Nadeschda II – Engel
Sue wirbelte erschrocken herum und wollte den Arm abstreifen, doch der Griff war erschreckend fest. Sie versuchte, sich loszureißen, hörte das helle Quietschen der Zugbremsen und wusste im nächsten Moment, dass er durchgefahren war und ihre Chance damit vorbei.
Dann erst sah sie, wer sie aufgehalten hatte.
Es war eine junge Frau oder ältere Jugendliche, offenbar ein paar Jahre älter als Sue, mit goldbraunen Locken und dunkelgrünen Augen. Sie lächelte schwach, aber in den Augen stand das Wissen um das, was sie getan hatte. Und was Sue fast getan hätte.
„Ich wollte … dich nur nach dem Weg fragen. Kein Grund, sich zu erschrecken“, sagte die Frau sanft. Sue bemerkte, dass ein paar andere Fahrgäste ihr Gerangel bemerkt hatten und neugierig herüber sahen. Unter den Gaffern war auch ein Junge aus ihrer Klasse.
Niemand durfte etwas wissen. Sie ging nervös aus das Spiel der Frau ein: „Ich habe Sie nicht gehört.“
Ihre eigene Stimme kam ihr hohl und verräterisch vor. Die Frau, immer noch lächelnd, zog ihre Hand von Sues Schulter.
„Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen. Wenn du es nicht eilig hast, würde ich dich gerne für den Schock entschädigen.“
Sie bemerkte Sues misstrauischen Blick: „Du brauchst keine Angst zu haben.“
Sue schüttelte den Kopf: „Ich muss -“
„Vermutlich ist das dein Zug“, fiel ihr die Frau ins Wort: „Ich kann schlecht deinen Zeitplan durcheinander bringen.“
Wenn sie das sagte, müsste Sue in den Zug steigen. Sie hatte nicht einmal ein Ticket dabei. Sie schluckte und suchte nach einem Ausweg: „Nein, ich – also, es ist nicht mein Zug, ich -“
Die Menge um sie löste sich langsam auf. Sue sah auch ihren Mitschüler in die Bahn steigen. Was tat er so früh am Morgen hier? Samstags?
Die Frau war immer noch da. Sie lächelte unvermindert, aber es erreichte ihre Augen nicht. Ihr scharfer Blick wanderte über Sue: „Hast du noch ein bisschen Zeit?“
Sue konnte nicht anders, als zu nicken. Sie brauchte sogar Zeit. Zeit, um nachzudenken. Dabei wollte sie genau das eigentlich verhindern. Sie war verwirrt, das spürte sie. Vermutlich sah man es ihr an. Die fremde Frau ergriff ohne zu zögern ihren Arm und zog sie mit sich. Durch die Menschenmenge ging es nach unten, wo die Geschäfte lagen.
„Kaffee? Kakao? Worauf hast du Lust?“
Sue fand es seltsam, wie vertraut die Fremde mit ihr redete.
„Sie müssen mich nicht einladen“, sagte sie abwesend.
„Doch, das muss ich“, befand die Frau und zog Sue kurzerhand durch eine Glastür, die ihr nie aufgefallen war.
Sie betraten einen Laden, der bis auf sie beide leer war. Kleine Stühle standen leer und verlassen um runde Tischchen, eine Kellnerin wischte die Tische ab und hinter der Theke hob ein junger Mann den Kopf, um ihre Bestellung entgegen zu nehmen. Der Laden entpuppte sich als kleine Bäckerei, und entgegen ihres Widerstandes fand sich Sue wenig später an einem Tisch wieder, ein Tablett mit einer Tasse Kakao und einem Ei-Brötchen vor sich.
Die Frau bestellte für sich nur einen Tee und bezahlte. Sie saß Sue gegenüber auf einer mit Leder überzogenen Sitzbank.
„Wer sind Sie?“, fragte Sue und rührte ihr Essen nicht an.
„Ich heiße Nadja“, sagte die Frau lächelnd: „Darf ich deinen Namen erfahren?“
„Sue.“
„Ich freue mich, dich kennen zu lernen.“
„Was wollen Sie von mir?“
Die Frau setzte sich bequemer hin: „Ich möchte nur mit dir reden.“