„Und hier ist König Harry Sextus, unberührt wie ein neugeborenes Lamm.“
Aus Rosenkriege 4, „Brüderschlacht“ von Conn Iggulden
Beruhend auf historischen Tatsachen, mit leichten Veränderungen und einigem, was hinzugedichtet wurde.
***
Kensington-Palast, England um 1451
Aufgeregt schritt Margaret von Anjou im Gemach ihres Gemahls auf und ab. Ihre lange Schleppe schliff, während sie ging, über den Boden. Verzweifelt sah sie dabei Master Allworthy, den Leibarzt ihres Gatten an. „Was ist nur los mit ihm?“, fragte sie.
„Mylady. Ich beteuere, ich kann es Euch nicht sagen“, erwiderte der Leibarzt. Ihm war es unverständlich, wie sein König und Herr auf einmal in solch einen Schlaf verfallen konnte und nicht wieder aufwachen wollte. Er hatte bereits alles in seiner Macht Stehende getan, um Henry VI. zum Aufwachen zu bewegen. Doch nichts half. Der König schlief.
„Was sollen wir nur tun?“ Margaret war verzweifelt. „Wenn ich doch nur endlich gesegneten Leibes wäre. Dann hätten wir eine Sorge weniger“, sie sah zu ihrem schlafenden Gatten, der wie ein Toter auf seinem Bett lag und sich nicht regte.
„Mylady, seien wir zuversichtlich. Ich hege alle Hoffnung“, versuchte Allworthy sie zu beruhigen.
Abrupt blieb die Königin stehen und drehte sich zum Leibarzt um. „Ihr habt gut Reden, Master!“, fauchte sie ihn an. „Das Wohl des Königreiches steht auf dem Spiel! Hat Henry keinen Erben, wird die Macht an die Yorks übergehen! Die Lancasters wären am Ende! Wollt Ihr das?“
Bleich im Gesicht verbeugte sich Allworthy vor seiner Herrin. „Natürlich nicht, Eure Majestät. Wie könnte ich es wollen, dass die Yorks an die Macht kommen? Es wäre Englands Ende. Henry ist der König und wird es bis an sein Lebensende bleiben. Ich verspreche Euch, ich werde alles tun, damit er wieder erwacht und sich für das Wohl Englands einsetzen kann. Dann wird es auch mit einem Erben klappen.“ Er grinste ein wenig, wohl mehr vor Verlegenheit als vor Freude.
„Was gibt es da zu schmunzeln?“, fuhr ihn Margaret aufgebracht an.
„Entschuldigt, Eure Majestät. Es ist eine ernste Sache, über die ich nicht lächeln sollte. Verzeiht!“
„Dann tut endlich etwas!“ Damit schritt Margaret von Anjou mit hoch erhobenem Haupt zur Tür, die von einem der anwesenden Diener sofort für sie geöffnet wurde.
Master Allworthy verbeugte sich tief vor seiner Königin, als diese das Gemach verließ und mit rauschenden Röcken ihr eigenes Gemach aufsuchte.
„Ihre Majestät, kann ich etwas für Euch tun?“, tief knicksend erwartete Amelié, Margaret von Anjous Zofe die Königin in ihren Gemächern. Amelié war damals, als sie nach England geschickt wurde, um Henry VI. zu heiraten, mit ihr über den Kanal gefahren. Seitdem war die Frau nicht nur Margarets Zofe, sondern auch ihre engste Vertraute, ja sogar wie eine Freundin für sie geworden.
„Danke Amelié“, erwiderte Margaret und gebot ihrer Zofe, sich zu erheben. „Du kannst jetzt gehen. Den Rest des Tages gebe ich dir zu deiner freien Verfügung.“
„Vielen Dank, Eure Majestät“, erneut wollte Amelié in einen tiefen Knicks sinken.
„Jetzt lass endlich diesen Blödsinn und geh“, hielt Magaret sie zurück. „Lass noch nach Perry schicken. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen.“
„Sehr wohl, Mylady“, antwortete Amelié noch, ehe sie das Gemach der Königin verließ.
Nachdem Amelié endlich gegangen war, ließ sich Margaret von Anjou seufzend in einer der Fensternische nieder und schaute nachdenklich auf den Fluss hinunter, der gemächlich am Schloss vorbeifloss. „Was ist nur geschehen?“, sprach sie mit sich selbst. Ihren geliebten Gemahl so sehen zu müssen, war eine Qual für sie. Henry war nie der kraftstrotzende Mann, den sie sich immer gewünscht hatte. Er war so anders als sein Großvater, Henry IV., dem nachgesagt wurde, ein großer Kriegsherr gewesen zu sein.
Wie sollte es nur weitergehen, wenn Henry trotz aller Bemühungen nicht wieder aufwachen sollte? Was wurde aus England? Den Lancasters? Der roten Rose der Lancasters? Wer würde dann König werden? Hoffentlich nicht dieser Edward, dieser Emporkömmling aus dem Hause York, das sich mit einer weißen Rose schmückte! Sie wusste, die Häuser York und Lancaster waren sich seit vielen Jahren spinnefeind und bekriegten sich auf Teufel komm raus. Jeder wollte der Stärkere sein. Doch auch nach vielen Jahren Rosenkrieg war noch kein Ende in Sicht. Niemand wollte nachgeben. Sie brauchte einen Erben für Henry. Nur wie? Wenn ihr geliebter Gemahl nur endlich aufwachen würde, dann würde es auch mit einem Erben klappen und England wäre gerettet.
Margaret erinnerte sich, wie sie vor vielen Jahren, einzig mit ihrer Zofe als Begleitung, nach England kam. Sie war ein verängstigtes Mädchen, das nicht wusste, was auf sie zukam. Und nun? Jahre später war sie zu einer reifen, selbstbewussten Frau herangewachsen. Sie war mit ihren Aufgaben als Königin gewachsen. Wenn nur ihr Vater, René von Anjou sie so sehen könnte, was aus dem kleinen, scheuen Mädchen geworden war. Sie seufzte in Erinnerung an ihren Vater und ihre Mutter, Isabella von Lothringen, die sie seit ihrer Abreise aus Frankreich nicht wiedergesehen hatte.
Erschrocken sah Margaret auf, als die Tür aufging und der Diener Master Perry meldete.
„Mylady, Eure Majestät.“ Master Perry, der beste Spion, den sie kannte, verbeugte sich tief vor seiner Königin.
„Erhebt Euch, Perry“, bat Margaret und trat auf den Mann zu. Sie hielt ihm ihre Hand hin, die er zur Begrüßung küsste.
„Ihr ließet mich rufen, Margaret. Ich eilte zu Euch, so schnell ich konnte“, begann Perry. Die vertrauliche Anrede nutzten Margaret und Perry nur, wenn sie allein waren.
„Ja, mein lieber Perry“, erwiderte Margaret. „Ich mache mir große Sorgen um meinen Gemahl und um England. Ich weiß weder ein noch aus. Helft mir, ich bitte Euch.“ Sie sah Perry verzweifelt an, in ihren Augen standen Tränen, die von ihrem Leid um ihren geliebten Gatten zeugten.
„Ich hörte von diesem schlimmen Unglück“, entgegnete der Meisterspion mit aufrichtigem Mitleid. „Henry ist mein bester Freund, seit vielen Jahren schon. Ihn so sehen zu müssen, schmerzt mich sehr.“
„Was sollen wir nur tun?“, rief Margaret verzweifelt und stampfte mit dem Fuß auf. Ihr französisches Temperament kam ungehindert zum Vorschein. Die ganze Zeit hatte sie versucht, es zu unterdrücken, es nicht nach außen dringen zu lassen. Einer Königin geziemte es sich nicht, sich gehen zu lassen. Doch nun konnte sie es nicht mehr beiseite drängen.
„Uns bleibt nur hoffen und beten“, sagte Perry mit Wehmut. „Wir müssen hoffen. Für England, für Henry, für Euch, meine Liebe.“
„Wenn alles nur so leicht wäre“, seufzte die Königin. „Es ist zum Verzweifeln. Es ist so grausam, ihn so sehen zu müssen. So hilflos wie ein neugeborenes Kind. Den Feinden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Was ist, wenn die Yorks die Initiative ergreifen und einen der Ihren zum König ernennen? Ich könnte es nicht ertragen, die rote Rose der Lancasters untergehen und die weiße Rose der Yorks erblühen zu sehen.“
„Verlieren wir die Hoffnung nicht. Wir werden zu verhindern wissen, dass die Yorks an die Macht kommen“, sprach Perry beruhigend auf Margaret ein. „Niemals dürfen wir dies tun. Versteht Ihr, Margaret! Ich werde immer an Eurer Seite stehen, genauso wie ich immer bei Henry getan habe und auch weiterhin tun werde. Bei meiner unsterblichen Seele, das schwöre ich Euch.“
„Ach, mein lieber Perry“, Margaret sah den Spion an und lächelte, zum ersten Mal seit langer Zeit. „Ihr seid immer so erfrischend und aufmunternd. Wenn ich Euch nicht hätte.“
Um 1470, Tower of London, England
Die Schlacht von St. Albans war längst geschlagen, die meisten Feinde des Königs lagen in ihren Gräbern und verrotteten. Tote Leiber, eng nebeneinander in einem riesigen Massengrab. Anonym, ohne Hinweis darauf, wer dort ruhte. Neue Saat war darüber aufgegangen, Gras des Vergessens machte sich breit und gewann die Oberhand. Vergessen sollten sie alle sein, die, die gegen Henry VI. das Schwert erhoben. Vergessen für immer und ewig in die Hölle verbannt, aus der sie kamen, das Land überrannten, Tod und Verzweiflung brachten und Henry das Leben schwer machten.
Doch um dem König stand es nicht gut. Die lange Gefangenschaft machte ihm zu schaffen. Edward Plantagenet, der unrechtmäßige König aus dem Hause York, hatte ihm übel mitgespielt. Jahrelang war Henry in dessen Kerker eingesperrt gewesen, ehe es Richard Neville, dem Earl of Warwick und Master Perry endlich gelungen war, ihn aus Edwards Händen zu befreien. Dabei ging es so einfach, wie es sich niemand erhofft hatte. Seine Freunde spazierten am Rande einer Schlacht einfach in Henrys Versteck und nahmen ihn mit. Niemand leistete Widerstand, nicht einmal seine Bewacher rührten eine Hand. Wohl waren sie froh, ihn, Henry VI., den Klotz am Bein, endlich los zu sein. Dabei war er ein genügsamer Gefangener, der nie Forderungen stellte. Ein paar Bücher und seelischer Beistand gereichten ihm vollends.
Wenn nur Margaret hier wäre und seinen Triumph, endlich frei zu sein, miterleben könnte. Lächelnd erinnerte sich Henry an seine Gemahlin, die die ganzen Jahre an ihn geglaubt hatte. Ihn, dieses seelische Wrack, dem es eigentlich nicht mehr vergönnt sein sollte, am Leben zu bleiben. Wie wundervoll war es, als sie ihm beichtete, gesegneten Leibes zu sein. Endlich konnte er Vater werden. Er, der König, der unbedingt einen Erben für seinen Thron brauchte. Und seine Margaret machte ihm ein wundervolles Geschenk. Sie gebar ihm einen großartigen Sohn, Eduard, den Prince of Wales.
Was Margaret jetzt wohl tat? Wie ging es ihr? Und seinem Sohn, der inzwischen neunzehn Jahre alt war. War dieser zu einem prächtigen Mann herangewachsen? Ein Krieger, voller Mannesstolz, treu dem Vater und Englands? Wie lange hatte Henry seinen Stammhalter nicht gesehen? Er wusste es nicht mehr. Eduard war mit seiner Mutter nach Frankreich geflüchtet. Margaret verließ England, um den Prinzen von Wales zu retten. Hätte es Henrys Gemahlin nicht gegeben, dann gäbe es jetzt keinen Thronerben mehr und er, Henry VI., wäre ein verlorener Mann. Obwohl ihm Margaret fast fremd war, wusste er, sie stand die ganzen Jahre hinter ihm. Regierte für ihn, wenn er wieder einmal in diesen verflixten Schlaf gefallen war. Oder er nicht Herr seiner Sinne war und keine Entscheidung treffen konnte. Die Königin war eine gute Herrscherin, die wusste, was sie wann tun musste. Sie war so anders als diese Hure Elisabeth Woodwill, die sich Edward Plantagenet an den Hals geworfen hatte und diesem nun ein Kind nach dem anderen gebar. Wie eine läufige Hündin benahm sie sich. Verächtlich schnaufte Henry und spuckte aus. Er hasste sie, diese Elisabeth Woodwill, er hasste sie mehr als die Pest, die Jahr für Jahr London heimsuchte.
Grinsend dachte Henry an die Berichte seiner Garde, die die Gemahlin des verabscheuten Edward Plantagenet verfolgten, als sie hochschwanger, samt ihrer Bastarde und ihrer Mutter, ins Kirchenasyl in die Westminster Abbey flüchtete, um einer Verhaftung zu entgehen. Derweil ihr Gemahl, dieser verhasste York, in Henrys Kerker schmachtete. Laut Berichten, die aus dem Asyl drangen, gebar sie kurz darauf Edwards nächstes Kind. Ein Sohn sollte es sein. Henry grunzte verächtlich. Dieses verflixte Kirchenasyl. Gäbe es dieses nicht, hinge die Woodwill längst vermodernd am Galgen.
Trotz all des Erfolgs nach seiner Befreiung war Henry nicht zufrieden. Er fühlte sich ausgelaugt. Diese ständigen Zurschaustellungen nervten und ermüdeten ihn. Viel lieber kniete er in der Abbey und betete zu seinem Gott, dem er sich noch näher fühlte als seiner Gemahlin. Doch Richard Neville, Earl of Warwick bestand darauf, sich dem Volk zu zeigen. Das müsse sehen, dass er, Henry, im vollen Besitz seiner Kräfte war und seine Inhaftierung gut überstanden hatte. Sie müssten den Unkenrufen, er wäre nicht Herr seiner Sinne und ein körperliches Wrack, entgegengehen.
Henry war müde, lebensmüde. Er wollte nicht mehr. Wenn sie ihn doch einfach nur einschlafen lassen würden. Dann hätte er endlich alles hinter sich. Seufzend strich er sich über das Gesicht. In wenigen Stunden musste er sich schon wieder dem Volk präsentieren. Dieses Mal von der Mauer des Towers herab. Der gemeine Mob würde ihm zujubeln, wie er dies immer tat. Die Schreie würden in seinen Ohren schallen und ihm Kopfschmerzen verursachen. Er griff sich an die Stirn, hinter der es verdächtig zu pochen begann.
Der Earl of Warwick würde ihn ermuntern, den Menschen am Fuße der Mauer zuzuwinken. Und Perry, der gute alte Perry, genau wie er in die Jahre gekommen und mit grauem Haupt, neben ihm, ihn stützend und gut zuredend.
Laut jubelte die Einwohner Londons ihrem König zu, der hoch oben auf der Mauer des Towers stand und hinunterschaute. Henry VI. zwang sich zu lächeln und den Arm zum Gruße zu heben. Er tat sich schwer in der glänzenden Rüstung, die ihn an allen möglichen und unmöglichen Stellen seines Körpers zwickte und ihn zwang, aufrecht zu stehen. Jeder Knochen schmerzte ihn, wenn er sie tragen musste. Doch Richard Neville bestand darauf. Die Rüstung würde die Macht demonstrieren, die er, Henry VI. über sein Volk hatte. Er wollte die Herrschaft über England längst nicht mehr. Sie engte ihn ein, machte ihm unsägliche Angst.
„Lächeln und winken, Majestät“, ermahnte ihn der Earl of Warwick, der neben ihm stand und die Menge betrachtete, die sich am Tower versammelt hatte.
„Lasst mich einfach in Ruhe“, schnauzte Henry den Earl an. „Ich will wieder in mein Gemach und mich meinen Gebeten widmen.“
„Noch ein wenig Geduld, Henry“, hörte er Perrys leise und beruhigende Stimme neben sich. Der Spion war zu ihm getreten und ermunterte ihn.
„Ach, mein lieber Perry“, erwiderte Henry. Ein Versuch, seinen längsten und besten Freund anzulächeln, misslang kläglich.
„Ich bin bei Euch, direkt hinter Euch“, beteuerte Perry und trat von der Mauer zurück in die Nähe der Treppe, die er eben keuchend und nach Luft ringend heraufgestiegen kam. Auch Perry fühlte sich müde und ermattet. Die Jahre des Kampfes gegen die Yorks hatten ihn vorzeitig altern lassen. Sein Auge, das ihm seine Feinde herausgestochen hatten, juckte unsäglich und bereitete ihm tagtäglich mehr Qualen. Die Augenklappe aus weichem Leder verdeckte es, was ihm ein verwegenes Aussehen gab, das ihn trotz seines fortgeschrittenen Alters bei den Frauen interessant machte. Seine Haare waren an den Stellen, an denen das Lederband die Augenklappe hielt, bereits abgescheuert. Er hasste es, so kahl zu sein und auszusehen wie ein Vagabund. Viel lieber war ihm sein volles Haar. Leider war das längst Vergangenheit.
„Nun, Master Perry. Habt ihr es nun auch geschafft, die steilen Stufen die Mauer zu erklimmen?“ Die Stimme des Earl of Warwick klang verächtlich, genauso verächtlich, wie er den besten Freund des Königs und besten Spion Englands nun ansah.
„Der Earl of Warwick, welch eine Freude, Euch hier oben zu begegnen! Ihr habt mir heute gerade noch gefehlt“, erwiderte Perry, ebenso sarkastisch wie der Earl. „Wenn ich Euch nicht hätte, wären meine alten Tage nur halb so schön.“ Am liebsten hätte er den Earl über die Mauer in die Tiefe gestürzt. Doch das konnte er vor den Augen des Königs natürlich nicht tun.
„Das ist doch wohl…“, brauste Richard Neville, Earl of Warwick auf.
„Aber, aber. Wer wird sich denn so aufregen. Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es wieder heraus. Also immer mit der Ruhe, mein lieber Earl“, entgegnete der Spion, süffisant lächelnd.
„Ihr seid…!“ Richard Neville fehlten die Worte. Wie konnte es der impertinente Kerl nur wagen, mit solchen Worten zu ihm zu sprechen. Eben wollte er etwas erwidern, doch Master Perry gebot ihm Einhalt.
„Frieden, lieber Richard. Henry zuliebe.“
Perry wandte sich Henry zu, der von dem heftigen Wortwechsel nicht bemerkt hatte. „Seht doch, wie Unsere Majestät dort steht. Ist es nicht eine Augenweide?“
„Er ist alt geworden“, erwähnte Perry wie nebenbei.
„Wie wir alle!“, schlussfolgerte Richard.
„Wie wir alle, Ihr, ich… ich besonders“, erwiderte der Spion und kratzte sich an einer kahlen Stelle am Kopf.
„Wie das Leiden Christi seht Ihr nicht gerade aus“, konterte Warwick.
„Was soll das heißen?“ Perry fuhr hoch. Dieser aufgeblasene Earl! „Schaut mich doch an. Steif mein Bein, dank diesem Edward. Mein Auge, dabei sah ich einst wie ein Adler. Heute bin ich nur noch blind wie ein Huhn.“ Er starrte mit seinem einem Auge den Earl an. „Ihr aber, lieber Earl. Ihr steht in der Blüte Eures Lebens! Ihr müsst nicht klagen.“
Verächtlich blickte Richard den vom Alter gebeugten Mann neben sich an. Am liebsten hätte er diesen niedergeschlagen. Doch im Beisein des Königs durfte er sich dies nicht erlauben. Niemals durfte dieser erfahren, wie spinnefeind sich sein Berater und sein bester Freund waren.
Auch Master Perry zuckte es in der Hand, die sich um den Knauf seines Stockes krümmte. Die Haut über den Fingerknochen wurde weiß vor Anstrengung. Wie gerne hätte er seine Gehhilfe als Waffe benutzt, wie er es bereits oft getan hatte und damit so manchen Feind in die Flucht geschlagen hatte. Dass sein Stock mit Bleikugeln beschwert war, wusste niemand und erschreckte viele, die damit beim Kampf in Berührung kamen. Perry grinste, wenn er an die Hasenfüße dachte, denen er damit bereits das Rennen gelehrt hatte. Ob Warwick genauso erstaunt wäre, wenn er sich damit gegen ihn wehren würde? Er sah den Earl an. Groß, stolz, jung und vor Kraft strotzend. Aber dann wandte er sich wieder dem König zu, dem man ansehen konnte, welch Kraft er benötigte, um dieser obskuren Zurschaustellung zu genügen.
„Wisst Ihr noch“, wandte sich Perry erneut dem Earl zu. „Vor vielen Jahren, zu Zeiten Jack Cades, ereignete sich an dieser Stelle viel Schlimmeres. Die armen Leute, die der Sergeant des Towers mit griechischem Feuer übergießen ließ. Ich höre heute noch die Schreie der Verwundeten, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannten, den heißen Atem des Feuers einatmeten, bis ihre Lungen versagten und sie unter fürchterlichen Qualen starben. Zum Glück hat es dieser verhasste Sergeant nicht überlebt, als sich das Volk an ihm rächte. Seine Leute mochten diesen Sklaventreiber wohl auch nicht besonders, wenn sie dem Volk freiwillig die Tore öffneten, damit es den Tower stürmen konnte.“
„Wie sentimental Ihr heute wieder seid“, meinte der Earl sarkastisch, sprang aber dann auf den König zu, der sich strauchelnd an der Zinne der Mauer festhielt. Auch Perry eilte hinzu und beruhigte Henry. „Noch ein wenig, Majestät.“
Henry knurrte nur unverständliche Worte. Dann straffte er sich und trat erneut an die Zinnen, um sich seinem Volk zu zeigen.
Nachdem sich Warwick und Perry erneut zurückgezogen hatten, beobachteten sie Henry VI. mit Argusaugen. Solch ein Fauxpas durfte nicht noch einmal geschehen. Das Volk durfte nicht bemerken, wie es um seinen König stand.
„Und hier ist König Harry Sextus, unberührt wie ein neugeborenes Lamm“, sagte Perry auf einmal.
„Was meint Ihr damit, Master Perry“, fragte Warwick erstaunt, der den Sinn der Worte des Spions nicht verstand.
„Seht Ihr nicht, Earl, wie müde unser König ist“, erwiderte Perry. „Er ist müde, vom Leben, vom ewigen Kampf. Doch nein! Unbeschadet wie ein neugeborenes Lamm ist er keineswegs. Ich erinnere mich an eine Verletzung. Die erhielt er auf dem Hügel von St. Albans, wisst Ihr es noch, Mylord?“
Warwick starrte den neben ihm stehenden Mann an.
„St. Albans, ja, Ihr könnt Euch natürlich nicht erinnern. Doch Euer Vater. Der Tag, an dem Henry VI. nach der verlorenen Schlacht, verletzt von seinen Feinden im Kirchenasyl gefangen genommen wurde. Der Tag, an dem ein langes Leiden in Gefangenschaft begann und seine Gemahlin, Margaret von Anjou auf sich allein gestellt war und sich den vielen Lords und Earls in der Regierung ohne jedwede Hilfe stellen musste. Doch sie tat es gern, ihrem geliebten Henry zuliebe.“
„Ihr meint, es wäre besser gewesen, Henry wäre an diesem Tag gestorben?“
Perry nickte nur darauf. Seine Augen wurden wässrig, als er an diesen schrecklichen Tag denken musste, an dem er nichts für seinen König tun konnte.
„Das ist Blasphemie!“, begehrte sich Warwick auf.
„Ich weiß, Mylord“, erwiderte Master Perry. „Doch zum Wohle Henrys, Englands und des Volkes müssen wir jetzt stark sein. Für unseren König, der uns dringender braucht als manch anderer von uns.“
Perry wandte sich ab und stieg die steilen Stufen hinab in den Hof des Towers, von wo aus er sich in seine Kammer begab. Zurück ließ er einen erstaunten Earl of Warwick, der die Welt nicht mehr verstand und König Henry VI., der den Wortwechsel seiner beiden Gefährten nicht bemerkt hatte.
Henry VI., König von England, starb am 21. Mai 1471 als Gefangener in den Mauern des Towers. Angeblich ermordet von Anhängern Edward Plantagenets.
© Brida Baardwijk / 16.08.2021