Das Sonnenlicht drang nur schwer durch das dichte Blätterdach des Waldes. Zu dieser frühen Morgenstunde war es noch kühl, besonders hier im Wald. Trotzdem war es wunderbar, einsam durch die Gegend zu streifen und die Schönheit des beginnenden Tages zu genießen. Bodennebel versperrte teilweise die Sicht. Nur schemenhaft konnte der einsame Spaziergänger weiter entfernte Bäume erkennen. Wie unheimliche Geister schwebten Nebelschleier um die Stämme. Das Laub des letzten Herbstes war noch nicht vermodert und bildete eine Art Teppich, der jeden noch so kleinen Laut dämpfte.
Ritter Sewolt hatte seinen Knappen in der Burg gelassen. Er wollte allein sein. So sehr der Junge auch lamentierte, Sewolt blieb hart. Er kannte den ihn Anvertrauten gut genug, der ein kleines Plappermaul war.
Auch Sewolts Rüstung blieb heute daheim. Er war froh, diesen schweren Schutz jetzt nicht tragen zu müssen. So kleidete er sich, obwohl oft als eitler Geck beschimpft, heute nur mit einer engen Hose aus Ziegenleder und einer einfachen, fast farblosen Tunika aus Leinen. Ein Gürtel ohne jedwede Zierde schlang sich um seine Taille und hielt alles zusammen. Nur ein Messer hing daran.
Wann immer Sewolt es danach verlangte, lief er in den Wald, um sich im Bogenschießen zu üben. Letztens konnte er einen kleinen Erfolg verzeichnen. Ein Hase hoppelte über die Lichtung. Sewolts Abendmahl war gesichert.
Eigentlich war er ein schlechter Bogenschütze und daher oft dem beißenden Spott seiner Gefährten ausgesetzt. Erst vor Kurzem, als der Burgherr ein Turnier veranstaltete, versagte er in dieser Disziplin. Der letzte Platz war sein, welch eine Schande für einen Ritter seines Standes.
Die Stelle, die Sewolt zum Üben auserkoren hatte, war nicht mehr weit. Schon lichtete sich der Wald ein wenig, es wurde heller, das Blätterdach durchlässiger. Mit großen Schritten lief der Ritter dem Licht entgegen. Er schlug sich durch ein letztes Gebüsch, dann stand er auf der großen vom Sonnenlicht durchfluteten Lichtung. Der Nebel hing auch hier noch tief über dem Boden und gab dem Ort etwas Mystisches. Sewolt blieb stehen und blickte über die große Wiese hinweg. Er kniff die Augen zusammen. Hatte sich dort etwas bewegt? So sehr er sich auch bemühte, es war zu weit entfernt, um Genaueres erkennen zu können.
Obwohl die Sonne inzwischen höher stand und ihr gleißendes Licht die Lichtung hell erleuchtete, lag der gegenüberliegende Waldrand im Dunkeln. Es lag wohl daran, dass Sewolt der Sonne entgegenblicken musste. Erneut gab er sich die größte Mühe, etwas zu erkennen. Es war zwecklos.
Am anderen Ende der Lichtung stand die schöne Mathilde. Ihr Herz klopfte aufgeregt, als sie den Ritter aus dem Wald treten sah. Sie hatte es geschafft, vor ihm anzukommen. Als sie ihren Geliebten die Burg verlassen sah, folgte sie ihm heimlich. Sie war neugierig, wohin er zu dieser frühen Morgenstunde ging. Wohl auf die Hasenjagd, nahm sie an, denn er trug seinen Bogen bei sich.
Nachdem Mathilde einige Zeit unbemerkt seiner Fährte folgte, erkannte sie sein Vorhaben. Bogenschießen wollte er üben. Sie erinnerte sich, dass er ihr berichtete, heimlich zu trainieren, um nicht noch einmal beim Wettkampf zu versagen. Sie kannte die Lichtung, der Sewolt zustrebte. So nahm sie einen anderen Weg und erreichte noch vor ihm den geheimen Ort.
Mathilde wollte eben auf die Wiese treten. Da sah sie, wie der Ritter aus dem Gebüsch kam und sich umblickend stehenblieb. Auch er schien von der Schönheit der morgendlichen Stimmung geblendet zu sein. Sie erkannte, wie er angestrengt in ihre Richtung schaute. Schnell zog sie sich ins Dunkle zurück. Noch durfte er sie nicht erkennen.
Obwohl ihr Leib vor Verlangen nach dem Ritter brannte und sie sich nach seinen heißen Küssen sehnte, wollte sie es ihm nicht so einfach machen. Sie zog sich noch weiter zurück, dass sie gerade noch so den Mann am anderen Ende der Lichtung erkennen konnte. Vorsichtig schlich sich Mathilde um die Lichtung herum. Fast lautlos kam sie dabei dem Ritter näher.
Sewolt rieb sich die Augen. Hatte er richtig gesehen? Nein, das konnte nicht sein! Um diese frühe Morgenstunde war die schöne Mathilde keinesfalls aufgestanden, geschweige denn im Wald. Er wusste nur zu gut, die Burgherrin schlief meist sehr viel länger als ihr Gemahl und das Gesinde, ja sogar sehr viel länger als er selbst.
Der Ritter wurde unruhig. Seine enge Ziegenlederhose gar noch enger. Ein einziger Gedanke an Mathilde genügte und sein kleiner Ritter verwandelte sich wie von Geisterhand in einen ganz großen.
Was tun? Sewolt überlegte. Eine Dirne wäre jetzt nicht übel, dachte er sich. Bis seine heimliche Geliebte für ihn bereit war, musste das genügen. Er rückte sein aufmüpfiges Gemächt zurecht. Ein klein wenig schimpfte er sogar mit ihm. Dann wollte er sich auf den Rückweg zur Burg machen. Die Übungsstunde rückte vorerst in weite Ferne.
„Wohin des Weges, edler Ritter?“, hörte er plötzlich eine spöttisch klingende, unbekannte Stimme aus dem Gebüsch.
Sewolt erschrak sich fast zu Tode. „Wer da? Zeigt Euch! Ich bin bewaffnet!“, rief er. Hastig zog er sein Messer aus der Scheide.
Ein heiseres Lachen erklang. „Ein Ritter, der sich ängstigt“, spottete die verstellte Stimme.
„Seid Manns genug und zeigt Euch“, forderte Sewolt erneut. Er trat näher an den Busch. Wieder dieses Lachen, dann ein Rascheln. Schritte entfernten sich schnell.
Na warte, dachte Sewolt und eilte hinterher. Anfangs konnte er nicht genau ausmachen in welche Richtung sich der Unbekannte entfernte. Aber dann bemerkte sein geschultes Auge, wie sich die Zweige eines Busches stark bewegten. Er schlich sich unbemerkt an. Gerade im rechten Moment. Flugs griff er zu und erwischte den Flüchtenden noch am Ärmel seiner Tunika. „Halt, hiergeblieben!“, rief Sewolt, erfreut über seinen Fang. Er drehte ihn mit dem Gesicht zu sich.
„Mathilde!“, stieß der Ritter erleichtert aus, als er seine Beute erkannte. Aber dann huschte ein breites Grinsen über sein Gesicht. „Ihr kommt mir gerade richtig“, meinte er zu seiner heimlichen Geliebten und zog sie fest an sich.
„Ja“, hauchte die schöne Mathilde, schamhaft errötend. „Ihr mir auch.“
Der weiche Waldboden wurde ihr morgendliches Liebesbett. Moos wurde ihr Kissen, auf das sie sich betteten. Als sie es endlich taten, machten sie es wie die Hasen!
© Brida Baardwijk / 07.06.2018