Die Stadt Zeitz im heutigen Sachsen-Anhalt verfügt seit Jahrhunderten über ein ausgeklügeltes unterirdisches System an Gängen, die teilweise bis drei Stockwerke tief sind und bis acht Meter unter der Straße liegen. Erbaut wurden die Gänge zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert, als in Zeitz noch regelmäßig und viel Bier gebraut wurde.
Bier war im Mittelalter ein Grundnahrungsmittel, da dies oft sehr viel sauberer war als normales Trinkwasser aus den städtischen Brunnen. Die Krux war allerdings, es durfte nur derjenige brauen, der auch über die erforderlichen Lagermöglichkeiten verfügte, das heißt Wirte oder Brauereien. Bier benötigt eine bestimmte konstante Temperatur, um reifen zu können. Außerdem nahm die Stadt damals auch Steuern von denen ein, die brauten. Zu vergleichen in etwa mit der heutigen Umsatzsteuer.
Aufgrund der benötigten hohen Lagerkapazitäten wurden die unterirdischen Gänge gebaut, die unterhalb der Stadt sehr weit verzweigt sind. Die Temperaturen dort sind gleichbleibend und ideal zur Lagerung von Bier. Die Gänge gibt es heute noch und können von interessierten Besuchern besichtigt werden.
Eine mir bekannte Quelle sagt, dass im Mittelalter im Schnitt pro Person und Jahr etwa 718 Liter Bier getrunken wurde. Das sind immense Mengen, die von den Brauern bewältigt werden mussten. Gar nicht so einfach mit den Mitteln, die die Menschen damals zur Verfügung hatten.
Die Geschichte ist bis auf die unterirdischen Gänge reine Fantasie.
***
Zeitz, um 1520
„Was?! Bist du verrückt?!“, fuhr Friedrich seinen Freund Gottfried an, der neben ihm in der Wirtschaft des alten Hubert am Altmarkt in Zeitz saß. „Du weißt, das kann uns an den Galgen bringen.“ Er wollte aufspringen, blieb dann aber doch lieber sitzen.
Das Gedränge zu dieser vorgerückten Abendstunde war in der kleinen Kaschemme wie immer groß. Friedrich sah sich aufmerksam um, niemand durfte auch nur im Geringsten erahnen, was sein bester Kumpel im Schilde führte. Viel lieber wäre es ihm gewesen, sich an einem anderen Ort zu treffen. Zu gefährlich war die Sache, die ihm Gottfried eben offengelegt hatte.
„Nun hab dich nicht so. Sonst bist du doch auch nicht gerade zimperlich“, warf Gottfried ein. „Denk an das Pulver, das wir einnehmen werden.“ Seine Augen rollten vor Freude über den Geldsegen, der ihnen der Coup einbringen würde. Er hörte schon die Münzen klingeln, die bald in seinem Beutel landen würden und in Friedrichs.
„Trotzdem. Meine Alte bringt mich um, wenn sie davon erfährt oder wir erwischt werden“, erwiderte Friedrich.
Gottfried winkte ab. „Du und deine Gerda. Die soll sich mal nicht so haben. Ihr ist es garantiert auch recht, wenn es ein wenig mehr in der Haushaltskasse klingelt. So gut verdienst du als Handlanger auf dem Bau auch nicht, dass du dir das entgehen lassen kannst. Oder willst du, dass sie Freiern gefällig ist, wenn es bei euch wieder einmal sehr knapp wird?“
„Nein, um Himmels Willen, natürlich will ich das nicht. Meine Gerda unter einem stinkenden Kerl, nein, niemals! Du hast ja recht“, antwortete Friedrich, dem die Sache immer noch nicht ganz geheuer war. „Was ist, wenn sie uns erwischen?“, fragte er dann. Nachdenklich geworden, zog der die Augenbrauen hoch und die Stirn kraus.
„Du machst die Fliege und ich nehme alles allein auf mich“, wurde Friedrich versprochen.
„Du glaubst doch wohl nicht, dass du die Fresse hältst, wenn sie dich auf der Streckbank befragen. Das stehst du nie durch, wenn du in die Länge gezogen wirst. Ich hörte, unser Meister Hans ist ein Spezialist in der peinlichen Befragung. Der kriegt alles raus. Dann bin ich genauso dran wie du. Wenn mich meine Gerda nicht vorher umbringt, hängen wir dann beide nebeneinander am Galgen und hauchen unser Leben aus.“ Friedrich schaute seinen Freund ernst an. „Nein, mein Guter. Das ist mir wahrlich zu heikel. Ich häng an meinem Leben. Was du machst, ist deine Sache. Musst du selbst wissen, aber ich…“ Er dachte an seine Gerda und die Kinder, die dann alleine wären, wenn er am Galgen landen würde. Was für eine Schmach für die Familie. Nein, dieses Risiko konnte und wollte er keinesfalls eingehen.
„Du bist ein riesengroßer Hasenfuß, ich glaub es einfach nicht. Du machst dich wegen solchen Lappalien in die Hosen“, meinte Gottfried lachend und schlug mit der flachen auf den Tisch, dass die Bierkrüge einen Sprung machten und fast umfielen. „Machst du nun mit oder nicht? Der Wirt hier wartet nicht ewig auf seine Ware. Ich will nicht, dass uns jemand anderes das Geschäft wegschnappt.“ Er nahm einen Schluck Bier aus seinem Krug und ließ ihn genüsslich die Kehle hinunterfließen.
Auch Friedrich nahm einen Schluck, spuckte aber entsetzt und angeekelt das Bier wieder aus, dass es über den ganzen Tisch sprühte. „Was für ein fürchterliches Gesöff“, schimpfte er lauthals. „Hat der verdammte Wirt keine Ahnung, ein ordentliches Bier zu brauen?“
„Dem könnten wir ein Ende setzen“, erwiderte Gottfried schmunzelnd. „Dann können wir hier wirklich gutes Bier trinken und verdienen auch noch gut daran.“ Er schaute seinen Kumpan an und lockte ihn weiter. „Wir werden es hier von da an für lau bekommen und so viel, wie wir wollen. Saufen, bis wir nicht mehr können und an Ort und Stelle umfallen. Nun, was sagst du dazu?“
„Du willst mich unbedingt dabeihaben?“, fragte Friedrich, dem das Unterfangen immer einleuchtender und interessanter erschien. „Außerdem kostenloses Bier, so lange und so viel wir wollen?“
„Genau“, bestätigte Gottfried und nickte überdies noch zur Bestätigung. „Außerdem ist es zu zweit einfacher, die ganzen Fässer hierher zu rollen. Der Lieferant kann nicht mit in die Stadt hinein. Er müsste seinen Karren vor der Stadtmauer stehenlassen. Das würde auch nachts auffallen. Genau das wollen wir nicht“, erklärte er weiter.
„Gut, ich bin dabei“, erwiderte Friedrich. „Scheiß auf meine Alte. Ich muss ihr ja nicht alles erzählen.“
„So kenne ich dich!“, meinte Gottfried lachend und schlug seinem Freund auf die Schulter, der, wenn er nicht gesessen hätte, in die Knie gegangen wäre.
„Aber, erzähl mal, wie willst du das Bier in die Stadt bringen, ohne dass wir Zoll bezahlen müssen?“, wollte Friedrich wissen, dem sie Sache zwar immer noch heikel war, er aber Blut geleckt hatte. „So ganz koscher ist es mir zwar immer noch nicht, aber ich vertraue dir. Du wirst schon wissen, was du machst. Immerhin bist du Fachmann in Sachen Heimlichkeiten und Schmuggel. Immerhin hast du bereits genug hinter dem Rücken der Obrigkeit in die Stadt gebracht.“
Gottfried nickte und beugte sich dann ganz nah zu seinem Busenfreund hinüber. Vorher sah er sich noch einmal in der Wirtschaft um. Dann begann er von seinem Plan zu erzählen.
„Du kennst bestimmt die unterirdischen Gänge unter der Stadt, die teilweise vor der Stadtmauer enden. Einige Zugänge liegen günstig und sind nicht gleich einsehbar“, begann er, worauf Friedrich nickte. „Gut“, sprach Gottfried weiter. „Die werden wir nutzen.“
Friedrich riss die Augen auf. Doch, ehe er eine Frage stellen konnte, fuhr Gottfried fort. „Ich kenne einen Bauern, der sich sein Geldsäckel ein wenig auffüllen möchte. Nicht, dass er es nötig hätte, der alte Geizhals. Er braut das beste Bier, das ich kenne. Ich habe es bereits genießen können“, Gottfried rollte genüsslich mit den Augen und strich sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Doch…“, er sah sich erneut um, ehe er flüsternd weitersprach, „die Steuern, die bei Einfuhr in die Stadt erhoben werden, sind so immens, dass es sich fast nicht mehr lohnt, Bier in die Stadt zu bringen und zu verkaufen.“
„Die Abgaben, die sich die Adligen in die Taschen stecken“, spuckte Friedrich verächtlich aus.
„Jawohl. Angeblich sollen die der Stadt zugute kommen. Doch was sehen wir? Nichts. Die städtischen Brunnen sind so baufällig, dass man sie kaum noch benutzen kann, so auch die Straßen. Fürchterlich. Aber die Häuser der Patrizier sind die schönsten, komfortabelsten, die je ein Auge gesehen hat. Einige haben sogar eigene Brunnen. Und das Schloss erst“, Gottfried zeigte zum Fenster hinaus, durch das man über den Markt hinweg, den Eingang des Schlosses sehen konnte. „Prunk, wo das Auge hinsieht. Und die einfachen Leute darben.“
„Hol nicht zu weit aus“, mahnte Friedrich, der nun noch neugieriger geworden war.
„Ja, ja“, meinte Gottfried lachend und erzählte weiter. „Jedenfalls hat dieser Bauer eine Möglichkeit gesucht, sein Bier in der Stadt ohne Steuer zu verkaufen.“
„Wie bist du auf ihn gekommen?“, unterbrach Friedrich seinen Freund. Dabei rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
Gottfried setzte seine Rede fort: „Durch einen dummen Zufall habe ich den besagten Bauern letztens auf dem Markt über die immensen Beträge, die sich die Oberhäupter in die Taschen stecken, schimpfen hören. Ich hatte schon die Befürchtung, dass die Stadtbüttel etwas davon hören und ihn ins Loch werfen. Doch die waren zum Glück ganz woanders und bekamen nichts mit. Das sah ich als Gelegenheit, den Kerl anzusprechen und ihm anzubieten, ihm zu helfen. Gegen einen bestimmten Obolus natürlich. Vom Wirt bekommen wir nach der Lieferung auch ein paar Groschen – außerdem, du weißt...“ Gottfried sah sich noch einmal um. „Aber! Stillschweigen! Zu niemanden ein Wort“, machte er Friedrich noch einmal klar. „Die Sache muss funktionieren, in jedem Fall.“
„Ich weiß“, erwiderte der Kumpan und schlug die Hand ein, die sein Freund ihm entgegenstreckte.
„Auch zu deiner Gerda nicht“, warnte Gottfried.
„Auch zu ihr nicht“, versprach Friedrich und nahm noch einen Schluck Bier aus seinem Krug.
„Bist du dir sicher, dass der Bauer auch kommen wird“, flüsterte Friedrich seinem Freund zu, der neben ihm im Gebüsch hockte. Die beiden warteten auf den Mann, der das Bier für den Wirt am Altmarkt liefern wollte. Noch war vom Lieferanten weder etwas zu sehen noch zu hören.
„Der wird schon noch kommen“, erwiderte Gottfried. „Es war ausgemacht, heute Nacht. Die Zeit ist günstig. Es ist Neumond. Vielleicht ist er sogar schon in der Nähe, wir haben nur noch nichts bemerkt.“
„Hast du auch den Zugang zum Tunnel kontrolliert?“
„Mensch, Friedrich! Nun halte endlich dein Maul! Natürlich habe ich das. Ich wäre dumm, hätte ich das nicht getan. Wer weiß, welchen Müll die Leute dort abgestellt haben, der den Durchgang versperrt. Nicht zu glauben, was man da unten so alles findet. Außerdem musste ich den besten Weg bis zum Altmarkt herausfinden. Ich habe keine Lust, mich zu verirren oder anderen Heimlichtuern über den Weg zu laufen.“ Er schüttelte den Kopf über die gefundenen Dinge, die er in den letzten beiden Tagen aus dem Weg geräumt hatte.
„Was tun wir, wenn der nicht kommt?“ Friedrich sah schon das Geld im Bach davonschwimmen, neben dem sie es sich bequem gemacht hatten, um auf den Bauern zu warten.
„Nun male mal nicht schon wieder den Teufel an die Wand“, fuhr Gottfried seinen Kumpel an. „Der wird schon kommen. Ich habe Mitternacht ausgemacht. Das ist bald. Und nun sei endlich still.“ Er streckte sich der Länge nach ins Gras hin und starrte in den Nachthimmel.
Friedrich tat es ihm gleich. Doch so ruhig wie sein Freund war er nicht. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Ganz einerlei war es ihm nun doch nicht, heimlich Bier in die Stadt zu schmuggeln. Was wäre, wenn sie aufflogen? Einmal konnte es gut gehen. Aber weitere Male? Doch er hatte seinem Freund nun mal zugesagt, ihm zu helfen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er hing auf Teufel komm raus mit in der Sache drin.
„Gottfried, hörst du das auch?“ Friedrich fuhr hoch. Er war wohl eingeschlafen.
„Was?“ Gottfried schoss in die Höhe, als wäre er von einer Wespe gestochen worden.
„Na das… ein Singen, oder eher ein Quietschen, ich weiß auch nicht, was das sein soll.“
Gottfried horchte angestrengt. Da vernahm er es auch. „Das wird der Bauer sein. Er hätte wohl mal seine Räder einfetten sollen. Der Karren macht ganz schön Krawall.“
Erleichtert sank Friedrich zurück ins Gras.
Nach einer Weile hörten die beiden Komplizen das Quietschen näherkommen. Dann ertönte ein Schrei, ähnlich einem Kauz. Friedrich bekam Gänsehaut und schüttelte sich. „Ein Kauz… bringt Unglück“, murmelte er entsetzt und bekreuzigte sich.
„Hasenfuß!“, wurde er beschimpft. „Das ist nur unsere Lieferung und kein Todesbote. Reiß dich gefälligst zusammen.“ Gottfried sprang auf. „Nun komm endlich“, forderte er Friedrich auf, der wie erstarrt am Boden sitzen blieb.
Mühevoll erhob sich Friedrich und schlich Gottfried nach, der bereits zwischen den Büschen verschwand, die direkt an der Stadtmauer endeten. Dahinter befand sich einer der Zugänge zu den unterirdischen Gängen.
Das Knarren der Räder kam näher. Erneut erklang der Ruf eines Kauzes. Gottfried antwortete. Das Zeichen, dass er vor Ort war und die Lieferung entgegennehmen konnte.
„Wilhelm, hierher“, rief er dem Bauern leise zu, der einen Ochsen am Zügel führte. Auf dem Karren hinter dem Tier stapelten sich mehrere Fässer.
„Na endlich. Ich dachte schon, du hast kalte Füße bekommen“, schimpfte Wilhelm. Der Ochse samt Wagen blieb hinter ihm stehen.
„Ich nicht, aber der da“, erwiderte Gottfried und lachte leise.
Wilhelm fuhr hoch, als er Friedrichs ansichtig wurde. „Wer ist das?“
„Sei unbesorgt. Das ist mein bester Kumpel Friedrich. Er hilft mir, die Ware in die Stadt zu bringen. Ich kann das unmöglich allein schaffen“, beruhigte Gottfried den Bauern.
„Hält der auch dicht? Nicht, dass…“
„Klar, sonst wäre er nicht hier“, erwiderte Gottfried. „Und nun komm, laden wir ab. Es liegt eine Menge Arbeit vor uns.“
Es verging einige Zeit, bis der gesamte Karren abgeladen war. Der Bauer half tatkräftig mit. Nur der Ochse tat sich am Gras gütlich, das am Wegesrand wuchs. Was hätte er auch sonst tun können, außer herumzustehen.
„Die nächste Lieferung also in zwei Wochen“, flüsterte Gottfried, nachdem alles abgeladen war und er dem Bauern die Bezahlung des Wirtes überreicht hatte.
Während Willhelm die Geldstücke des Wirtes ungezählt in die Hosentasche steckte, nickte er zur Zustimmung. Dann zog er einen Beutel aus der anderen Tasche und kramte darin herum. Zum Vorschein kamen einige Münzen, die leicht silbern glänzten. „Mehr habe ich nicht. Es war ja auch nur ausgemacht, dass du allein kommst“, sagte er schulterzuckend zu Gottfried. „Das ist nun dein Problem, deinen Mitwisser zu zahlen und nicht meins.“
„Schon gut. Das ist in Ordnung“, erwiderte Gottfried, der mehr erwartet hatte, aber dazu lieber erst einmal nichts sagte. Fürs Erste war er zufrieden. Später würde er mehr verlangen, nahm er sich vor. „Aber nur dieses Mal. Beim nächsten Mal wollen wir vier Groschen mehr. Wir müssen ja teilen.“ Er sah den Bauern ernst an, der die Schultern hoch- und den Kopf einzog.
„Du bist ein Wucherer“, schimpfte der leise.
„Du willst Geschäfte machen, dann stimme zu. Ansonsten geh deiner Wege. Ich werde schon jemanden finden, der mit meinem Preis zufrieden ist“, murrte Gottfried.
„Ist ja schon gut“, wehrte Wilhelm ab und schlug ein. „In zwei Wochen wieder hier an gleicher Stelle. Seid pünktlich.“ Damit drehte er sich um, nahm die Zügel des Ochsen und ging seiner Wege. Nach einer Weile war das Knarren der Räder des Karrens nicht mehr zu hören. Stille kehrte ein.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Friedrich, nachdem der Bauer außer Hörweite war.
„Fürchterlicher Geizkragen“, schimpfte Gottfried leise. „Der denkt wohl, wir schlagen uns für lau die Nacht um die Ohren. Ich hätte jetzt Schöneres vor, als mich hier mit den Fässern rumzuquälen.“ Er grinste schief, als er an seine neue Flamme dachte, die jetzt allein in ihrem Bett lag und auf ihn wartete.
„Rückte der Alte zu wenig Kohle raus?“, bohrte Friedrich weiter in der Wunde. Ihm wurde mulmig.
„Na ja, ein wenig mehr hätte es sein können. Immerhin sind wir zu zweit“, erwiderte Gottfried. „Ich habe ihm bereits gesagt, dass er mehr rausrücken muss, wenn wir im Geschäft bleiben wollen.“ Er wandte sich den Fässern zu, deren Stapel den Eingang zum Tunnel versperrten. „Komm, Alter, an die Arbeit. Wir wollen nicht die ganze Nacht hier draußen verplempern.“
Keuchend und schwitzend rollten die beiden Komplizen die ersten beiden Fässer durch den Tunnel zum Altmarkt. Der Kies unter ihren Füßen knirschte lauter als tagsüber. Die Schritte hallten an den Wänden wider, als wollten sie vor den Heimlichtuern warnen, sie verraten.
Der alte Hubert erwartete die zwei Freunde bereits am Hintereingang seiner Wirtschaft. „Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr“, wurden Friedrich und Gottfried vom Wirt begrüßt.
„Roll du mal den schweren Mist durch die Gegend“, konterte Gottfried, der bereits nach dem ersten Fass schwitzte, als hätte er den ganzen Tag auf der Baustelle schwere Steine geschleppt.
„Ist ja schon gut. Ich bin froh, dass ihr mir unter die Arme greift“, wehrte Hubert ab. „Bringt sie rein. Hier entlang“, wies er den beiden Kumpanen den Weg in seinen geräumigen Keller. Der alte Hubert hatte das Privileg, keinen der unterirdischen Tunnel nutzen zu müssen, um sein Bier zu lagern. Sein Haus verfügte seit Anbeginn über einen sehr geräumigen Keller, den er im Laufe der Zeit immer tiefer ausgebaut hatte. Nun hatte Hubert fast unendliche Lagerkapazitäten, was ihm zugutekam. Auch wenn er als Bierbrauer eine Niete war, er fand immer andere Brauer, die ihr Handwerk besser verstanden als er und ihm gerne verkauften. Auch Hubert schimpfte schon seit Langem über die Biersteuer, die gezahlt werden musste und suchte unter der Hand Leute, mit denen er Geschäfte machen konnte. Da kam ihm Gottfried gerade recht, der ihm vor einiger Zeit wie aus heiterem Himmel ein lukratives Geschäft vorschlug. Ob sich dies rentieren würde, das würde er mit der Zeit sehen.
Gottfried und Friedrich mühten sich jeder weitere zwei Mal ab, die Bierfässer durch das Tunnelsystem zu transportieren. Dabei waren sie so leise wie möglich. Dass sie doch bemerkt wurden, ahnten sie nicht. Auch Hubert nicht. Der saß fröhlich grinsend in seinem Keller, zählte die Fässer und das Geld, das er damit einnehmen würde.
Kurz bevor Gottfried und Friedrich mit den letzten beiden Fässern eintrafen, hörte Hubert, wie es an die Wirtshaustür hämmerte. „Aufmachen! Sofort!“
Mühsam erhob sich der Alte und stieg die schmale Treppe nach oben in den Schankraum. Inzwischen wurde immer heftiger auf die Tür eingeschlagen, dass sie fast aus den Angeln fiel. Eine befehlsgewohnte Stimme schrie jemanden zu: „Du und du… ihr geht an die Hintertür. Es darf niemand entkommen!“ Schritte waren zu hören, die sich schnell entfernten.
Hubert bekam es mit der Angst zu tun. Waren sie aufgeflogen?
Erneut wurde an seiner Tür gerüttelt. „Aufmachen! Oder wir treten die Tür ein!“
„Ja, ja, ich komme schon“, ließ sich Hubert herab, zu antworten. Kaum hatte er den Riegel geöffnet, stürmten bereits mehrere Bewaffnete in Uniform der Stadt in die Schankstube.
„Du bist hier der Wirt?“, wurde er barsch von einem Mann gefragt, der sich drohend vor ihm aufbaute. Hubert konnte nur nicken. Vor Schreck wäre ihm beinahe das Herz in die Hose gerutscht.
„Zeig mir deinen Keller und deinen Braukessel!“
„Liegt etwas gegen mich vor?“, fragte der Alte scheinheilig.
„Halt die Schnauze! Hier stelle ich die Fragen!“, knurrte ihn der Büttel an. „Mach schon! Oder soll ich dir Beine machen?“
Schleppend bewegte sich Hubert vorwärts. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Was konnte er auch gegen die Büttel unternehmen? „Hier entlang“, sagte er zitternd zum Anführer, der ihm immer wieder seinen Spieß in den Rücken pikste, damit er schneller ging.
„Das ist also dein Lager“, fragte der Anführer und schaute sich im Keller um. „Sind das alles deine Fässer?“, wollte er wissen, während er jedes einzelne Fass inspizierte.
„Natürlich. Wem sollen sie sonst gehören? Wären es nicht meine Fässer, ständen sie nicht hier“, erwiderte Hubert, worauf nur ein „Hm“, als Antwort kam.
„Sehr eigenartig“, sagte der Anführer plötzlich und hielt seine Laterne näher an ein Fass heran. „Dieses Zeichen kenn ich doch. Ich weiß nur noch nicht, woher.“ Er überlegte, woher er es kennen könnte. „Sag die Wahrheit, Alter!“, fuhr er Hubert an. „Das sind keinesfalls deine Fässer!“
„Oh doch, das sind alles meine eigenen Fässer“, versuchte Hubert den Mann zu beschwichtigen. Er zitterte bereits wie Espenlaub und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
„Lüg mich nicht an!“, schrie der Anführer auf einmal. „Ich weiß, dass du lügst!“ Er griff Hubert am Schlawittchen und schüttelte den Mann, dass diesem die Zähne aufeinander klapperten.
Vergeblich versuchte Hubert, seinen Peiniger abzuwehren, weigerte sich aber immer noch, seine Untat zuzugeben.
„Gut“, hielt der Anführer ein. „Dann eben anders.“ Er zerrte Hubert hinter sich die Treppe hinauf in die Schankstube, wo sich bereits Huberts Frau, der Knecht und die Mägde versammelt hatten. Huberts Frau zeterte über die Ungehörigkeit, mitten in der Nacht gestört zu werden. Der Knecht knurrte leise vor sich hin. Die Mägde standen wie bedeppert daneben und wagten nicht, den Blick zu heben.
Der Befehlshaber der Schergen wandte sich an die jüngste der Mägde, ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren. „Wann hat dein Herr das letzte Mal gebraut“, fragte er sie beinahe zärtlich. Das Mädchen stand wie Espenlaub zitternd vor ihm und wagte es nicht, ihn anzuschauen. „Sag schon. Dir wird nichts geschehen“, lockte der Büttel.
„Vorgestern“, flüsterte die Kleine kaum hörbar.
„Wurde viel gebraut?“, hakte er weiter nach, worauf das Mädchen nur den Kopf schüttelte.
„Ein Fass, glaube ich“, brachte sie dann doch noch über die Lippen.
„Ich danke dir, bist ein gutes Mädchen“, erwiderte der Büttel und tätschelte ihre Wange. Dann wandte er sich erneut Hubert zu. „Nun zu dir, du Wicht“, knurrte er den Wirt an. „Du kommst mit uns! Wo sind deine Komplizen? Von wem ist das Bier?“
„Herr, bitte“, Hubert weinte fast. Er rang verzweifelt die Hände und rollte mit den Augen.
„Halts Maul“, schrie der Anführer und packte den Alten am Kragen. Er stieß ihn in Richtung Tür, wo seine Untergebenen standen und auf ihn warteten. Sie nahmen Hubert in ihre Mitte und führten ihn ab. „Bindet ihn“, wurde ihnen noch hinterhergerufen, was sie auch taten.
„Herr, bitte“, jammerte nun auch Huberts Frau, die die letzten Minuten regungs- und wortlos danebengestanden hatte, da es ihr die Sprache verschlagen hatte. „Lasst mir meinen Gatten.“ Sie fiel auf die Knie und umfasste die Beine des Mannes, der drohend vor ihr stand. Als sie auch noch demütig seinen Stiefel küssen wollte, traf sie ein heftiger Tritt. „Dein Gejammer nützt dir nicht! Dein Alter kommt erst einmal in den Turm. Alles Weitere entscheidet der Richter. Die Fässer sind übrigens beschlagnahmt und die Wirtschaft bis auf Weiteres geschlossen.“ Damit wandte er sich um und folgte seinen Leuten, die vor der Tür mit dem Delinquenten auf ihn warteten.
„Hast du das gehört?“, fragte Friedrich, als er mit Gottfried die letzten beiden Fässer in Huberts Wirtschaft bringen wollte.
„Was denn?“, wollte Gottfried wissen, dem Friedrichs Ängstlichkeit inzwischen auf den Nerv ging. Hätte er gewusst, was für ein Hasenfuß sein Kumpan wirklich war, hätte er die Sache allein durchgezogen.
„Bei Hubert. Da ist es sehr laut. Jemand schreit, eine Frau weint.“
„Was du schon wieder hörst“, erwiderte Gottfried.
„Doch. Hör mal!“
Und wahrhaftig, ein Geschrei scholl aus Huberts Haus. Nun wurde auch Gottfried aufmerksam. „Lassen wir die Fässer hier“, bestimmte er und schlich näher. „Himmelherrgottnochmal!“, schimpfte er auf einmal und zog sich hinter eine Ecke zurück.
„Was ist denn los?“, fragte der als Hasenfuß bezeichnete Freund.
„Da stehen Stadtbüttel an der Hintertür. Ich glaube, wir sind aufgeflogen.“ Panik machte sich in ich breit. Am liebsten würde er schnellstens fliehen, doch das würde wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Häscher auf sich ziehen. So blieb er ruhig und gelassen, als wäre nichts gewesen.
„Wir hätten uns erst gar nicht darauf einlassen sollen“, jammerte Friedrich los.
„Mein Gott, nun hab dich nicht so!“, fuhr seinen Mitwisser Gottfried an und zog ihn mit sich. „Komm, weg hier. Versuchen wir herauszufinden, was los ist.“
Die beiden Kumpane näherten sich Huberts Wirtschaft nun vom Altmarkt her. Dabei taten sie, als wären sie betrunken. Torkelnd und lauthals singend liefen sie in Richtung Schenke.
Sie sahen zwei Büttel, die den Wirt zwischen sich hatten und ihn bewachten. Hubert stand wie ein begossener Tropf zwischen den großgewachsenen Männern und rührte sich nicht vom Fleck. Wo sollte er auch hin? Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt und die beiden Bewacher ließen ihn nicht aus den Augen.
Gottfried ging schwankend näher, den lallenden Friedrich im Schlepptau. Die Tür stand offen, von drinnen drang das Weinen einer Frau.
„Ist die Wirtschaft noch offen“, fragte Gottfried scheinheilig und entließ einen Rülpser.
„Haut ab, ihr besoffenen Schweine“, wurden sie von einem dritten Büttel abgedrängt, der an der Tür stand und den Marktplatz beobachtete. „Macht lieber, dass ihr nach Hause kommt. Sonst landet ihr für den Rest der Nacht im Turm und morgen in der Früh am Pranger!“ Er baute sich drohend vor den beiden angeblich Betrunkenen auf.
„Wir haben aber Durst!“, bestand Gottfried darauf, eingelassen zu werden. „Es ist doch noch Licht. Also gibt es auch noch was zu trinken.“ Den Wirt beachtete er mit keinem Blick. Keinesfalls wollte er sich anmerken lassen, dass sie sich kannten.
„Komm schon, die sperren uns sonst wirklich ein. Ich habe keine Lust, die Nacht in der Zelle zu verbringen“, machte Friedrich die Maskerade mit, indem er den verständnisvollen Freund spielte.
„Ich habe aber Durst!“ Gottfried stampfte mit dem Fuß auf.
„Jetzt zieh Leine, du Arschgesicht“, wurde er von dem Büttel beschimpft und dann auch noch beiseitegestoßen.
Gottfried verlor die Balance und landete auf dem Hosenboden. Ein Schmerzgeheul entfuhr ihm.
„Du siehst doch, die haben zu“, mischte sich Friedrich erneut ein und zog seinen Kumpel auf die Füße.
„Ich komm ja schon“, knurrte Gottfried. „Da geh ich halt meine Alte vögeln“, kündigte er an und verschwand mit Friedrich aus dem Blickfeld der Büttel.
In einer düsteren Ecke machten die beiden Halt.
„So ein Mist“, schimpfte Gottfried, „wir sind wirklich aufgeflogen. Ich frag mich, welcher Hundsfott uns verpfiffen hat.“ Er schaute seinen Freund ernst an. „Du wirst doch wohl nicht geplaudert haben?“
„Was denkst du von mir?“, schnauzte Friedrich zurück. „Nicht mal meine Gerda weiß davon.“ Er überlegte. Seine Stirn kräuselte sich. „Wenn ich so recht überlege, der Wilhelm war mir nicht ganz geheuer. Was meinst du?“
Auch Gottfried dachte nach. „Wenn du es so sagst. Ich glaube, du hast Recht. Er kam mir heute Nacht auch so komisch vor. So ist er sonst gar nicht.“
„Anders kann ich es mir auch nicht erklären“, erwiderte Friedrich.
„Ich ebenfalls nicht“, antwortete sein Freund. „Aber verschwinden wir lieber erst einmal, ehe die uns noch auf die Spur kommen.“ Ehe sie Hubert befragen konnten, waren Gottfried und Friedrich aus der Stadt verschwunden. Nicht einmal ihre Frauen wussten, wo sie waren.
Ein paar Tage später hielt ein Karren vor dem Hof des Bauern Wilhelm. Die Besatzung sprang herab und stürmte das Anwesen. Sie erwischten Wilhelm und dessen Frau in der Braustube, wo sie eben dabei waren, die letzten ihrer gelagerten Fässer zu zählen. Auf einem Tisch stand eine kleine Holztruhe. Daneben lag ein Haufen Münzen, fein säuberlich aufgestapelt. Eins der Dielenbretter unter dem Tisch war herausgenommen. Die Truhe passte genau hinein.
Wilhelm wurde mit viel Geschrei festgenommen und abgeführt. Seine Frau ereilte das gleiche Schicksal. Beide wurden in den Turm gesperrt, wo wenig später Meister Hans, der Henker und dessen Knecht, ihres Amtes walteten.
Wilhelms Frau gab, nachdem ihr die Foltergeräte vorgeführt wurden, alles zu. Sie entging damit der peinlichen Befragung. Hubert gab bei Daumenschrauben nach und gestand reumütig. Nur Wilhelm war ein harter Knochen. Er hielt der Befragung stand. Da Hubert und auch seine Frau ihn beschuldigt hatten, entkam aber auch er seinem Schicksal nicht. Auch Gottfried und Friedrich wurden beschuldigt. Doch ihrer konnte niemand habhaft werden. Sie waren wir vom Erdboden verschluckt, als hätte es sie nie gegeben.
Nur wer der Verräter war, entzieht sich bis heute jeder Kenntnis.
© Brida Baardwijk / 31.08.2021