Ich spürte, dass Morgen war, als ein kühler Hauch, gepaart mit zartem Nebel, mein Bewusstsein hinauszukitzeln versuchte. Noch bevor sich meine Augenlider hoben, tastete mein Geist um sich. Ich versuchte, Karon zu finden, und griff ins Leere. Erstaunt setzte ich mich auf, rieb mir den Schlaf aus den Augen und schaute mich um. Der Platz, an dem der Whyndrir noch vor Sonnenuntergang in Folge der vielen Kräuter und Tränke, die die Fuchsherzen ihm eingeflößt hatten, eingeschlafen war, war nun leer. Ich hob die Hände, schirmte meine Augen gegen das Licht der tief stehenden Sonne ab und schaute mich um. Felida und ihr Bruder saßen einige Meter entfernt um ein verrauchendes Feuer herum und knabberten Beeren von kleinen Zweigen und Ästen ab.
»Hey!« Ich erhob mich, klopfte meine Kleider sauber und näherte mich ihnen. »Habt ihr meinen Freund gesehen?«
Adrett spitzte Felida die Lippen und spuckte einen Kern vor sich in die flimmernde Glut. »Ist aufgestanden, als es hell geworden ist. Hat keinen Ton gesagt und ist da im Gebüsch verschwunden.« Ihr verklebter, roter Zeigefinger wies auf ein paar einzelne Sträucher, an die der Wand angrenzte. »Hat gut ausgeschaut«, rief sie mir nach, als ich Anstalten machte, ihm zu folgen. »Besser als gestern.«
»Danke«, erwiderte ich, aber ich wusste nicht genau, ob sie mein Gemurmel hören konnten. Ich schob mit beiden Händen ein paar Zweige fort und schielte zwischen den Ästen hindurch, ob ich den Dämon schon sehen konnte.
Nichts.
Ächzend stieß ich Zweige und Gehölz aus dem Weg und schob mich langsam immer weiter ins Unterholz vor. Ich konnte weder das Vermächtnis alter Götter noch die Gegenwart von Magie fühlen. Für mich war dieser Wald lediglich still und tief.
»Karon!«, rief ich aus. Ein Zweig peitschte mir ins Gesicht und hinterließ einen feurigen Striemen auf meiner Wange. Ich fluchte, bis ich dem Strauch entkommen war, und sah mich abermals um.
Der Wald war fahl bewachsen. Aus dem Boden sprossen handgroße, aufgefächerte Pilze. Die meisten Bäume waren nicht sehr hoch. Es schien ein junger Abschnitt eines jungen Waldes zu sein. Baumkronen gingen fließend ineinander über. Ich schloss die Augen und lauschte. Über mir zwitscherten Vögel. Der Waldboden knisterte.
»Karon?«
Ich wusste, er war hier. Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, spürte ich, wie sein Geist ganz langsam Verbindung mit meinem aufzunehmen versuchte. Ich konzentrierte mich auf sein Bewusstsein und erhaschte einen raschen Blick durch seine Augen. Ich sah Laub auf dem Boden, gewaltige, schwarze Pfoten, die einzelne Blätter aufwühlten, einen kleinen schwarzen Vogel auf einem abgebrochenen Ast. Mein Kopf füllte sich mit Eindrücken, mit Gedanken und Geräuschen. Ich hörte das Plätschern eines Wasserfalls. Als ich mich aus seinem Kopf zurückzog, lauschte ich. Auch jetzt konnte ich in weiter Ferne herabstürzendes Wasser hören. Dort würde Karon auf mich warten.
Irgendwo viel tiefer im Wald, versteckt vor neugierigen Blicken. Augenrollend kämpfte ich mich weiter voran. Ich sah noch oben. In den dicken Ästen der Baumkronen hing das Faultier, dem Felida und Urma angeblich bis zu uns gefolgt waren. Ich blieb stehen, blinzelte zu ihm hinauf. Es grinste zu mir herab.
»Du wirst mir nicht helfen, Karon zu finden, oder?«, rief ich ihm zu. Aber das Tier blieb reglos an Ort nd Stelle. Einzig seine Klauen streckten sich nach ein paar schmackhaften Blättern. »Also nicht..«
Kopfschüttelnd lief ich weiter. Wie verzweifelt war ich denn, dass ich mit einem Faultier sprach?
Dass Karon sich überhaupt die Zeit nahm, mir zu verraten, wo ich ihn finden würde, glich einem Wunder. Hatte ich denn noch mehr erwartet?
Meine Finger strichen an den Stämmen der Bäume entlang. Ich nahm mir vor, den Weg zu kosten, denn zweifelsohne lagen schwere Zeiten vor uns. Ich beschloss, die Harmonie des Waldes mitzunehmen, falls ich irgendwann ihrer Reinheit bedurfte, oder ihren Trost brauchte.
Mit zusammengebissenen Zähnen schlug ich mich durch das Unterholz, bis ich die schimmernde Oberfläche eines Sees zwischen den Zweigen hindurchsehen konnte. Ich stieß sie beiseite und taumelte aus dem Wald heraus. Tiefliegende Sonnenstrahlen tragen die durchscheinende Oberfläche. Das Wasser schien zu glitzern. Zwischen den höher gelegenen Felsen sickerte Wasser hindurch, vereinigte sich weiter unten zu einem glitzernden Fächer aus herabstürzenden Wassermassen und ergoss sich in den naturgeschaffenen Krater, der die Umrandung des Sees bildete. Große, krumme Steine bildeten die Umrandung des Sees von meiner Seite aus. An allen anderen Ufern wuchsen Schilfgräser.
»Karon?« Ich formte aus meinen Händen einen Trichter und hielt ihn mir vor den Mund. Wieder und wieder rief ich seinen Namen. Es knisterte. Irgendwo knackte ein Zweig, und als ich mich umwandt, stachen zwischen den Schildblättern zwei leuchtend rote Augen hervor.
»Karon, komm da raus! Spiel nicht mit mir. Verdammt, ich habe ein Faultier nach dem Weg gefragt. Ich bin verzweifelt. Zeig dich schon!«
Ich stemmte ungeduldig die Hände in die Hüften. Wieder knackte es. Die Kreatur im Schilf schob sich ins Licht. Rabenschwarzes Fell glänzte rötlich im Schein der Morgensonne. Die Augen füllten sich mit Feuer und Glut. Ein Kopf schob sich zwischen den Gräsern hervor, groß und grazil. Der Kopf eines Falken mit dunklen Rabenfedern übersät, gefolgt vom Leib eines Ungeheuers. Die Kreatur war albtraumhaft, groß wie ein Elefant, und ihr Blick ruhte auf meiner Gestalt.
Ich stieß erschrocken Luft zwischen den Zähnen aus und sprang auf einen der unförmigen Felsen.
Schritt für Schritt kam das Ungeheuer aus seinem Versteck und offenbarte mir das ganze Ausmaß des Schreckens: ein massiger Körper, fast wie der eines Wolfs, von schwarzgrauem Fell bedeckt und mit riesigen, todbringenden Pranken, darauf der Kopf eines Falken und zwei mächtig große Rabenschwingen, die knapp unterhalb des Halses aus dem Skelett des Ungetüms ragten.
»Karon!«, rief ich mit zitternder Stimme. »Das wäre der perfekte Zeitpunkt, aus dem Wald zu springen und mir zu zeigen, wie gut es dir geht!«
Stille. Ein Gemurmel schwoll an, wurde ein Grollen, ein Knurren. Geifer tropfte von den Lefzen des Ungeheuers, als seine Kiefer auseinanderglitten und perfekte, rasiermesserscharfe Zähne freigaben. Das Wesen taxierte mich. Es beobachtete jede meiner Bewegungen, jeden Schritt.
»Karon?«
Ich wich zurück. Mein Herz schlug mir bis zum Halse. Mühsam versuchte ich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich signalisierte meinem Freund, wo immer er auch sein mochte, dass ich ihn brauchte und spürte, wie sein Bewusstsein wie ein Leuchtfeuer aufflammte. Blitze zuckten über seine Netzhaut. Er regte sich, als würde er erstmals erwachen. Doch wo war er?
Wo war -
»Wo ist er?«
Ich sah mich um, suchte nach dem Ursprung der tiefen, dröhnenden Stimme in meinem Kopf. War jemand gekommen, um mir zur Hilfe zu eilen?
Sehen konnte ich niemanden, aber mein Geist hatte mir schon oft Streiche gespielt. Ich schaute mich, unauffällig. Ich wollte nichts tun, um die Aufmerksamkeit des knurrenden Ungeheuers auf mich zu lenken. Einen Angriff, einen Schlag mit diesen Pranken oder einen Hieb mit dem zuckenden, buschigen Schwanz, würde ich kaum überleben können. Woher kam diese Stimme? Wem gehörte sie?
»Sag mir, wo er ist!«
In meinen Gedanken explodierte Panik. Ich riss den Kopf herum und schaute zu dem Monster hinüber. Wir waren allein. War es möglich, dass dieses Ding in meinen Gedanken sprach? Konnte ich seine Stimme, seine eigenen Gedanken hören? War es möglich, dass dieses Ungeheuer durch mein Bewusstsein zu mir sprach?
Ich öffnete die Lippen, setzte zu einer Antwort an. Ganz gleich, ob ich nun den Verstand verlor, oder nicht, ich musste es versuchen. Ich musste versuchen, durchzuhalten, bis Karon hier war. Ich konnte sein Herz rasen fühlen. Er rannte, er hetzte, er kam zu mir.
»Wer?«, rief ich aus. Ich fühlte mich dumm, verrückt geworden, aber wenn meine Worte mir Zeit verschaffen konnten, wen kümmerten da die eigenen Gefühle? »Wo ist wer?«
»Der Rabendämon«, grollte die Stimme geradewegs in meinen Kopf hinein. Ich nahm sie nicht mit meinen Ohren wahr, nur mit meinem Geist. Sie war direkt im Zentrum meiner Angst gelandet.
Karon. Dieses wilde Ungeheuer suchte nach meinem Freund. Ich wich instinktiv zurück, bis meine Schuhe den Halt auf den feuchten Steinen verloren und ich mit den Armen rudernd die Balance zu halten versuchte.
»Er ist.. weg«, rief ich aus. Ich wusste nicht, ob es mir glauben würde, aber diese Lüge war meine einzige Chance. Wo blieb Karon nur?
»Weg? Wohin?«
»Ich.. weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht.« Ungeduldig fletschte das Monster die Zähne. Speichel tropfte von den fingerlangen Reißzähnen. Ein Biss und ich war tot. »Und ich glaube dir nicht.«
Muskeln und Sehnen spannten sich unter dem pechschwarzen Fell. Ich sah die Bewegung kommen, spürte die Erschütterung, als das Ungeheuer lospreschte, und konnte nicht mehr, als die Hände vors Gesicht zu reißen. Ich spannte mich, schrie in der Annahme, im nächsten Augenblick würden mich die Pranken der Kreatur zerschmettern, aber nichts geschah. Ich hörte, wie Klauen auf Stein schlugen. Funken sprühten. Kurz darauf erklang ein schauriges Knurren. Ich hielt den Atem an.
Panisch blinzelte ich, lugte zwischen zwei Fingern meiner vorgehaltenen Hände hindurch - und sah zwei Ungeheuer vor mir! Das Wesen mit dem Falkenkopf und den schwarzen Pranken stand einem schwarzen Wolf gegenüber. Mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen senkte der Wolf den Kopf, holte zum Angriff aus und packte das Monster mit seinen scharfen Zähnen unterhalb der Kehle. Das Monster kreischte, spreizte bedrohlich die gewaltigen Schwingen und schlug damit nach dem Angreifer. Ich trat zurück, wollte von diesen Monstern fort und verlor den Halt. Mein Schuh rutschte, ich geriet ins Wanken, taumelte und kippte nach hinten weg. Urplötzlich war da nichts mehr, woran ich mich festhalten konnte. Ich stürzte nach hinten. Der Aufprall auf dem transparenten Wasser schmerzte. Er zog eine heiße, brennende Spur durch meinen Oberkörper, bevor mich nagende Kälte umfing. Ich ruderte mit den Armen, kämpfte mich zur Oberfläche vor und sah durch einen Schleier auf meinen Wimpern hindurch, wie die Bestien brüllend und kreischend übereinander herfielen. Und dann sah ich etwas, das mir zuvor nicht aufgefallen war. Der Wolf besaß faszinierend grüne Augen. Karons Augen. Das zweite Ungeheuer war mein Freund in einer anderen, imposanten Gestalt.
»Karon!«, ich schrie seinen Namen, ruderte mit den Armen und Beinen und erreichte das Ufer. Der See war tief. Durch das herabschnellende Wasser war es schwer, dem Sog im dort, wo er am tiefsten war, zu entkommen. Doch es gelang mir, nach einem Schildrohr zu greifen, mich daran festzuhalten. Meine Schuhe suchten Halt an den kargen Felsen, die das Seebecken bildeten. Ich hielt mich fest und rutschte ab. Wieder und wieder kämpfte ich darum, nicht auf das Wasser hinausgezogen zu werden und bemerkte plötzlich, dass der Kampf erloschen war. Ich vernahm ein unheilvolles Knurren und sah mich kurz darauf der Bestie mit den roten Augen gegenüber. Erschrocken ließ ich das Schildrohr los und der Sog zog mich auf das Wasser hinaus. Meine Hand schnellte vor, versuchte noch einmal irgendetwas in Ufernähe zu packen - und wurde dabei selbst gefasst. Zwischen den Schildgräsern schoss eine Hand hindurch. Ich sah auf und sah, dass es Karon war.
»Halt dich fest!«, befahl er mir, langte mit der zweiten Hand zu und zog mich fast mühelos ans Ufer zurück. Als würde ich gar nichts wiegen, hob er mich an Land und sank anschließend selbst heftig atmend auf den Hosenboden zurück. Seine Augen liefen über meine Gestalt. Er suchte nach sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen, fand jedoch keine.
»Mir geht’s gut«, erwiderte ich zwischen abgehackten Atemstößen hindurch. »Ich bin nicht verletzt.« Ein Schatten fiel über mich. Ich fuhr herum. Die Bestie stand über mir. »Karon!«
Doch an Stelle eines Rettungsversuches, lachte der Dämon nur kehlig auf, kam auf die Füße und streckte sich, wie nach einem langen Schlaf.
»Aber..«, murmelte ich. Mein Blick floh zwischen meinem Freund und der Bestie hin und her. Wieso kämpften sie nicht mehr? Wieso schien Karon keine Furcht zu zeigen? Wo war seine Wolfsgestalt hin verschwunden und wieso saß die Bestie, die mir eben noch den Kopf von den Schultern reißen wollte, plötzlich friedlich hinter mir im Gras und beobachtete uns schweigend? »Was..?«
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte Karon.
»Nicht schnell genug«, pflichtete ihm die Stimme in meinem Schädel bei.
Ich riss den Kopf herum, schaute das Monster hinter mir an. »Was ist hier los?«
»Darf ich vorstellen?« Karons Hand hob sich. Einladend wies er zu dem Ungeheuer mit den roten Augen hinüber. »Das ist Lyrh.«
»Lyrh.« Ich wiederholte seine Worte, ohne deren Bedeutung zu begreifen. Fassungslos blinzelte ich. Mein Kopf schwirrte.
»Ist er schwer von Begriff?«, fragte das Ungeheuer lustlos. »Hat er sich das Hirn verletzt?«
Karon funkelte die Bestie wütend an, und das Monster rollte mir den Augen, verstummte jedoch. Es bettete lustlos das Haupt auf die mächtigen Pranken und murmelte leise Worte vor sich hin. »Hast du dir was getan?«, fragte er mich.
Ich schaute erstmals an mir herab. »Ich glaube nicht.«
»Überleg nochmal«, grollte die tiefe Stimme hinter meiner Stirn wieder. Ich reckte den Kopf und bemerkte, dass Lyrh, das Monster, mich unwirsch betrachtete.
»Was ist hier los?«
»Lyrh wird uns helfen, Selinia und Eerin zu finden«, offenbarte mir Karon, als wäre es das Normalste auf der ganzen Welt. »Als ich aufgewacht bin, überfiel mich ein Gefühl. Ich weiß, dass sie entkommen konnten, und sich auf die Suche nach uns gemacht haben.
Mein Herz schlug schneller. »Das ist unglaublich! Haben dir das die Götter mitgeteilt?«
»Wohl eher nicht. Aber ich weiß es einfach. Ich würde uns selbst zu ihnen bringen, aber meine Kräfte sind durch das Gift stark geschwächt. Ich habe es versucht, aber ich kriege kein Portal geöffnet. Deshalb müssen wir uns einer anderen Reisemöglichkeit bedienen. Erias, das ist Lyrh. Er ist ein reines Schattenblut, genau wie ich.« Er trat an mir vorüber, hob die Hand und bettete sie auf den mächtigen Kopf der Bestie. »Und mein Bruder.«