Die Prozession begann am Rathaus, wo kurz vorher Sybilles Gerichtsverhandlung stattfand. Der kleine Platz war so voll, dass kaum ein Vorankommen war. Die Büttel mit ihren Piken hielten die Leute auf Abstand, sonst wäre die an den Händen gefesselte Frau vom Mob erschlagen worden.
„Brennen soll sie!“, „Die wird nicht die Einzige sein!“, „Teufelsbuhle!“, „Hexe!“, war von einigen der Frauen in den vorderen Reihe zu hören. Sie ballten die Fäuste in Richtung der verängstigten Gefangenen.
„Beiseite!“, schrie einer der Landsknechte und machte Platz für die Gerichtsherren. Die gingen voran, gefolgt von den Ratsherren. Danach stach die riesige Gestalt des Henkers heraus, der jetzt den Strick, mit dem die Gefangene gefesselt war, in den Händen hielt.
„Komm Frau“, befahl der Scharfrichter und schloss sich der Obrigkeit an. Neben ihm schritt der Pfarrer ins Gebet vertieft.
Mit hängendem Kopf folgte Sybille ihnen. Ihr Herz schlug vor Aufregung wie wild in ihrer Brust. Bald schon würde ihr Leben ein Ende haben und damit ihr Leiden. Sybille war noch keine dreißig Jahre, Hebamme in der Stadt und stets angesehen. So mancher Schwangeren half sie, ihr Kind auf die Welt zu bringen, viele überlebten, einige nicht. Doch als Frau und Kind eines Ratsherrn unter der Geburt starben und deren Magd aussagte, Sybille hätte sie mutwillig getötet, war es um sie geschehen. Der hohe Herr ließ die Büttel holen und die Hebamme landete im Gefängnis.
Ein rohes Ei traf Sybille am Kopf. Eigelb und Dotter liefen ihr übers Gesicht. Doch es kümmerte sie nicht. Ein fauler Apfel flog. Auch das ließ Sybille über sich ergehen. Was waren diese Qualen gegen die, die sie im Folterkeller über sich ergehen lassen musste. Sogar die hochnotpeinliche Befragung durch den Henker und dessen Gesellen hatte die Wehmutter nicht dazu gebracht, die angebliche Untat zu gestehen. Sie wusste, sie war unschuldig. Dass die Frau und das Kind starben, lag nicht in ihrem Ermessen. Sie hatte getan, was sie konnte, um beider Leben zu retten. Mochten alle anderen denken, was sie wollten, sie wusste es besser.
Vor der Stadt angekommen, sah Sybille schon von weitem den riesigen Scheiterhaufen. Dort also würde sie ihr Leben aushauchen. Sie verspürte keine Angst. Ihr Gewissen war rein, nicht wie das ihrer Peiniger.
Gelassen erklomm die wenigen Stufen auf das Podest und blickte sich um. Die Menge johlte, schrie, jubelte…
Hinter ihr stieg der Henker nach oben, die rote Kapuze leuchtete weithin. Er band Sybille an den Pfahl. Jetzt zitterte sie, aber dann dachte sie: „Bald ist es vorbei.“
„Verbrennt sie! Verbrennt sie!“, johlten die Leute.
Auf Geheiß des Richters war plötzlich Ruhe. Er verlas noch einmal das Urteil. Dann gab er dem Henker das Zeichen, seine Arbeit zu beginnen.
Schnell verbreitete sich der Rauch, die Flammen züngelten nach Sybilles Füßen. Wie beseelt schaute sie über die Menschenmenge, die sich um den Scheiterhaufen versammelt hatte und ihren Tod bejubelte. Trotz immenser Schmerzen blieb sie ruhig. Aber dann schrie sie sich die Seele aus dem Leib.
„Endlich brennt die Hexe, die Teufelsbuhle und Mörderin“, hörte Sybille als letztes, ehe der Rauch ihr gänzlich die Sinne nahm und sie daran erstickte.
© Brida Baardwijk / 29.11.2022