Irgendwo auf dem Mittelmeer kurz vor Zypern im Jahre des Herrn 1410
Der Knappe Adrien lebte seit fünf Jahren bei Jaques de Marain, einem Ritter, der seine Burg in der Nähe von Marseille hatte. Wie es so üblich war, wurde der männliche Nachwuchs ab etwa zwölf Jahren zu befreundeten Rittern gegeben, damit diese richtige Männer aus ihnen machten. Der Junge diente zuerst als Page, bis er im Alter von vierzehn Jahren zum Knappen aufsteigen konnte. Seitdem wurde es hart für Adrien. Tägliche Übungen mit dem Schwert, Drill, Reiten, Zweikämpfe mit den anderen Knappen, harte Arbeit waren seitdem auf der Tagesordnung. Seit inzwischen vier Jahren war Adrien Knappe. Er hoffte, in spätestens drei Jahren zum Ritter geschlagen zu werden. Bis dahin war noch eine lange Zeit, in der er seinem Herrn zu gehorchen und viel zu lernen hatte.
Adrien stand am Heck der großen Hulk und beobachtete die Wellen, die das Schiff hinter sich herzog. Sie befanden sich mitten auf dem Mittelmeer, nirgendwo war Land in Sicht. Die „Liliane“ hatte schwer geladen und lag tief im Wasser. Sein Herr hatte sich vor vielen Tagen mit ihm in Marseille auf dieses Schiff begeben, um nach Zypern zu reisen und von dort aus weiter nach Akkon und Jerusalem. Wie lange sie bereits unterwegs waren, wusste Adrien nicht. Irgendwann hatte er aufgehört, die langweiligen Tage auf See zu zählen. Wenn er nicht gerade die Pferde zu versorgen oder sich um die Ausrüstung seines Ritters zu kümmern hatte, lungerte er an Deck herum. Meist sah er den Matrosen bei der Arbeit zu. Manchmal half er ihnen auch, damit es ihm nicht zu langweilig wurde. Aber ansonsten war Müßiggang der Alltag.
Mit ihnen waren noch einige Handelsreisende zugestiegen, die dasselbe Ziel hatten wie sie. Bisher war die Reise ruhig verlaufen. Die Hulk wurde durch den stetig gleichbleibenden Wind schnell vorangetrieben. Es wehte eine steife Brise, wie die Seeleute oft sagten. Doch Adrien mochte es nicht, die unendliche Tiefe unter seinen Füßen zu wissen, von der er nur durch die Bretter des Schiffsrumpfes getrennt war. Eine Tiefe, die ihm Angst machte.
Hob Adrien den Blick, konnte er weit entfernt die Sonne sehen, die langsam im Meer versank. Er wusste nicht, was am Ende des Meeres war oder ob die Sonne dort einfach herunterfiel, um am nächsten Morgen auf einer Leiter wieder nach oben zu klettern. Er wusste nur, die Erde war eine Scheibe. Auch kannte er niemanden, der sich bereits an den Rand begeben hatte und sagen konnte, was sich dort befand. Vielleicht war es aber auch besser, es nicht zu wissen.
Im Verlauf des Abends wurde es ein wenig diesig. Leichter Nebel stieg aus dem Wasser empor. Beinahe konnte man denken, das Meer bereite sich darauf vor, der gemächlich dahingleitenden Hulk Übles zu wollen. Gebannt starrte der Knappe in den immer dichter werdenden Nebel. Sein Magen zog sich krampfhaft zusammen, wenn er an die arg grauslichen Geschichten der Seemänner dachte, die sie nach getaner Arbeit zum Besten gaben. Noch immer verstand es Adrien nicht, warum sein Herr, der Ritter Jaques de Marain, unbedingt nach Jerusalem wollte. Die Zeit der Kreuzritter war längst vorüber. Ein Kreuzzug konnte es nicht sein, genauso wenig eine Pilgerreise. Da konnte es doch niemanden freiwillig in das weit entfernte Land ziehen. Doch Adrien hatte nichts zu sagen. Als Knappe des Ritters hatte er zu gehorchen, ob es ihm nun gefiel oder nicht. Sein Herr hatte es ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben. Oft tat er dies auch mit der Peitsche, wenn Adrien zu uneinsichtig war. Gerade die Peitsche hatte der Junge anfangs oft genug zu spüren bekommen. Breite Narben auf seinem Rücken zeugten davon.
Im Hintergrund hörte Adrien den Steuermann singen, der mit dem Ruder in den Händen und den Blick nach vorn das Segelschiff auf Kurs hielt. Wie er sich auf den Weiten des Meeres orientieren konnte, war für den Knappen ein Buch mit sieben Siegeln. Er hatte den Mann schon einmal befragt. Die Neugierde trieb ihn, doch verstanden hatte er nichts.
Der Steuermann sang von Monstern in der Tiefe. Riesige, alles verschlingende Ungetüme, die urplötzlich auftauchten und genau so schnell mit ihrer Beute im Maul wieder im Meer verschwanden. Dem Jungen lief ein Schauer über den Rücken, wenn er sich die Untiere vorstellte. Er wusste zwar nicht genau, wie sie aussahen, auch die Seemänner wussten es nicht. Aber er stellte sich vor, die Ungeheuer hätten riesige Mäuler, die eine Hulk, wie die „Liliana“ eine war, ohne weiteres an einem Stück verschlingen könnten. Adrien hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, um den Gesang des Mannes am Steuer nicht hören zu müssen. Sein Herr würde ihn jetzt garantiert wieder als verhätscheltes Muttersöhnchen bezeichnen und ihn auslachen. Ein richtiger Recke hätte vor nichts und niemanden Angst, auch nicht vor gefährlichen Seeungeheuern, die angeblich in der Tiefe lebten und leichtsinnige Menschen erschreckten.
„Knappe, was gibt es dort draußen Interessantes, dass du so starrst?“ Adrien erschrak sich fast zu Tode über den übermäßig lauten Zuruf seines Ritters. Er hatte wohl wieder einmal zu tief in den Weinkrug geschaut, den der Kapitän am Abend den zahlenden Mitreisenden kredenzen ließ. Er selber musste sich mit brackigem Wasser zufrieden geben, das in großen, an den Bordwänden festgezurrten Tonnen an Deck lagerte. Laut trampelnd, leicht schwankend und nur mit einem einfachen Hemd und Hose bekleidet, kam Ritter Jaques zur Reling. Dann schaute er in die Richtung, in die sein Knappe blickte.
„Ach nichts, Herr. Ich dachte nur, da wäre etwas“, erwiderte Adrien ausweichend und wurde rot. Er fühlte sich ertappt und schämte sich für seine Ängstlichkeit.
„Du träumst wohl wieder von Monstern und Seeungeheuern?“, grölte sein Herr und versetzte dem Jungen einen Schlag auf die Schulter, dass er schmerzerfüllt aufstöhnte und fast zu Boden ging. Verlegen rieb er sich den Arm, der sich nach dem Hieb wie betäubt anfühlte.
„Die Seeleute haben aber gesagt, es gäbe welche“, erwiderte Adrien trotzig und sah den Ritter mit böse funkelnden Augen an.
Jaques de Marain lachte noch lauter. Dabei schlug er sich klatschend auf die Oberschenkel. „Seemannsgarn, Mummenschanz, um kleinen Kindern oder Hosenscheißern Angst einzujagen!“ Der Ritter hielt inne. „Sag ja nicht, du hast Schiss!“, fuhr er seinen Knappen an. „Schiss wie ein kleiner Hosenscheißer an Mutters Rockzipfel.“ Während er die Worte ausspie, verzog sich sein Gesicht zu einer hässlichen, zähnefletschenden Grimasse.
„Natürlich nicht. Mit siebzehn Jahren bin ich ein Mann und kein Angsthase“, beeilte sich Adrien zu sagen. Sein Körper straffte sich, bis er aufrecht stand und seinem Herrn Auge in Auge gegenüber stand. Der Ritter war riesig im Gegensatz zu Adrien, den er fast um eine Haupteslänge überragte. Der Junge musste den Kopf heben, um seinem Herrn ins Gesicht blicken zu können.
„Das will ich dir auch geraten haben“, sagte Ritter Jaques de Marain zu Adrien. „Und nun geh schlafen. Morgen im Laufe des Tages werden wir auf Zypern anlegen und hoffentlich bald eine Passage nach Akkon finden. Von dort aus sind es nur etwa 100 Meilen bis Jerusalem.“
Adrien wagte es nicht zu widersprechen. Daher zog er sich zu seinem Platz am Mast zurück. Er rückte sein Bündel zurecht und machte es sich so bequem wie möglich. Nachdenklich schaute er in den inzwischen fast schwarzen Nachthimmel. Der Nebel hatte sich ein wenig verzogen und gab den Blick zu einigen leuchtenden Sternen frei. „Wie es wohl wäre, von dort oben herunterzublicken?“, fragte sich Adrien. Er konnte es sich nicht vorstellen. Während er immer ruhiger wurde und langsam in den Schlaf überging, hörte er noch, wie sich sein Herr mit dem Steuermann unterhielt. Auch die anderen Seemänner, die nicht zur Wache eingeteilt waren, lagen nach einem anstrengenden Tag auf Deck bereits in ihren Hängematten. Einige unterhielten sich noch leise, während andere schon schliefen. Vereinzelt hörte Adrien jemanden schnarchen. Einer schimpfte im Schlaf. Wahrscheinlich träumte er.
„Junge, Junge! Aufwachen!“ Jemand rüttelte an Adriens Schulter. „Aufwachen!“ Der Störenfried ließ dem Schlafenden keine Ruhe, so lange, bis dieser die Augen aufschlug und sich aufsetzte.
„Es ist mitten in der Nacht! Was soll das?“, knurrte Adrien verärgert und stieß die störende Hand weg.
„Nimm das und binde dich an den Mast. Mach schnell!“, forderte der Kerl nun auch noch, ohne eine Erklärung über den Grund der eigenartigen Maßnahme zu geben.
Der Junge schaute hoch und erkannte den Maat, der ihm ein Seil entgegen hielt. „Mach schon!“, forderte er ihn erneut auf. „Hier wird gleich die Hölle los sein“, berichtete er endlich. Er zeigte auf den östlichen Horizont, wo sich in der ersten Morgendämmerung bedrohliche Wolken aufbauten.
Adrien erkannte nun auch, dass der Wind sehr viel stärker als am Abend war. Er brauste wie ein wild gewordener Stier um die Hulk. Das Schiff hob und senkte sich, bockte wie ein junges Füllen. Dann neigte es sich zur Seite und riss alles mit sich, was nicht fest genug vertäut war. So auch Adrien. Wie ein Spielball kullerte er über das Deck, ehe ihn die Bordwand davon abhielt, ins Meer zu stürzen. Adrien stieß mit dem Kopf gegen die Reling. Der Knappe sah Sterne. Er schüttelte sich. Nun war er vollends wach. Mühsam versuchte er, auf die Beine zu kommen, was bei dem Seegang für einen Ungeübten wie ihn fast unmöglich war. Er hielt sich an der Brüstung fest und zog sich hoch. Wenn ihm nur nicht so übel wäre. Sein Magen rumorte, als wolle er das letzte Abendmahl wieder von sich geben.
„Achtung Junge!“, schrie der Maat gegen den Sturm an.
Der Knappe hörte nur jemanden rufen, verstand aber bei dem aufkommenden Getöse kein einziges Wort. Er schaute sich um. Da erblickte er den Maat, der wild mit den Armen fuchtelte. Aber auch etwas anderes sah er. Ein großes Wasserfass hatte sich aus der Verankerung gerissen und rollte nun mit einer immensen Geschwindigkeit auf ihn zu. In letzter Sekunde konnte Adrien beiseite springen, sonst hätte das Fass ihn zerquetscht. Krachend zerbarst es an der Reling. Holzsplitter und Teile des Fasses wirbelten durch die Luft, einige trafen Adrien. Wie durch ein Wunder blieb er aber unverletzt.
Um ihn herum war das Chaos ausgebrochen. Der Kapitän war an Deck gekommen und schrie seinen Leuten Befehle zu. Der Steuermann versuchte, das Schiff auf Kurs zu halten. Doch es war unmöglich. Auf Zuruf des Kapitäns ließ er das Ruder los. Die Hulk war nun sich selbst überlassen.
Einige Seemänner holten die Segel ein. Die meisten aber hingen bereits zerfetzt am Mast. Das Holz des Schiffes knarzte laut, als wolle es sich gegen die immense Macht des Wassers wehren.
Endlich raffte sich Adrien auf. Ängstlich blickte er sich um. Während der Kapitän wie ein Fels in der Brandung zu sein schien, mühte sich die Mannschaft ab, zu retten, was noch zu retten war. Aufgebrachte und verängstigte Handelsleute, die mit an Bord waren, wurden wieder in den Bauch des Schiffes geschickt. An Deck war die Gefahr für sie zu groß, über Bord zu gehen und in den Fluten zu ertrinken. Das Meiste an Ware war bereits auf Nimmerwiedersehen im tosenden Wasser verschwunden. Mehr als das nackte Leben zu retten, war nicht mehr möglich.
Vorsichtig tapste der Knappe zu dem Mast, an dem er bis vor kurzem geschlafen hatte. Das Schiff schwankte gefährlich, sodass Adrien auf der kurzen Strecke mehrmals hinfiel. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf allen Vieren fortzubewegen.
Adrien schnappte sich das Seil, das der Maat bereits vorsorglich am Mast festgebunden hatte. Doch vom Maat selbst fehlte jede Spur. Dafür erblickte Adrien seinen Herrn, der schwankend die Treppe aus dem Bauch der Hulk nach oben kam. Ihm schien es nicht gut zu gehen. Er stolperte zur Reling und fütterte die Fische. Beinahe wäre er selbst Fischfutter geworden, wenn der Kapitän die drohende Gefahr nicht erkannt hätte. Im letzten Moment griff er den Ritter am Kragen und beförderte ihn zurück an Bord. „Anbinden! Sofort! Seid Ihr des Wahnsinns?“, schrie er den zu Tode erschrockenen Mann an.
Adriens Herr zog den Kopf ein und kroch zu seinem Knappen, der ihn neben sich fest band.
„Der Herr straft uns für unsere Sünden“, jammerte der Ritter gotterbärmlich. Panisch schaute er seinen Knappen an, der genau wie er voller Angst den auf sie zustürmenden Wassermassen entgegenblickte. Die Hulk tanzte auf den Spitzen der meterhohen Wellen, ehe sie sich wieder in die Tiefe stürzte.
Adrien bekreuzigte sich und betete zu Gott, ihn dieses Mal zu verschonen. Er gelobte, seinem Ritter ab sofort auch immer gehorsam zu sein. Das Gebrüll um ihn herum klang wie das Schreien von Monstern oder Seeungeheuern, die ihn in die Tiefe des Meeres locken wollten. Er hielt sich die Ohren zu. Doch alles half nichts. Das Kreischen der Hulk und das Getöse des aufgebrachten Meeres ließen nicht nach. Sein Herr neben ihm war genau so entsetzt wie er.
„Adrien, Junge! So wache doch auf! Es ist vorbei. Wir leben! Herrgott, wir danken dir“, hörte der Knappe wie von Ferne Jemanden zu ihm sprechen. Vorsichtig blinzelte er. Das grelle Licht der Sonne blendete ihn. Er versuchte, sich zu bewegen. Jeder einzelne Knochen in seinem Leib schien zu schmerzen.
„Adrien!“, sagte die Stimme neben ihm noch einmal.
Endlich raffte sich der Junge auf und hob den Kopf. Er erkannte seinen Herrn, der ihn besorgt anblickte.
„Wo sind wir?“, brachte Adrien endlich hervor. Sein Kopf brummte, als hätte sich dort ein ganzes Bienenvolk eingenistet.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte sein Herr. „Wahrscheinlich auf irgendeiner Insel vor Zypern.“ Ritter Jaques zuckte mit den Schultern. Doch dann lächelte er. „Aber wir leben. Ist das nicht schön?“ Er schien vor Freude am liebsten herumspringen zu wollen wie ein Kobold.
„Die Hulk, die Seeleute, die Kaufmänner, unsere Pferde, das Gepäck?“ Adrien setzte sich auf und blickte sich um. Doch nirgends war das Schiff oder dessen Besatzung zu entdecken.
„Die Meeresungeheuer haben alles mit sich in die Tiefe gezogen. Der Herrgott sei den armen Seelen gnädig“, erwiderte der Ritter traurig. Er zeigte auf ein Stück des Mastes, das unweit von ihnen am Strand lag. „Wäre der Mast nicht gebrochen und wir mit ihm fortgeschleudert worden, wären wir nun auch ein Opfer der Untiere.“ Ritter Jaques schaute seinen Knappen stolz an. „Du hattest Recht mit den Ungeheuern der Tiefe. Es gibt sie wirklich. Wir sind ihnen höchstpersönlich begegnet, konnten ihnen aber Gott sei Dank entkommen“, gab er dann zu. „Ich sollte wohl öfter auf meinen klugen Knappen hören und ihm Glauben schenken.“
Adrien errötete. Als er etwas entgegnen wollte, winkte Jaques de Marain nur ab. „Lass uns lieber herausfinden, wo wir sind und einen Weg in den nächsten Ort finden. Wir müssen weiter reisen. Jerusalem ruft.“ Der Knappe rappelte sich auf, schüttelte verständnislos seinen Kopf, folgte seinem Herrn aber gehorsam.
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Hulk – oder auch Holk, ist ein Segelschiffstyp mit einer Tragkraft bis zu 350 Tonnen, der im 15. Jahrhundert von der Hanse als Handelsschiff genutzt wurde. Die Hulk ist der Nachfahre einer Kogge, eines einmastigen Handelsschiffes. Hulks konnten, ein-, zwei-, aber auch dreimastig sein. Das Schiff ist relativ breit und flachbödig gebaut und besitzt nur einen flachen Balkenkiel. (Quelle: Wikipedia)
© Brida Baardwijk / 27.07.2018