Irgendwo an der Nordsee anno 1612
Tief hingen graue, fast schwarze Wolken über dem Meer. Der Sturm peitschte die sonst so ruhig daliegende See, als müsse er sie für etwas bestrafen. Auf den übermannshohen Wellen schäumte die Gischt und spritzte die am Strand stehenden Personen nass.
Ein kleines, einmastiges Fischerboot tanzte auf den Wellen, als wäre es ein Ball, den Kinder zwischen sich hin- und her spielten. Das eisige Wasser schwappte an Bord und nässte die Männer, die sich auf die Abfahrt zu ihren Fanggründen vorbereiteten. Noch war das Boot am Haltepflock am Strand vertäut. Doch bald würden die fünf Männer ganz auf sich allein gestellt sein und gegen die Kräfte des Meeres ankämpfen müssen.
Ängstlich blickten ihre Frauen zu ihnen herüber, die jeden ihrer Handgriffe mit Argusaugen beobachteten. Wie jeden Morgen hatten sie auch heute die Männer an den Strand begleitet, um ihnen ihren Segen zu geben und einen guten Fang zu wünschen. Heute aber beteten sie zusätzlich noch inbrünstiger zu Gott, als an anderen Tagen. Sie wünschten sich, ihre Gatten mögen heil und gesund nach Hause zurückkommen. Nur ungern waren sie ihnen bei diesem Wetter zum Strand gefolgt. Aber vielleicht würde es das letzte Mal sein, dass sie ihre Liebsten lebend zu Gesicht bekamen.
Trotz der schlechten Bedingungen mussten die Männer hinaus. Der tägliche Fang sicherte das Überleben der Familien. Das Meer war ergiebig und hatte genug für alle. Bisher musste noch niemand Hunger erleiden. Doch der Ozean war nicht jeden Tag ruhig, sondern hatte auch eine ganz andere, sehr gefährliche Seite. So wie heute.
Frierend zogen die Frauen ihre Umhänge enger an ihren Körper und beteten. Einige still für sich allein, andere laut. Aber gegen das Tosen des Meeres kamen ihre Stimmen, die sie laut erhoben, nicht an. Der Sturm wehte die Worte davon wie leichte Fetzen Papier. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihren Gemahlen ein stilles Gebet hinterherzuschicken und auf eine gute Heimkehr zu hoffen.
Endlich waren die Ehemänner zur Abfahrt bereit. Sie lösten die Leine und griffen nach den Riemen. Heute mussten sie mit der Kraft ihrer Arme vorankommen. Ein Segel zu hissen wäre zu gefährlich. Der Mast könnte brechen und sie alle beim Einsturz in tödliche Gefahr bringen.
Die Zurückbleibenden schauten dem Boot hinterher. Einige der Frauen bekreuzigten sich nur, andere wiederrum beteten erneut laut. Doch das flaue, ungute Gefühl im Magen blieb bei allen. Noch wagten sie es nicht, nach Hause zu gehen und ihren Pflichten nachzukommen. Lieber schauten sie ihren Männern hinterher, die in dem kleinen Fischerboot der Widrigkeit des Wetters ungeschützt ausgesetzt waren.
Die Schaluppe tanzte auf den Wellen wie eine Nussschale und entfernte sich nur langsam vom Strand. Immer wieder bekam sie eine gefährliche Schlagseite, die kaum zu kontrollieren war. Sie neigte sich zur Seite, dass Wasser ins Innere des Bootes hineinschwappen konnte. Während einer der Männer das eisige Wasser immer wieder zurück ins Meer beförderte, legten sich die anderen in die Riemen. Laut schrien sie sich Befehle zu. Aber der Sturm toste so laut, dass nicht einmal der Nachbar seinen Nächsten verstehen konnte.
„Beim Klabautermann, wenn das heute mal gut geht“, brüllte einer der Ruderer, den eine über ihn hereinbrechende Welle beinahe mit in die Tiefe gezerrt hatte. Gerade noch konnte er die helfende Hand erreichen, die sich im entgegenstreckte. Sein Haar triefte vor Nässe und hing ihm in tropfenden Strähnen ins Gesicht. So wie seine Kameraden hatte auch er keinen trockenen Fetzen mehr am Leib. Alle zitterten vor Kälte, aber keiner von ihnen konnte sich umkleiden. Sie besaßen nur das, was sie am Leibe trugen.
Schon kam die nächste Welle über sie, noch sehr viel höher als die Vorherigen. Das Meer tat sich auf wie ein gieriger Schlund, der alles zu verschlingen schien. Tosend brach sie über dem kleinen Boot zusammen und begrub alles unter sich. Nur mit viel Glück gelang es ihnen, wieder den Kamm der Welle zu erreichen.
Inzwischen stand das Wasser fast bis zur Hälfte im Rumpf der Schaluppe. Zwei weitere Männer mussten dem einen helfen, damit sie nicht wie ein Stein in den Fluten versanken. Sie griffen nach den Eimern und schöpften um ihr Leben.
„Hein, wir müssen zurück“, brüllte einer ihrem Anführer zu, der sich krampfhaft am Ruder festhielt und versuchte, den Kurs zu halten. „Hein, beim Klabautermann! Lass uns umkehren!“, wurde der Anführer erneut angeschrien. „Unsere Weiber werden Witwen, unsere Kinder Waisen, wenn wir nicht baldigst an Land zurückkehren.“ Hein aber schüttelte immer wieder abweisend den Kopf. Er konnte es sich nicht leisten, auf den Tagesfang zu verzichten. Den anderen erging es wie ihm. Doch sie sahen ein, dass sie sich in großer Lebensgefahr befanden, wenn sie weiterhin auf dem Meer blieben. Ihr kleines Boot hatte nicht die kleinste Chance, dem mächtigen Sturm zu widerstehen.
„Lass uns endlich umkehren“, forderten nun auch die anderen. Sie waren mit ihren Kräften am Ende und mussten sich eingestehen, gegen die tobende See kamen sie nicht an. Aber Hein hatte kein Einsehen.
Taumelnd kam einer der Fischer auf den Anführer zu. Das stark schwankende Boot und der Sturm riss ihn fast von den Füßen. Er zerrte Hein weg vom Ruder und ergriff es selbst. Niemals würde er es zulassen, dass seine Frau um ihn weinen musste, nur weil sein Freund Hein zu geizig war, auf einen Tagesfang zu verzichten.
Aufbrausend stellte Hein sich vor seinen Widersacher. Zornig blickte er ihn an. „Du Hundsfott, elendiger“, schimpfte er und hob die Hand, um ihm die Faust ins Gesicht zu schlagen.
„Halte ein! Es bringt nichts, außer uns den Tod!“, schrien die anderen ihn an. Ein Mann an den Rudern wollte aufspringen und Hein zurückhalten. Er kannte den unbändigen Zorn des Freundes, wenn sich ihm jemand widersetzte. Da kam schon die nächste Welle und riss Hein mit sich. Während die riesige Woge den Mann von seinen Freunden fortriss, wirbelte dieser wie ein Spielball wild durch die Luft.
„Hein!“, schrien alle aufgebracht im Chor. Weit entfernt vom Boot sahen sie, wie Hein auftauchte. Er schien um Hilfe zu rufen. Seine Arme hochgerissen, versank er erneut in den Fluten.
„Wir müssen ihn retten“, riefen sie sich gegenseitig zu. Sie versuchten, das Fischerboot in die Richtung zu lenken, in der sie ihren Freund versinken sahen. Hart legten sie sich in die Riemen. Doch leider war es zwecklos. Immer wieder trieben sie ab, riesige Wellen schlugen über ihnen zusammen. Nur noch einmal konnten sie ihren Anführer sehen, dann hatte ihn das Meer verschlungen.
„Retten wir wenigstens unser Leben“, tönte der tiefe Bass eines von ihnen. Sie sahen ein, Hein war nicht mehr zu helfen. Sie konnten nichts mehr für ihn tun. Er hatte sein nasses Grab in den Tiefen des Meeres gefunden. Sie wünschten ihm einen gnädigen und schnellen Tod. Aber nun galt es, das eigene Leben zu bewahren. Hart kämpften die Verbliebenen darum.
Die Frauen standen währenddessen ungeduldig am Strand. Der heftige Orkan schien ihnen nichts auszumachen, obwohl er immer stärker an ihren Kleidern zerrte und ihnen fast die Hauben vom Kopf riss. Jedoch warten auf das Ungewisse ließ sie auch nicht ruhiger werden. Langsam gingen sie zurück zu den Häusern, die sich hinter den Dünen im Wind duckten und in denen ihre Kinder auf die Rückkehr ihrer Mütter und Väter warteten. Die reetgedeckten Dächer hingen fast bis zum Boden und schützten die, die sich im Haus befanden. Bei einigen kräuselte sich der Rauch der Herde aus der Esse und verzog sich schnell, kaum dass er aus dem Schornstein gekommen war. Auch die Frauen mussten gegen den Sturm ankämpfen, um vorwärts zu kommen. Genau wie ihre Männer waren sie bis auf die Haut durchnässt. Im Gegensatz zu ihren Gatten hatten sie festen Boden unter den Füßen und mussten nicht mit dem Tod durch Ertrinken rechnen. Nur sie waren bald im Schutze ihrer kleinen Häuser und konnten sich an den Öfen wärmen. Der Wind trieb ihnen die Tränen in die Augen. Aber nicht nur eine weinte aufgrund des Sturmes.
Völlig durchnässt kamen sie auf der Düne an, die ihre Häuser vom Strand trennte, wo sie sich von ihren Männern verabschiedet hatten. Eine von ihnen blickte ängstlich zurück.
„Schaut! Sie kommen! Sie kommen zurück!“, rief sie ihren Freundinnen zu, die sich sofort umdrehten und in die selbe Richtung schauten. Wirklich, auch sie sahen nun, wie sich das kleine Fischerboot langsam, aber stetig dem Strand näherte. Aufgeregt riefen sie durcheinander, jubelten sich einander zu. Dann liefen sie so schnell sie ihre Füße trugen, zurück an den Strand.
Mit aufgerissenen Augen blickten die Frauen dem Boot entgegen. Auch von weitem konnten sie erkennen, mit welcher Kraft ihre Männer gegen die Macht des Sturmes und der Wellen kämpfen mussten. Immer wieder wurde das Boot hochgerissen. Kurz darauf stürzte es vom Kamm der Welle zurück in die Tiefe.
Angestrengt versuchten die Frauen zu erkennen, ob die Besatzung vollständig war. Doch die aufschäumende Gischt nahm ihnen die Sicht. Sie liefen ihren Männern ein Stück entgegen. Bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehend erwarteten sie das Boot. Das Meer riss an ihnen, sie aber trotzten ihm.
Endlich war die zurückkehrende Schaluppe nahe genug, dass sie die Leinen, die die Männer ihnen immer wieder zu warfen, fangen konnten. Mit vereinten Kräften zogen sie das Fischerboot an den Strand. Lachend vor Freude fielen die Frauen ihren Ehemännern in die Arme.
Nur Greetje stand abseits und sah sich suchend um. Sie vermisste Hein, den sie nicht unter den Ankommenden erblicken konnte. Schon kamen die Freunde ihres Gatten mit ernsten Gesichtern auf sie zu.
„Hein? Wo ist Hein?“, fragte Greetje mit bebenden Lippen. Ihr Herz schlug vor Aufregung wild in ihrer Brust.
Keiner der Männer wagte es zu antworten.
„Wo ist Hein? Sagt es mir!“, schrie Greetje sie panisch an. Die Knie wurden ihr weich, dass ihr fast die Kräfte versagten und einer der Freunde hinzu sprang, um sie zu stützen. Erneut schrie Greetje die Kumpane ihres Gatten an.
„Es tut uns leid, wir konnten ihn nicht retten. Eine Welle hat ihn mit sich gerissen“, traute sich endlich einer von ihnen, ihr die Wahrheit zu sagen. Die anderen schüttelten nur traurig ihre Köpfe.
„Hein!“, kreischte Greetje entsetzt. Sie fiel auf die Knie, Tränen flossen ihr in nicht enden wollenden Strömen über die Wangen. „Hein! Hein!“, schrie sie immer wieder. Doch Hein, ihr geliebter Gatte, hörte sie schon längst nicht mehr in seinem nassen Grab. Nur die neben ihr Stehenden konnten sie hören. Der Rest ihrer Worte flog mit dem tobenden Sturm wie eine Möwe über die Weiten des Meeres.
© Brida Baardwijk / 27.08.2018