Dresden um 1710
Die Schänke, in der sich Merten und Lorenz treffen wollten, lag etwas abseits in einer kleinen Gasse in der Nähe der Ratsfronfeste, dem berüchtigten Henkersviertel von Dresden. Leute, die nichts zu verbergen und eine reine Weste hatten, ließen diese Gegend lieber links liegen. Wer wollte schon etwas mit Dieben, Halunken, oder auch mit dem Henker und seinen Knechten zu tun haben. Doch den beiden Freunden war dies einerlei. Außer ihrem armseligen Leben hatten sie nichts zu verlieren.
Die zwei Freunde Lorenz und Merten waren arme, zerlumpte Gauner, die nichts weiter besaßen als das, was sie am Körper trugen. Sie schlugen sich mehr schlecht als recht durchs Leben und lebten lediglich von der Hand in den Mund. Ab und an konnten sie ein paar Münzen erbetteln, von denen sie sich einen Kanten Brot oder einen Krug Bier leisteten. Meist aber hielten sie sich mit kleinen Diebstählen über Wasser und mussten jederzeit damit rechnen, bei einer ihrer Diebestouren ertappt zu werden. Dann kämen sie dem Henker näher als ihnen lieb war. Aber daran war dann auch nichts mehr zu ändern. Um sie würde niemand weinen.
Als Merten die Schänke betrat, schlug ihm saurer Biergeruch und bissiger Rauch entgegen. Die tiefhängende Decke der Kaschemme war geschwärzt vom Ruß der offenen Feuerstelle. An einem Dreibein hing ein riesiger Kessel mit Krautsuppe, dessen würziger Duft Mertens Magen knurren ließ. Er hatte an diesem Tag seitdem Morgenessen, das aus ein wenig Milchsuppe mit Brot bestand, noch nichts zu sich genommen. Das Hungergefühl schob er allerdings erst einmal beiseite. Zuerst musste er mit Lorenz sprechen, der ihn heute in seinem ärmlichen Unterschlupf aufgesucht und gebeten hatte, ihn am Abend in dieser Schänke zu treffen. Er hätte etwas sehr Wichtiges mit ihm zu besprechen. Lorenz tat geheimnisvoll, war aber zu keiner weiteren Aussage zu überreden. Nun war Merten gespannt, was sein Kumpan von ihm wollte.
Merten schaute sich suchend um und erblickte Lorenz an einem der Tische in der hintersten Ecke. Mit langen Schritten durchquerte der Mann die Schankstube und schob dabei eine der Huren beiseite, die sich sofort an seine Fersen geheftet hatte. Mit lüsternem Blick schaute sie den Freier in Spe an. „Lass mir meine Ruhe, ich habe jetzt keine Zeit für solche Mätzchen“, fuhr Merten die vollbusige und leicht bekleidete Frau an. Ihr Ausschnitt war so groß, dass ihre riesigen Brüste beinahe aus dem eng geschnallten Mieder vor seine Füße fielen. Normalerweise sprach er auf solche Reize an. Heute aber wollte er zuallererst die Neuigkeiten aus Lorenz herausquetschen. „Weg mit dir“, fuhr Merten die Frau erneut an, als die sich trotz seines grimmigen Blicks nicht abwimmeln lassen wollte. Erst jetzt verzog sie sich schmollend in Richtung Tür, wo eben ein neuer Gast eintrat.
Lorenz bemerkte seinen Kumpan erst, als dieser sich neben ihn auf die harte Bank fallen ließ. Mit glasigen Augen schaute er ihn an. Er schien bereits mehrere Krüge Bier getrunken zu haben, ehe Merten eintraf. Daher nahm Merten an, nicht besonders viel erfahren zu können. Doch falsch gedacht. Lorenz war nüchterner als gedacht.
„Bring noch zwei Krüge Bier“, rief Merten dem Schankwirt zu, der von seinem Tresen aus ungeduldig in ihre Richtung schaute. Der dicke Wirt mit seinem vor Fett triefenden Hemd und der schmutzigen Schürze wälzte sich durch die Menge der Gäste, stellte die beiden Krüge vor die Freunde und blickte Merten auffordernd an. Merten verstand und knallte seine letzte Münze auf die speckige Tischplatte. „Bring uns später noch Suppe und Brot. Das Geld müsste dafür genügen“, befahl er dem Wirt barsch und wedelte dann mit der Hand, um den neugierigen Kerl zu verscheuchen.
„Nun lass mich nicht so schmoren. Was tust du so geheimnisvoll?“, fragte Merten Lorenz, nachdem der Wirt endlich gegangen war, um sich um andere Gäste zu kümmern. Eine Magd brachte noch die Suppe und das Brot. Das Essen blieb aber vorerst unberührt. Zu groß war Mertens Neugierde.
Lorenz schaute hoch und grinste. „Was würdest du sagen, wenn wir bald ausgesorgt hätten?“, meinte er wie nebenbei. Dabei kratzte er sich mit seinem Messer den Dreck unter den Fingernägeln hervor.
„Das wäre nicht schlecht, endlich keine Hungerleider mehr zu sein“, erwiderte Merten. „Jeden Tag Wein, Weib und Gesang und stets genügend Kleingeld in der Tasche.“ Merten war Feuer und Flamme. „Nur, wie sollen wir an so viel Geld kommen?“, wollte er dann wissen. Seine Gedanken kreisten um Lorenz Idee, die ihm noch nicht schlüssig war.
„Ich habe einen guten Tipp bekommen, wie wir ganz schnell reich werden können“, flüsterte Lorenz ihm zu. Er sprach so leise, dass Merten sich Mühe geben musste, um alles zu verstehen.
„Ist der Hinweis sicher?“, fragte Merten.
„Natürlich. Sonst würde ich es dir nicht sagen.“
„Erzähl.“ Merten rutschte auf dem Hosenboden wie auf heißen Kohlen.
„Im Schloss habe ich einen Freund. Der gab mir den Wink“, begann Lorenz, sah sich um und schob sich noch ein wenig näher an seinen Kumpan heran. „Ich kenne dort jemanden, der mir ab und an mal Reste aus der Küche aus dem Schloss geschmuggelt hat. Sonst wäre ich im Winter bereits verhungert.“
Merten rutschte noch unruhiger auf der Bank herum. „Nun spann mich nicht so auf die Folter“, knurrte er Lorenz ungeduldig an.
Der schaute sich erneut um. „Das bleibt aber unter uns. Ich habe keine Lust zum Teilen“, forderte Lorenz, worauf Merten zustimmend nickte.
„Aber ganz von vorn. Du hast bestimmt von diesem Johann Friedrich Böttger gehört?“, tat Lorenz erneut geheimnisvoll.
„Der sitzt doch irgendwo in Haft und der Preußenkönig will ihm an den Hals“, wusste Merten.
Lorenz grinste. „Nicht mehr. Unser Kurfürst hat ihn befreien lassen und soll ihn hier in seinem Schloss versteckt halten. Mein Freund sagte mir, er wurde ganz heimlich nachts durch einen verborgenen Geheimgang ins Schloss geschmuggelt. Niemand durfte etwas davon erfahren. Nur die Dienstboten, die ihn mit seinen Mahlzeiten versorgen, wissen von seiner Anwesenheit.“
„Was du nicht sagst!“ Merten war baff. „Was will unser August von Böttger?“
„Na was schon? Gold soll er ihm machen. Angeblich ist dieser Böttger im Besitz des Steins der Weisen, mit dem er aus jedem x-beliebigen Metall Gold machen kann. August braucht mal wieder Geld. Man munkelt, die Staatskasse sei leer, die Schweden würden wohl demnächst in Polen einrücken und ihm Warschau streitig machen. Seine Mätressen kosten auch.“
„Was du so alles weißt!“ Merten bekam bei dem Gehörten große Augen.
„Mein Freund Tilman ist halt ein altes Plappermaul. Er kann nichts für sich behalten. Da erfahre ich manchmal Dinge, die eigentlich nicht für meine Ohren bestimmt sind. So wie das mit dem Böttger“, erwiderte Lorenz stolz.
„Bist du dir sicher, dass er dir dein Freund keinen Bären aufgebunden hat?“
„Tilman doch nicht!“, brauste Lorenz auf. „Er meinte, der Böttger solle noch in dieser Woche beginnen, das Gold zu machen. In spätestens zwei Wochen wäre so viel davon da, dass eine fehlende Kiste nicht auffällt.“ Er schaute Merten nochmals fragend an. „Komm, schlag ein! Es stehen uns gute Zeiten bevor.“
Merten konnte nicht anders, er musste auf den Handel eingehen.
In völliger Finsternis stolperten Lorenz und Merten mehr durch den Wald als sie gingen. Heute war die Nacht, in der sich ihr Leben von Grund auf ändern würde. Die beiden trugen nur Säcke mit sich, in denen sie später ihre reiche Beute verstauen und wegtragen wollten.
„Wir werden uns noch den Hals brechen in dieser Dunkelheit. Die Laternen anzuzünden, würde uns garantiert helfen, schneller voran zu kommen.“ Merten schimpfte leise vor sich hin, als er zum wiederholten Male mit dem Fuß gegen eine Wurzel stieß und beinahe gestürzt wäre.
„Bist du wahnsinnig? Wir könnten gesehen werden!“, knurrte Lorenz, der einige Schritte vor Merten lief und genau wie sein Freund bereits mehrmals fast der Länge nach hingefallen wäre.
„Ich habe doch recht! So düster, wie es hier ist, werden wir den Eingang zum Schwarzen Gang niemals finden“, erwiderte Merten.
„Es ist nicht mehr weit. Mein Freund hat mir genau erklärt, wie ich ihn finden kann“, versprach Lorenz. „Nur noch bis dort hinten und wir sind angekommen. Tilman wartet dort auf uns. Wenn wir im Gang sind, können wir die Laternen anzünden.“
Ganz geheuer fühlte sich Merten plötzlich nicht mehr. Was, wenn Tilman sie in eine Falle lockte, die Wachen des Kurfürsten sie erwarteten und sie in den Kerker warfen? Was ihnen dann blühte, wollte Merten sich lieber nicht ausmalen. Er kannte Meister Hans, den Henker, der gegenüber schuldigen Delinquenten kein Erbarmen hatte. „Wie lange denn noch?“, maulte Merten erneut.
„Gleich dort“, antwortete Lorenz und zeigte auf einen imaginären Punkt, den Merten in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. „Tilman scheint schon am Treffpunkt zu sein. Ich sehe einen kleinen Lichtschein“, sagte Lorenz noch.
Merten starrte nochmals in die gezeigte Richtung. Und siehe da, nun sah er es auch. Am Eingang des Ganges konnte er im schwachen Licht einer Lampe eine Person sehen, die sich ungeduldig umblickte. Sie hatte eine Laterne in der Hand, als wolle sie ihnen damit den Weg weisen. Allerdings zog sich die Gestalt etwas tiefer in den Gang zurück, um nicht von ungewollten Zuschauern entdeckt werden zu können.
Schon brachen Lorenz und Merten aus dem Wäldchen auf einen winzigen Pfad, der direkt zum versteckt liegenden Eingang des Schwarzen Ganges führte. Ungeübte Augen könnten den Weg für einen Wildwechsel halten, so dicht standen die Büsche, die ihn säumten, nebeneinander. „Kein Wunder, dass der Geheimgang immer noch geheim ist“, dachte sich Merten. „Der Großvater des Kurfürsten wird sich schon etwas dabei gedacht haben, als er den Zugang anlegen ließ.“
Mühsam quetschten sich die beiden Freunde zwischen den Büschen hindurch. Dürre Hagebuttenranken rissen ihnen Löcher in Hemd und Hose. Doch die Zwei ließen sich davon nicht von ihrem Weg abbringen. Dann endlich hatten sie es geschafft.
„Tilman, bist du da? Ich bin es, Lorenz“, gab sich Mertens Kumpan zu erkennen.
Der schwache Lichtschein, den sie vorher bereits bemerkt hatten, bewegte sich. Er wurde heller und kam in ihre Richtung. Wenig später trat ein dunkel gekleideter Mann aus dem Gang. „Da bist du ja endlich. Ich habe mir schon die Beine in den Bauch gestanden“, nörgelte der Diener und hielt seine Laterne höher, um Merten ins Gesicht zu leuchten. „Wen hast du hier angeschleppt?“, fragte er Lorenz barsch.
„Ich hatte dir doch bereits gesagt, dass ich noch jemanden mitbringe“, erwiderte Lorenz. „Das ist mein bester Freund Merten.“
„Ich hoffe, er hält dicht“, murrte Tilman.
„Was denkst du! Mit Merten kann man Pferde stehlen“, antwortete Lorenz entrüstet.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“, sagte Tilman darauf. „Nun kommt. Wir müssen uns beeilen, dass wir vor der Wachablösung um Mitternacht aus der Schatzkammer heraus sind.“ Er hatte noch einen anderen Grund, so zeitig wie möglich die Schatzkammer zu verlassen. Die Wachen kontrollierten um Mitternacht immer, ob an der Tür alles unversehrt war. Sollten die Eindringlinge dann noch am Ort sein, wäre das ihr Ende. Doch das behielt Tilman lieber für sich.
Merten und Lorenz zündeten noch ihre Laternen an und folgten dann den davoneilenden Diener in den Schwarzen Gang.
„Es ist wirklich unheimlich hier drinnen“, stellte Merten fest. Der Schwarze Gang machte seinem Namen alle Ehre. Die Wände und die Decke waren mit dicken Bohlen abgestützt. Der Boden war aus festgestampftem Lehm, der durch das von der Decke herabtropfende Wasser durchnässt und dementsprechend glitschig war. An einigen Stellen hatten sich Pfützen gebildet, die sie nicht umrunden konnten. Der Gang war zu eng. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als durch die Wasserlachen zu gehen oder darüber hinweg zu springen.
„Wenn wir uns verlaufen, finden wir nie wieder ans Tageslicht“, stellte Lorenz fest. „He, Tilman, lass uns hier ja nicht allein“, rief er dem Diener noch zu.
„Bist du ein ängstliches Waschweib oder ein echter Kerl?“, sagte Tilman darauf lachend. „Was mir eben einfällt“, sagte er auf einmal, blieb stehen und drehte sich zu den Freunden um.
Lorenz wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen. „Was denn? Ich dachte, wir sind uns einig“, wollte er wissen.
„Nur eines haben wir noch nicht besprochen“, erklärte Tilman. Lorenz sah ihn fragend an. „Mein Anteil an der Beute“, sprach der Diener nun weiter.
„Dein Anteil? Ich dachte, den nimmst du dir aus einer der anderen Truhen“, erwiderte Lorenz.
Tilman riss die Augen auf. „Was denkst du von mir? Ich habe dir den Tipp mit dem Gold gegeben, also musst du mich auch bezahlen! Oder willst du mich leer ausgehen lassen. Nie hätte ich gedacht, dass du so ein Lump bist.“
„In den Truhen des Kurfürsten ist doch genug für deine Bezahlung“, versuchte Lorenz einzulenken.
„Nix da!“, fuhr der Diener ihn an. „Du zahlst! Oder ihr könnt gleich unverrichteter Dinge umdrehen.“
„Geh doch darauf ein. In unserer Truhe wird genug sein, dass wir deinem Freund mit einem Teil davon bezahlen können“, warf Merten ein. Für ihn war von vornherein klar gewesen, dass auch Tilman an der Beute beteiligt werden würde. Nur, dass Lorenz dies noch nicht vorher geklärt hatte, war ihm nicht bewusst gewesen.
„Das gefällt mir nicht“, murrte Lorenz. „Die Schatzkammer ist zum Bersten voll und er will einen Anteil von unserer Beute. Lass uns auf eigene Faust weitergehen. Ihn können wir ja…“, er machte eine Handbewegung, als würde er jemanden die Kehle durchschneiden.
„Bist du verrückt!“, erschrak Merten. „Wir bringen doch niemanden um, nur um an das Gold zu kommen.“
„Ich kann es ja alleine machen, damit sich der feine Herr nicht die Finger schmutzig macht. Nie hätte ich gedacht, dass du den Schwanz einziehst“, erwiderte Lorenz so kalt, dass Merten ein Schauer über den Rücken lief.
„Ich ziehe nicht den Schwanz ein“, wehrte sich Merten. „Ich bin zwar ein Dieb, aber kein Mörder. Das geht mir zu weit.“
Lorenz blickte in Tilmans Richtung, der gelangweilt etwas entfernt wartete und die Debatte der beiden Freunde zu verfolgen versuchte. „Was ist denn nun? Seid ihr euch endlich einig?“, rief er ihnen zu.
„Du Narr! Schrei nicht so! Man kann uns vielleicht hören“, schimpfte Lorenz aufgebracht.
„Hast wohl die Hosen voll, du Hasenfuß“, lachte Tilman krächzend wie eine Krähe. „Werdet euch einig. Sonst bin ich weg und ihr könnt sehen, wie ihr zur Schatzkammer kommt. Ich lasse mich nicht mit Nichts abspeisen.“
„Ja, ja, gleich“, Lorenz winkte ab und wandte sich wieder Merten zu. „Was nun?“, fragte er ihn.
„Entweder wir ziehen es alle zusammen durch, ohne Tote, oder ich bin weg. Was du dann machst, soll mir egal sein.“ Merten blieb standhaft. „So sehr ich auch Geld brauche, über Leichen werde ich deswegen nicht gehen.“
„Na gut, besser als gar nichts“, gab Lorenz nach einer Weile nach. Er winkte Tilman heran. „Wieviel willst du?“, wollte er von ihm wissen.
„Ein Viertel des Truheninhalts“, erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte sich im Kopf ausgerechnet, wieviel in einer Truhe sein könnte. Mit einem Teil davon könnte er endlich das kleine Häuschen, das er mit Frau und Kindern bewohnte, reparieren und noch ein wenig anbauen. Von dem Rest käme er einige Zeit über die Runden, ohne sich groß Sorgen machen zu müssen.
Lorenz und Merten gaben beide einen zischenden Laut von sich.
„Denkst du, wir sind Krösus?“ Lorenz schüttelte den Kopf. „Zwanzig Taler“, begann er nach einer kurzen Zwiesprache mit Merten zu handeln.
„Ah, mein Freund! Ich muss auch von etwas leben. Ich habe eine Frau und fünf Kinder“, jammerte der Diener herzerweichend.
„Aber du hast ein regelmäßiges Salär, das du vom Kurfürsten erhältst. Davon kannst du garantiert gut leben, ohne hungern zu müssen“, konterte Lorenz. „Wir bieten dir dreißig Taler.“ Sie feilschten noch eine Weile und einigten sich dann auf fünfzig Taler für den Diener des Landesherrn, der damit aber immer noch nicht ganz zufrieden war.
Tilman schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. Aber als er den harten Blick seines Gegenübers bemerkte, gab er nach. Er sah ein, dass weiteres Feilschen mit Lorenz nichts bringen würde. „Einverstanden“, stimmte er zu. „Unter der Bedingung, dass ich meinen Anteil sofort bekomme, sobald wir durch den Gang in Freiheit sind.“ Er wollte nach dem Diebstahl durch den Wald zurück zur Stadtmauer gehen und am Morgen, sobald die Tore öffneten, zurück in die Stadt. Vorher wollte er seinen Schatz in einem gesicherten Versteck unterbringen, um ihn nicht mit zurück in die Stadt nehmen zu müssen. Sollte er damit ertappt werden, wäre sein Leben nichts mehr wert.
Merten nickte darauf und stieß den neben ihm stehenden Lorenz in die Seite. Der verstand. „Gut, wir sind uns einig“, und reichte Tilman die Hand.
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Wollt ihr hier Wurzeln schlagen? Es ist nicht mehr lange bis Mitternacht“, drängte Tilman zur Eile und setzte sich in Bewegung. Die Freunde folgten ihm dichtauf.
Nach und nach wurde der Gang immer breiter, sodass Merten und Lorenz nebeneinander gehen konnten.
„Wir können ihn auf dem Rückweg immer noch verschwinden lassen“, flüsterte Lorenz Merten zu. Den Schatz durch zwei teilen zu müssen, war das Höchste, das er sich zugestand. Doch allein würde er den Schatz nie in das vorbereitete Versteck schleppen können. Im dichten Wald war es nicht möglich, diesen auf einem Wagen zu transportieren.
„Entweder er bleibt am Leben, oder du kannst die schweren Säcke allein in unser Schlupfloch bringen. Das wird eine arge Schlepperei für dich werden.“ Merten schaute zu seinem Freund. „Ich sagte bereits, ich mache mir nicht die Finger mit einer Leiche schmutzig.“
„Ist gut, ich habe verstanden“, gab Lorenz endlich klein bei. „Sputen wir uns.“
Nach einer Weile blieb Tilman stehen. „Wir sind gleich da“, gab er bekannt. „Wir kommen nachher zu einem noch unbewachten Gang. Wachen gibt es nur am Kerker und am Eingang in den Keller vom Schlosshof aus. Aber dann müssen wir auf der Hut sein. Hinter einer Tür teilt er sich. Auf der einen Seite nach rechts geht es zum Kerker, dort gibt es keine Beleuchtung. Nach links führt der Gang zur Schatzkammer, die noch einmal mit einer schweren Eisentür und einem Schloss gesichert ist. Der Weg dorthin ist durch einige Fackeln erhellt. Gegenüber der Tür, durch die wir nachher herauskommen, geht eine Treppe hinauf in den Schlosshof. Falls wir ertappt werden, müsst ihr versuchen, durch den Schwarzen Gang zu entkommen. Ich muss in diesem Fall versuchen, unbemerkt in den Hof zu gelangen und so tun, als wäre ich in dem Trubel eben von meiner Familie zurückgekommen zu sein. Ich täuschte vor, sie besuchen zu müssen, da meine Kinder krank seien.“ Tilman hielt kurz inne. „Alles verstanden?“, fragte er, worauf Lorenz und Merten nickten.
„Wie sollen wir unentdeckt von der Schatzkammer hierher zurückkommen?“, wollte Merten wissen.
„In den Gängen sind unzählige tiefe Nischen, in denen ihr euch verbergen könnt. Trotz Fackeln kann man drinnen niemanden erkennen. Dazu müsste hineingeleuchtet werden“, erklärte Tilman, der sich daraufhin wieder in Bewegung setzte.
„Warte“, hielt nun Lorenz ihn zurück.
Tilman verdrehte die Augen. „Was denn nun noch?“
„Die Schatzkammer ist doch garantiert verschlossen“, sagte Lorenz.
Der Diener zog breit grinsend einen großen Schlüssel aus seinem Wams. „Aus dem Gemach des Kurfürsten gestohlen, als er gegen Abend ein Nickerchen machte“, meinte er feixend.
Nun hatten es die beiden Freunde auf einmal sehr eilig. Nichts stand mehr im Wege. „Keine Wurzeln schlagen“, drängte Merten zum schnellen Aufbruch.
Nachdem die drei Verschwörer die Tür zum nächsten Gang überwunden hatten, wandten sie sich nach links. Wie es Tilman vorausgesagt hatten, waren keine Wachleute zu sehen. Merten schaute sich aufmerksam um und erkannte auch die dunklen Nischen, die der Diener ihm beschrieben hatte. Mit einem Blick hinein überzeugte sich Merten von den eventuell notwendig werdenden Versteckmöglichkeiten. Ein unaufmerksamer Passant würde eine im Inneren verborgene Person nicht erkennen. Dazu müsste die Nische wirklich von einer Laterne ausgeleuchtet werden. Merten war zufrieden. Doch nun vernahm er von der anderen Seite des Ganges Geräusche. „Halt, seid still“, sagte er so leise wie möglich.
„Das sind nur die Kerkerwachen. Sie scheinen heute recht ausgiebig zu zechen. Aber keine Bange, wird sind zu leise. Zwischen ihnen und uns sind noch zwei dicke Eichentüren“, erklärte Tilman, der die betrunken grölenden Wachen ebenfalls gehört hatte. „Gehen wir weiter. Lassen wir uns von denen nicht stören. Solange wir nicht zu hören sind, sind wir sicher.“
Auf leisen Sohlen schlichen die Eindringlinge weiter. Endlich kamen sie, nachdem der Gang zweimal einen Knick gemacht hatte, an der gesuchten Tür an. Alle atmeten erleichtert auf. Tilman zog erneut den Schlüssel aus der Tasche. Mit einiger Mühe gelang es ihm, das schwere Schloss zu öffnen. Leise quietschend gab die Tür nach.
Aufgeregt drängten die Drei hinein. Erschrocken fuhren sie zurück.
„Was ist hier los?“, stieß Lorenz entsetzt nach weiteren schrecklichen Momenten hervor. Am liebsten hätte er einen empörten Schrei ausgestoßen. Es brannten zwar immer noch einige Fackeln, die in Halterungen an den Wänden steckten. Ansonsten aber war die Kammer leer. Keine einzige Truhe voller Gold war zu sehen, nicht einmal eine leere stand in dem großen Raum. „Du Hundsfott, elendiger Lügner und Betrüger“, schrie er Tilman auf einmal aufgebracht an. „Du hast uns an der Nase herumgeführt!“ Er griff den Diener am Kragen und schüttelte ihn wutentbrannt.
„Halt ein! Nein, nein“, versuchte der Diener Lorenz davon abzubringen, ihn zu schlagen. „Heute Mittag standen hier noch mindestens zwei Dutzend Truhen voller Gold. Im Auftrag des Kurfürsten musste ich den Schatzmeister hierher begleiten, da dieser ein paar Säckchen mit Gold zu August bringen sollte. Ich schwöre, ich sage die Wahrheit!“ Tilman jaulte auf, als Lorenz ihn mit der Faust an der Nase traf. Er hörte, wie sie brach. Ein jäher Schmerz fuhr in ihn und trieb ihm das Wasser in die Augen, dann schoss Blut wie aus einem Springbrunnen aus der Nase. Blind vor Tränen und von Schmerzen geplagt, versuchte Tilman, Lorenz abzuwehren. Der jedoch schlug auf ihn ein, als wäre er vom Teufel besessen. Tilman war stark, aber gegen Lorenz konnte er nichts tun.
„Höre sofort auf!“, versuchte nun auch Merten Tilman vor seinem wütenden Kumpan zu schützen. „Ehe wir uns weiter in Teufels Küche bringen, sollten wir uns auf den Weg machen und zurück gehen. Euer Geschrei wird noch die Wachen herbeirufen.“ Doch Mertens Versuche blieben erfolglos. Lorenz war nicht zu bremsen und die Schreie des Dieners wurden immer lauter.
„Ich muss sofort hier weg“, waren Mertens Gedanken. „Wenn Lorenz nicht hören will, soll ihn der Teufel holen. Der Diener wird sich schon zu helfen wissen, falls die Wachen auftauchen sollten.“ Ohne weiter auf seinen Kameraden und Tilman zu achten, verließ Merten die Schatzkammer. Schon hörte er, wie sich Wachen näherten. Ihr Trampeln war in dem sonst leeren Gang gut zu hören. Schnell versteckte sich Merten in einer der Nischen, kroch in die dunkelste Ecke. Schon polterten schwere Schritte an ihm vorbei. Erleichtert schnaufte Merten, er war nicht bemerkt worden.
Wenig später hörte er, wie Tilman kreischte: „Er hat mich gezwungen. Ich bin seine Geisel!“ Immer wieder schrie er dies. Es klang, als würde gekämpft werden, aber dies interessierte den Flüchtenden nun nicht mehr.
Während die Wachen sich um die beiden Streithähne kümmerten, kroch Merten aus seinem Versteck. Er bewegte sich schnell und leichtfüßig, wie er es als Langfinger in einer Menschenmenge gewohnt war. Sich immer wieder sichernd, schaute er vorsichtig um die nächste Ecke, ehe er diese passierte. Erleichtert und unbehelligt erreichte er die Tür zum Schwarzen Gang. Glücklicherweise hatte Tilman diese nicht wieder fest verschlossen. So musste er nur leicht dagegen drücken und schon öffnete sie sich lautlos. Aufatmend schlüpfte Merten hindurch und legte die Balken zurück in die dafür vorgesehenen Haken. So konnte ihm erst einmal niemand folgen. Leider hatte er seine Laterne in der Eile in der Schatzkammer stehen lassen, sodass er sich nun vollkommen im Dunkeln befand.
Aus dem Gang vor der Tür hörte er, wie die Wachen ihre beiden Gefangenen abführten. Tilman kreischte immer noch: „Er hat mich gezwungen, ich bin seine Geisel“, und wehrte sich verzweifelt. Lorenz aber tobte wie Furien. „Der Hundsfott hat mich gelinkt. Er hat mir Truhen voller Gold versprochen!“, schrie er.
Merten konnte das Toben seines Kumpans nicht mehr erhören. So wandte er sich ab und suchte den Weg durch den Schwarzen Gang in das kleine Wäldchen am anderen Ende. Nach gefühlten Stunden und sichtlich erleichtert, entkommen zu sein, erreichte er den Ausgang. Ermattet, aber glücklich, ließ er sich im dichten Gebüsch in eine Kuhle fallen, um ein wenig auszuruhen. An seinen Kumpan Lorenz und den armen Diener dachte er lieber nicht. Er mochte sich nicht vorstellen, was nun mit ihnen geschehen wird.
Einige Wochen später verkündeten die Herolde des Kurfürsten, zwei Halunken, die in die Schatzkammer des Schlosses eingebrochen wären, würden am nächsten Tag hingerichtet werden. Der Kurfürst befehle seinem Volke, das Spektakel anzusehen, sozusagen als abstoßendes Exempel, was mit Leuten geschieht, die es wagen, sich am Eigentum des Landesherrn zu vergreifen. Leider wäre aber es dem dritten im Bunde der bösen Bande gelungen, den Häschern zu entkommen. Er konnte trotz großem Bemühen nicht aufgespürt werden. Die Herolde berichteten noch vom großen Glück des Kurfürsten, der am Nachmittag vor dem Eindringen der Gauner die Schatzkammer leeren ließ, da er die vollen Geldtruhen nach Krakau bringen lassen wollte. So standen die Diebe in einem leeren Raum, als die Wachen sie ergriffen.
„Armer Tilman. Er hat die Wahrheit gesprochen“, dachte Merten, als er dies hörte. „Aber eigentlich arme Frau, die die fünf Kinder nun allein großziehen musste“, Merten schüttelte sich, um die schlimmen Bilder des geschlagenen Dieners aus seinem Kopf zu verbannen. „Und Lorenz, du Tölpel! Ich habe dich gewarnt! Du hättest es anders haben können. Dann könntest du am Leben bleiben.“
Merten wollte sich das Grauen der Hinrichtung am nächsten Tag ersparen. Nicht nur einmal hatte er mit ansehen müssen, wie Meister Hans mit geschickter Grausamkeit einen Menschen vom Leben zum Tode beförderte. Die Schreie der Gepeinigten hallten auch nach langer Zeit noch in Mertens Ohren. Daher verließ er noch am selben Abend Dresden in unbekannte Richtung und ward nie wieder gesehen.
© Brida Baardwijk / 02.02.2020