen zu Wenzel, der hoffentlich bei Schneider Schnack eine Anstellung gefunden hatte. Was er wohl gerade tat? Ob er auch an sie dachte, so wie sie an ihn? Erneut wurde es ihr warm ums Herz und ein süßes, noch unbekanntes Kribbeln verirrte sich in ihren Schoß. Hatte sie sich verliebt? Wie konnte es sein? Sie kannte Wenzel doch noch gar nicht. Gerade einmal war sie ihm begegnet und schon hatte sie Schmetterlinge im Bauch. Das Mädchen dachte nach. Die Gefühle, die auf einmal auf sie einstürzten, verwirrten sie.
„Tochter, du bist heute so still“, sagte auf einmal ihre Mutter. „Fühlst du dich nicht wohl? Deine Wangen glühen.“
Engelin schaute von ihrem Flickzeug auf. War es wirklich so ersichtlich? Ihr wurde noch heißer. „Es ist nichts, Mutter“, erwiderte sie und nahm sich vor, so zu sein wie immer.
Die Mutter kam zu ihr und setzte sich neben sie. „Trotzdem, du bist heute so anders“, sagte sie und fühlte an Engelins Stirn, die glühend heiß war. „Du scheinst Fieber zu haben.“ Ihr sorgenvoller Blick traf das Mädchen, das unwillkürlich zusammen zuckte und sich beinahe mit der Nadel in den Finger stach. „Gehe lieber zu Bett. Ich möchte nicht, dass du krank wirst. Ich bringe dir gleich noch eine heiße Milch.“
„Das werde ich tun, Mutter“, erwiderte Engelin artig und erhob sich. Sie packte die Hemden zusammen und legte sie in den Korb, den sie unter die Bank schob. Dann ging sie nach oben in ihre Kammer. Dort zündete sie die Kerze an, die auf ihrer Kleidertruhe stand und schaute in den blank polierten Teller, den sie als Spiegel benutzte. Ihr blickte ein Mädchen mit großen glänzenden Augen und geröteten Wangen entgegen. Sie machte einen Kussmund, so als wolle sie gleich ihrem Liebsten die Lippen zum Kuss darbieten. Ihr Herz sprang aufgeregt in ihrer Brust, als sie sich vorstellte, Wenzel würde sie küssen. Engelin wurde es noch heißer. Zum Glück hatte Melisande an die Waschschüssel und einen gefüllten Krug mit Wasser gedacht, den sie abends immer in ihrer Kammer haben wollte, um sich den Staub des Tages abzuwaschen. Sie schüttete das Wasser in die Schüssel und schöpfte mit den Händen ein wenig heraus, um sich ihr glühendes Gesicht zu kühlen. Leise aufstöhnend genoss sie das kühle Nass auf ihren Wangen.
Gerade als sich Engelin abtrocknete, klopfte ihre Mutter an die Kammertür. „Tochter, Liebes, bist du noch wach?“, hörte sie draußen im engen Flur die Mutter fragen.
„Ich bin noch wach“, antwortete Engelin. „Kommt doch herein, Mutter.“ Sie legte das Tuch beiseite.
„Hier ist deine heiße Milch. Ich habe noch ein wenig Honig dazu getan. Das wird dir gut tun“, sagte ihre Mutter, die mit einem dampfenden Becher eintrat. „Kind, du machst mir Sorgen“, sagte sie zu ihr, als sie der Tochter den Becher reichte. „Hoffentlich wirst du nicht krank. Immerhin warst du heute bei diesem Sauwetter auf dem Markt unterwegs. Du kamst ganz nass und abgekämpft zurück.“
„Ich werde schon nicht krank“, widersprach Engelin und trank die noch heiße Milch mit kleinen Schlucken. „Mit diesem Schlaftrunk werde ich ganz bestimmt tief und fest schlafen. Ihr werdet sehen, morgen bin ich wieder ganz die alte.“ Dass sie heute eine aufregende Begegnung hatte, verriet sie ihrer Mutter lieber nicht.
„Dein Wort in Gottes Ohr. Ich lasse dich nun allein. Schlaf gut und eine gute Nacht. Gott schütze dich.“
„Gott schütze auch Euch und den Vater, gute Nacht“, erwiderte Engelin und wartete, bis die Mutter ihre Kammer verlassen hatte. Dann legte sie ihr Kleid ab und begab sich zu Bett.
In der Nacht schlief Engelin tief und fest. Die heiße Milch mit Honig hatte wahre Wunder vollbracht. Doch dann schlich sich ein Traum auf leisen Sohlen ein. Unruhig warf sie sich in ihrem Bett hin und her, durchwühlte die Laken und stöhnte herzerweichend. Ihr Körper bog sich und glühte vor Verlangen. Immer wieder flüsterte sie im Schlaf Wenzels Namen.
Sie sah den geliebten Mann, wie er sich über sie beugte und küsste. Gespannt verfolgte sie sein erregendes Tun. Erst küsste er ihre Lippen, dann ihre Brüste und deren kleine Warzen. Er knabberte sogar daran. Sein Mund wanderte aber noch sehr viel weiter über ihren nackten Leib, hielt am Nabelmaar inne und streifte hinunter, bis er ihre Scham erreichte. Auch dort liebkoste er sie und versetzte sie in einen Taumel, der sie trunken machte. Sie stöhnte und wimmerte. Ihre Brustwarzen stellten sich auf und wollten noch mehr gekost werden.
Als Wenzel plötzlich wieder über ihr war, ihr tief in die Augen sah, versank sie in den Tiefen seiner himmelblauen Augen wie in einem Meer. Sie fühlte sich frei und leicht, wie noch nie vorher.
Mit seinem Knie drückte er ihre Schenkel auseinander. Instinktiv wusste sie, was zu tun war. Willig öffnete sie sich ihm. Sie wollte ihn in sich aufnehmen, seinen Namen rufen, seine Wollust zu ihrer werden lassen. Er verschloss ihren Mund mit dem seinigen. Ihre Zungen kämpften miteinander. Schon spürte sie, wie sich ein Gemächt an ihre jungfräuliche Spalte drängte. Wie von Geisterhand beugte sie sich ihm entgegen. Langsam drang er in sie ein, immer tiefer, bis er auf einen Widerstand stieß, den es zu durchdringen hieß.
Engelins Augen glänzten vor Lust. Sie rieb ihr geschwollenes Geschlecht an dem ihres Liebhabers. Diese intimen Berührungen machten sie beinahe wahnsinnig. Mit jeder noch so winzigen Faser ihres Körpers wollte sie diesen Mann in sich spüren, spüren, wie er in sie eindrang, sie zu seiner Frau machte und später seinen Samen in sie strömen ließ, aus dem neues Leben wachsen konnte. Als er endlich kraftvoll in sie stieß und ihr die Jungfräulichkeit raubte, war sie die glücklichste Frau auf Erden… Der kleine Schmerz, den sie dabei verspürte, war schnell vergessen. Nun zählte nur noch die Lust, die sie sich gegenseitig schenkten.
Schweißnass fuhr Engelin hoch. Ihr Nachthemd klebte verschwitzt an ihrem Körper. In der Kammer war es stockdunkel. Nicht einmal der Mond schien heute durch das kleine Fenster ins Innere. War es nur ein Traum, oder war es wirklich geschehen? Sie griff neben sich. Jedoch musste sie feststellen, sie war ganz allein in ihrem Bett. Also hatte sie doch nur geträumt. Was für ein Traum war es, der sie so aufrührte, dass ihr Körper brannte als hätte sie hohes Fieber und ein Feuerwerk der Gefühle in ihr veranstaltete.
Sie dachte an Wenzel, den sie erst heute kennengelernt hatte. Ja, genau, sie hatte von Wenzel geträumt, der mit ihr so wundervolle Dinge tat, die sie vor Scham erröten ließen. Sie stellte sich vor, es wirklich mit ihm zu tun. Aber solange sie nicht verheiratet waren, durften sie es nicht. Es war Sünde, es vorher zu tun. Sie würde den Traum ihrem Kaplan beichten müssen und schämte sich schon jetzt dafür.
Am nächsten Morgen war Engelin keinesfalls die alte, wie sie es am Abend zuvor ihrer Mutter vorausgesagt hatte. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Beim Frühmahl saß sie vor ihrer Schüssel mit Gerstenbrei und stocherte darin herum, als gäbe es dort Dinge, die es zu finden galt. Ihre Gedanken flogen zu Wenzel, der ihr in der letzten Nacht solch eigenartige Träume geschickt hatte, die sie auch nach Stunden noch aufwühlten und ein wohliges Gefühl zwischen ihren Schenkeln verursachten.
Engelins Vater, der heute mal noch nicht in seinem Kontor weilte, sah seine Tochter misstrauisch an. Ihr Benehmen war ihm fremd. Ihm fielen die glasig blickenden Augen und das leicht gerötete Gesicht auf.
„Sie war gestern Abend schon so komisch“, erklärte die Mutter, die Engelin ebenfalls im Auge hatte. „Hoffentlich wird sie nicht krank.“ Sorgenvoll beugte sie zu ihrer Tochter und befühlte erneut deren Stirn. „Fieber scheint sie nicht zu haben. Es wäre vielleicht gut, wenn sie heute die Frühmesse auslässt und zu Bett geht.“
Erschrocken sah Engelin auf. Ihre Eltern sprachen in ihrem Beisein über sie als wäre sie gar nicht im Zimmer.
„Keinesfalls Mutter“, widersprach sie vehement. „Ich komme mit zur Frühmesse. Krank bin ich auch nicht. Ihr macht Euch zu viele Sorgen um mich. Außerdem möchte ich nach der Messe noch zur Beichte gehen.“
„Du hast gesündigt?“, fragte ihre Mutter und sah sie erstaunt an.
„Das Übliche halt. Nichts weltbewegendes“, wich Engelin der Wahrheit aus, dachte dabei aber an Wenzel, den sie bald wieder sehen sollte.
Während der Frühmesse saß Engelin wie auf Kohlen auf ihrem Platz. Sie vernahm kaum die Worte des Priesters, der heute die Messe hielt. Unauffällig schaute sie sich um und suchte Wenzel, der einige Bänke hinter ihr saß.
Auch er hatte Engelin erblickt und lächelte verstohlen, als er bemerkte, sie schaut in seine Richtung. Er war glücklich, dass sie, wie sie es gestern versprochen hatte, zur Frühmesse gekommen war. Bald war diese zu Ende, dann würden sie sich heimlich davon schleichen. Er hatte ihr so viel zu erzählen.
Endlich war die Messe beendet. Engelin drängte sich mit ihren Eltern zum Ausgang, ließ sich dann aber zurückfallen, nachdem sie ihnen sagte, dass sie nun zum Kaplan gehen wolle. Zum Glück war heute Melisande nicht mit zur Messe gekommen. Die gewitzte Engelin hatte ihr aufgetragen, ihr bestes Kleid zu reinigen und auszubessern, womit die Magd wohl den ganzen Tag beschäftigt war. Mit ihr wäre es ihr nicht möglich gewesen, sich nach der Messe heimlich aus dem Schoße der Familie zu entfernen. So gern wie Engelin ihre Magd hatte, so nervig fand sie es, wenn wie bei Gängen zum Markt oder auch bei Spaziergängen wie eine Klette an ihr hing und wie ein Kettenhund über sie wachte. Zum Glück hatte Melisande sie noch nie bei ihren Eltern verraten, wenn sie heimliche Alleingänge unternahm, anstatt, wie sie es ihnen gesagt hatte, sich bei ihren Freundinnen aufhielt.
Die junge Frau blickte sich um und sah Wenzel einige Meter hinter ihr in der Menge stehen. Sie nickte ihm zu und verließ die Kirche. Draußen schaute sie nach ihren Eltern, die sich aber bereits auf dem Nachhauseweg befanden und nicht auf sie achteten. Schnell lief sie zu dem vereinbarten Treffpunkt. Kurz nach ihr kam auch Wenzel dort an.
Mit heftig klopfendem Herzen schaute sie ihm entgegen. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen und hätte ihn geküsst. Doch dies würde nur die Passanten, die auf dem Nachhauseweg waren, auf sie aufmerksam machen.
„Endlich“, flüsterte sie, als Wenzel ihr zur Begrüßung die Hand küsste und sich galant vor ihr verbeugte. Ein wohliger Schauer zog durch ihren Körper, als seine Lippen ihren Handrücken berührten. Länger als es sich geziemte, hielt er inne und sog den zarten Duft des Rosenöls ein, das sie sich am Morgen auf ihr Handgelenk getröpfelt hatte.
„Ihr scheint ein wenig aufgeregt zu sein“, sagte Wenzel schelmisch zu Engelin. Er stand vor ihr und blickte sie mit seinen himmelblauen Augen an, dass sie am liebsten wollüstig gestöhnt hätte. Er erkannte ihre Not. „Wir sollten lieber woanders hingehen“, bot er ihr an.
Engelin brachte kein einziges Wort heraus. Ihr Hals war wie zugeschnürt und ihr Schoß brannte vor Verlangen nach diesem Mann. Obwohl dieses Gefühl, das sie erst seit dem gestrigen Tag kannte, noch recht ungewohnt war, wusste sie, was es bedeutete. Der Traum von letzter Nacht hatte ihr die Augen geöffnet.
Wenzel reichte ihr seinen Arm und führte sie weg aus der Öffentlichkeit in weniger belebte Gassen. Nach dem Abendmahl in Meister Schnacks Haus war er nochmals losgezogen und hatte ein wenig die Stadt erkundet.
„Wie ist es Euch seit gestern ergangen“, brachte es Engelin endlich fertig, ein paar Worte an ihren Begleiter zu richten. „Habt Ihr Erfolg bei Meister Schnack gehabt?“
„Oh ja“, erwiderte Wenzel, „der Meister war sehr wohlwollend mir gegenüber, nachdem ich ihm Eure Referenz überbracht hatte.“ Wenzels Augen glänzten vor Freude über das Glück, das ihm nach so viel Pech in der letzten Zeit nun endlich erreicht hatte. „Meister Schnack hat einen guten Geschmack. Er erkannte mein Potential nur anhand der Kleidung, die ich ihm als meine Werke vorzeigte. Er bot mir sofort eine Stelle in seiner Werkstatt an. So lange ich keine eigene Bleibe gefunden habe, kann ich sogar unter seinem Dach in einer eigenen Kammer wohnen.“
„Das sind wirklich gute Nachrichten. Ich freue mich sehr für Euch“, erwiderte Engelin und blieb stehen. Sie befanden sich inzwischen in einer engen Gasse, die nicht mehr bewohnt war und einer breiteren Straße weichen sollte. Engelins Herz klopfte noch schneller, als sie bemerkte, sie waren nun vollkommen allein und unbeobachtet.
„Wenzel“, flüsterte sie und blickte zu ihm hoch.
„Ja, Engelin“, erwiderte er. Er nahm sie in seine Arme. Ihr schneller, aufgeregter Herzschlag war durch ihr Kleid und sein dickes Wams zu spüren. Wenzel hob sie hoch und presste seine Lippen auf die ihrigen. Spielerisch ließ er seine Zunge über ihre Lippen gleiten, ehe er in ihren Mund eindrang.
Seufzend ließ Engelin ihn gewähren. In ihr tobte erneut das Feuer, das letzte Nacht in ihr erwacht war. „Wenzel“, brachte sie nochmals atemlos zwischen zwei Küssen heraus.
Vorsichtig bewegte Wenzel sich mit seiner süßen Last in Richtung eines Hauseingangs. Dort lehnte er Engelin in eine Ecke, hielt sie aber immer noch fest. Sie umschlang seine Hüfte mit ihren Beinen und klammerte sich an ihm fest. Doch Wenzel hielt sie sicher. Eine seiner Hände glitt an ihrem Rücken hinab und hielt an ihrem Po. Seine Erektion, die inzwischen hart pulsierte, war beinahe nicht mehr auszuhalten. Er wollte diese Frau, mit Haut und Haaren. Am besten sofort.
„Engelin, wir dürfen das nicht“, presste er gequält hervor. Wenzel hatte große Mühe, sich zu beherrschen.
„Warum nicht? Wir lieben uns doch?“ Engelin verstand nicht.
„Es ist Sünde“, sagte Wenzel. Doch seine Hände handelten wie von allein, als wären sie kein Teil von ihm. Sein Kopf sagte nein, sein Körper jedoch war wie willenlos. Schon hob er Engelins Rock und griff darunter. Warme, weiche Frauenschenkel erwarteten ihn. Er glitt weiter, bis er unter den vielen Unterröcken, die sie trug, ihre Scham erreichte.
Erregt stöhnte das Mädchen auf, als Wenzels zarte Berührungen ihre Spalte liebkosten. Das Feuer brannte lichterloh und verbrannte sie, ihren Willen, ihren Körper, sogar ihre Seele. Sie spürte, wie sie feucht wurde.
Gekonnt liebkoste Wenzel Engelins noch unberührten Schoß. Er umspielte die geschwollene Perle, bis das Mädchen vor Lust bebte. Nur ganz vorsichtig drang er in ihre Himmelspforte ein, bis er das natürliche Hindernis erreichte, das ihre Jungfräulichkeit bezeugte.
Engelin zuckte erschrocken zusammen, als Wenzel ihr Jungfernhäutchen berührte. Sie sah ihn mit großen Augen an, verspürte aber keine Angst vor dem, was sie sich seit gestern so sehr wünschte. Sie war bereit dafür.
„Wir sollten es nicht tun“, sagte Wenzel erneut, als er Engelins Wunsch erkannte. Obwohl er selbst so angespannt war, dass er nur wenige Augenblicke benötigen würde, bis er seinen Samen verspritzte, riss er sich zusammen.
„Warum nicht? Ich will dich!“, seufzte Engelin, während eine weitere Welle der Lust durch ihren Körper schoss und sie ihren ersten Höhepunkt erreichte. Mit glasigen Augen blickte sie ihn verliebt an.
„Nicht hier. Du hast es nicht verdient, wie eine einfache Dirne in einer finsteren Ecke genommen zu werden“, erwiderte er. „Ich sollte erst bei deinem Vater um deine Hand anhalten.“
Engelin dachte, sie träumt. Wollte Wenzel sie wirklich zu seiner Frau machen? Das wäre für sie der Himmel auf Erden. „Du willst…?“, fing sie an zu schluchzen.
„Wenn du es genau so willst, wie ich…“, sagte Wenzel aufrichtig und küsste Engelin zärtlich auf den Mund.
„Ja, ich will“, wollte sie am liebsten vor Freude hinausschreien, Wenzel jedoch verschloss ihren Mund mit einem weiteren Kuss, um ihren freudigen Aufschrei zu dämpfen. „Ich will, Liebster, ich will“, konnte sie dann doch zwischen zwei Küssen atemlos ausstoßen. Selig lächelnd schmiegte sie sich an ihren Liebsten.
„Dann werde ich alles vorbereiten“, versprach Wenzel ihr und küsste sie voller Liebe.
Einen Monat später
Engelin stand mitten in der großen Wohnstube und hörte sich die Standpauke ihres Vaters an, der vor ein paar Minuten Wenzel wie einen räudigen Hund aus dem Haus gejagt hatte. Sie hätte sich am liebsten die Ohren zu gehalten, um das Geschrei ihres Vaters nicht anhören zu müssen. Das jedoch hätte auch nichts genutzt.
„Einen Schneider, einen armen, mittel- und heimatlosen Schneider willst du ehelichen! Du weißt ja nicht einmal, ob alles wahr ist, was er dir erzählt hat. Wenn er nun gelogen hat und uns nur ausnehmen will wie eine Weihnachtsgans! Ich fasse es nicht! Wie kannst du nur! Du machst uns zum Gespött der ganzen Zunft! Ja sogar der ganzen Stadt! Diese Schmach werde ich nicht überleben! Am besten gehe ich ins Wasser, um diese Schande nicht erleben zu müssen.“ Engelins Vater tobte vor Wut. Sein Gesicht war bereits rot angelaufen. Er keuchte und bekam kaum Luft.
Engelins Mutter wollte ihn beschwichtigen, er aber stieß sie grob von sich und durchmaß die große Wohnstube, in der er Wenzel empfangen hatte, mit großen Schritten. Hart trat er auf, dass das Poltern seiner Schritte durch das ganze Haus zu hören war. Seine Schimpftirade fand kein Ende.
Die Bediensteten standen sprachlos im Flur und hörten jedes Wort, das ihr Herr herausschrie. Leise tuschelten sie miteinander. Zwischendurch hörten sie Engelin und die Hausfrau schluchzen.
„Vater, ich liebe Wenzel! Es ist mir egal, was er ist und woher er kommt!“, ließ Engelin nach einer Weile vernehmen. Tapfer stellte sie sich ihrem Vater entgegen und wagte es, ihm Widerworte zu geben.
„Liebe!? Seit wann heiratet man aus Liebe?“, schrie ihr Vater aufgebracht. „Deine Mutter und ich haben auch nicht aus Liebe geheiratet!“ Erst starrte er seine Tochter an, dann ihre Mutter, die sich zusammengesunken auf der Ofenbank niedergelassen hatte.
„Ja, ich weiß! Ihr seht nur das Geld! Was soll ich mit Geld, wenn mein Gatte mich nicht liebt und ich ihn auch nicht?“ Trotzig sah Engelin ihren Vater an. „Wenn ich heirate, dann nur aus Liebe. Gebt Ihr mir nicht die Zustimmung, gehe ich lieber ins Kloster und werde Nonne!“ Trotzig sah sie ihren Vater an.
„Sei still Tochter! Du bist ein undankbares Wesen! Geh sofort hinauf in deine Kammer und wage es nicht, sie zu verlassen! Dort bleibst du, bis ich dich rufen lasse! Wage nicht, mir noch einmal zu widersprechen! Besinne dich lieber!“ Drohend hob er die Hand, als wolle er sie züchtigen.
„Mich wegschicken, das könnt Ihr, pfui Deibel“, stieß Engelin angewidert aus, ehe sie wie ein geschlagener Hund die Stube verließ. Draußen im Flur sah sie in erstaunte Gesichter, die ihr freundlich und tröstend zunickten.
Auch Melisande stand mit beim Gesinde. Sie sah ihrer Herrin entgegen. „Komm mit nach oben“, befahl Engelin ihr, worauf sie ihr auf dem Fuße folgte.
„Pack mir ein paar Kleider ein, auch ein wenig Proviant“, gab Engelin der Magd Anweisung. „Geh danach zu Wenzel und bringe ihm eine Botschaft. Pass aber auf, dass dich niemand sieht.“
„Aber…“
„Still. Kein Wort! Du wirst garantiert meinen Vater gehört haben. So laut wie er geschrien hat, konnte es bestimmt die ganze Stadt hören! Keine Minute zu lang will ich noch in diesem Hause bleiben, in dem die Liebe so mit Füßen getreten wird“, unterbrach Engelin Melisande.
„Aber wo wollt Ihr hin? Euer Vater wird Euch zurückholen“, erwiderte die Magd.
„Lass das mal meine Sorge sein“, versuchte Engelin sie zu beruhigen. „Nun tu, was ich dir aufgetragen habe. Aber lass dich nicht ertappen. Heute Nacht, wenn alle schlafen, werde ich gehen.“ Sie sah ihre blass gewordene Bedienstete an. „Sei ohne Sorge“, tröstete sie diese. „Mir wird es gut gehen und ich werde in Sicherheit sein.“
„Aber wenn Euer Wenzel doch nicht die Wahrheit gesprochen hat…“, versuchte Melisande sie zum Bleiben zu überreden.
„Papperlapapp! Wenzel ist ein ehrlicher Mann, der sein Wort hält“, fuhr Engelin die Magd an. „Und nun geh und tu, was ich dir aufgetragen habe“, schickte sie Melisande nach draußen. Sie musste jetzt allein sein.
Engelin ging wie gewohnt zu Bett. Ihre Mutter schaute nochmals in ihre Kammer und wünschte ihr eine gute Nacht. Das Mädchen jedoch tat so, als würde es bereits schlafen.
Als es im Haus still geworden war, schlüpfte Engelin aus dem Bett und in ihre bereit gelegten Kleider. Melisande hatte gute Arbeit geleistet. Unbemerkt von der Küchenmagd und ihrer Mutter war es ihr gelungen, Brot, Käse und sogar einen Schinken aus der Speisekammer zu entwenden.
Ihre Schuhe in der Hand schlich sie sich aus ihrer Kammer. Sie horchte an der Tür, hinter der ihre Eltern schliefen. Den Vater hörte sie schnarchen, auch ihre Mutter schien zu schlafen.
So leise es ging, lief Engelin die Treppe hinunter. Ein letztes Mal sah sie sich um, dann öffnete sie die Tür und verließ das Haus.
Sich immer wieder umblickend, ging Engelin durch die Gassen in Richtung Frauengasse, in der Wenzel bei Schneider Schnack wohnte. Es war fast Mitternacht. Die Straßen und Gassen waren nicht beleuchtet. Doch die junge Frau kannte sich gut aus und kam, ohne aufgehalten zu werden, am Haus des Schneiders an.
In Wenzels Kammer, die zur Gasse hinaus ging, sah sie einen Lichtschein. Wenzel war noch wach und wartete darauf, Engelin empfangen zu können. Meister Schnack war bereits eingeweiht und öffnete nach Engelins leisem Klopfen die Haustür.
„Da seid Ihr ja“, begrüßte er sie und ließ sie ein. „Wenzel ist noch wach. Geht nur nach oben.“
Als Engelin die Treppe hinauf steigen wollte, hielt der Schneider sie kurz zurück. „Ihr seid wahrlich sehr tapfer“, sagte er zu ihr. „Wollt Ihr wirklich so mit Eurem Vater auseinander gehen. Ihm wird es das Herz brechen, genau wie Eurer Mutter.“ Traurig sah er sie an. Ihm war es nicht vergönnt, mit seiner Gattin Kinder zu haben. Er hatte Wenzel wie einen lang verloren gegangenen Sohn bei sich aufgenommen. Nun wollte dieser ihn schon wieder verlassen.
„Meister Schnack“, entgegnete Engelin. „Wir haben Euch so viel zu verdanken. Auch, dass Ihr unsere Flucht unterstützt. Ich weiß gar nicht, wie ich das Euch vergüten soll.“ Sie nahm die Hand des alten Mannes und drückte sie zärtlich.
„Es reicht mir schon, zu wissen, dass Ihr mit Wenzel glücklich seid“, erwiderte der Schneider. „Und nun geht. Gott schütze Euch und Wenzel. Ich werde für Euch beten.“
„Herzlichen Dank“, sagte Engelin ergriffen und drückte dem Hausherrn einen Kuss auf die Wange. „Gott schütze Euch und Eure Lieben.“ Damit lief sie die Treppe nach oben in Wenzels Kammer.
Wenig später verließen eine Frau und ein Mann, verkleidet als Bedienstete das Haus des Schneiders in Richtung Stadtmauer. Wenzel steckte dem Wachmann einen kleinen Obolus in die Rocktasche, der er begeistert entgegennahm. Nachdem er ihnen die kleine Nachtpforte geöffnet hatte, schlüpften Engelin und ihr Begleiter hinaus. Ein letztes Mal blickten sie sich um. Dann gingen sie los, mit unbekanntem Ziel. Seitdem wurden sie nie wieder gesehen. Auch eine intensive Suche durch Engelins Vater brachte nichts. Die Tochter und deren Liebster blieben wie vom Erdboden verschluckt.
© Brida Baardwijk / 03.11.2017