Mit Einbruch der Dunkelheit wurde mein Herz schwer und meine Hoffnung immer kleiner. Ich saß auf dem Fenstersims, hielt in der einen Hand die Rabenfeder, in der anderen die Silberkette, und schaute hinaus. Dort, hinter dem Schutzwall, lag die Lichtung, auf der Syra mich treffen wollte. Es war dunkel dort, aber ich spürte ihre Blicke auf mir. Sie war dort und lauerte in den Schatten.
Zum ersten Mal in meinem Leben hielt jemand anders all das in den Händen, was ich unbedingt haben wollte. Alles, was mir etwas bedeutete. Und auch wenn die Nacht sie verhüllte und verbarg, spürte ich das spöttische Grinsen auf ihrem Gesicht. Ich war so sehr darauf fixiert gewesen, die Wahrheit herauszufinden, dass ich dem, was wirklich wichtig war, viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Karon hatte sich tatsächlich nur darum gesorgt, mich in Sicherheit zu bringen. Dass seine eigene Unversehrtheit vielleicht nicht gewährt war, hatte er sträflich missachtet. Und ich war so wütend über all die ungesagten Dinge und Geheimnisse gewesen, dass ich sein Schweigen als Schuldeingeständnis gesehen hatte, und fast froh gewesen war, dass er nicht antwortete. Ich war wütend auf ihn, aber nun nicht mehr deshalb, weil er mich angelogen und mit vielen Fragen im Dunkeln gelassen hatte, sondern weil er mir versprochen hatte, vorsichtig zu sein, kein Risiko einzugehen. Und nun war er bei ihr, an dem einzigen Ort der Welt, an den er nicht gehörte.
Als ich am Horizont, vor dem Beginn der Bäume, ein erstes Licht aufglimmen sah, machte mein Herz einen Sprung. Es war zu spät, um umzukehren. Ich hatte mich längst entschieden. Jedes Leben war kostbar, hatten mich die Mönche gelehrt, auch das eines verlorenen Whyndrir. Er brauchte mich. Selbst wenn ich ihn nicht retten konnte, konnte meine Nähe ihm helfen, den Schmerz zu lindern.
Seit ich es für möglich hielt, dass Karon mich ungesehen zu seinem Seelenvertrauten gemacht hatte, fühlte ich mich verantwortlich, und schuldig. Ich hatte es gespürt, aber nicht wahrhaben wollen. Jetzt brauchte er mich.
Ein letztes Mal drückte ich seinen Anhänger an mein Herz und flüsterte seinen Namen. Ich versprach ihm, dass ich kommen und helfen würde, und wandte mich vom Fenster ab. Über mein Bettgestell lag der viel zu große Umhang, den ich achtlos dorthin geworfen hatte, als klar gewesen war, dass ich mich heute Nacht an den Wachen vorbeischleichen musste.
Seine Kapuze war groß genug, um mein Gesicht zu verbergen. Ich schlüpfte hinein, zog sie über und trat auf den Gang hinaus. Es war dunkel. Niemand war hier. Das ganze Schloss schien zu schlafen, oder auf etwas zu warten, das nie geschehen würde.
Ich wusste, wo die Wachen positioniert sein würden und hatte mir in den letzten Stunden einen Plan zurechtgelegt. Unten gab es ein Fenster, durch das man in den Hof hinaus klettern konnte. Mit ein wenig Geschick war es so möglich, die rar gesäten Wächter zu umgehen und ungesehen hinaus zu gelangen.
Ich schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinab und spähte um die Ecke. Kein Wachmann war zu sehen. Ich huschte weiter, den Gang entlang, bis ich das Fenster erreicht hatte. Dort angekommen öffnete ich es, beugte mich vor und spähte hinab. Unter dem Sims trennten mich zwei, vielleicht drei Meter vom Grund. Thoma hatte mir erzählt, dass man, wenn man sich an den Steinen und Ranken, die die Wand emporwuchsen, festhielt, konnte man problemlos bis nach unten klettern. In der Theorie wirkte mein Plan einfach und durchführbar. Doch als ich hinabsah, erschien er mir waghalsig und gefährlich. Ich kletterte auf den Fenstersims, ließ die Beine über den Rand baumeln und zwang mich, kein weiteres Mal, hinabzusehen. Langsam streckte ich die Hände aus und suchte Halt an der rauen Wand. Es wäre einfacher gewesen, wenn ich die Feder losgelassen hätte, aber ich konnte es nicht. Sie war alles, was mir von Karon bleiben würde, wenn wir uns niemals wiedersahen. Als meine Finger Halt fanden, drehte ich mich, packte beherzt mit beiden Händen zu und schwang mich über das Fenster hinaus. Mein rechter Fuß hakte sich bei einer Wurzel ein. Ich kletterte hinab, Stück für Stück. Mit jedem Meter wurde es einfacher. Dann, als ich erstmals wieder festen Grund unter den Füßen spürte, ließ ich los und presste mich mit dem Rücken eng an die Wand. Mein Herz raste. Es zu beruhigen dauerte ewig, aber ich musste mir die Zeit nehmen, um nicht-
»Erias?« In den Schatten des Hofes erschien eine Gestalt hinter einem der großen Bäume und winkte mir zu.
Ich schaute mich um, duckte mich fort und huschte über den verlassenen Hof, bis zu dem Baum hinüber, hinter dem Meria stand. Sie trug einen dunkelbraunen Umhang aus festem Stoff. Viel zu dick für die Jahreszeit, aber sie schien nicht zu schwitzen.
»Meria«, murmelte ich. »Was tust du hier?« Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. »Bitte, du darfst niemandem erzählen, dass du mich gesehen hast. Du-«
Ihr heftiges Kopfschütteln unterbrach mich. »Nicht doch!«, flüsterte sie. »Ich bin hier, um zu helfen!«
»Dann..« Hinter meiner Stirn arbeitete es. »Dann weißt du von Karon?«
Sie nickte verhalten. »Ja, aber wir müssen uns beeilen. Komm mit mir und seid leise.« Ihre Hand berührte meinen Umhang und zog mich sanft hinter ihr her, bis an die Mauer, die das Schloss umgab. »Hier«, fuhr sie fort und zog etwas unter ihrem Umhang hervor. Ein kleines Säckchen, das, als sie es öffnete, mit Sand gefüllt war. Rasch nahm sie etwas daraus zwischen die Finger und blies es gegen die Wand. Und dann war sie fort. Die massive Mauer, die das ganze Gelände einzäunte, schimmerte dort, wo sie der Zauberstaub berührt hatte. »Schnell!«, fauchte die Magd. »Durch mit dir!«
Sie versetzte mir einen Stoß und ich taumelte - durch die Mauer hindurch ins Freie. Ruckartig fuhr ich herum. Meria folgte mir, und als auch sie hindurchgegangen war, erlosch das Glimmen und die Mauer war wieder nur eine Wand aus grauen Steinen.
»War das..«
»Ein Zauber«, erwiderte das Dienstmädchen. »Komm jetzt! Wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Ihre Hand umschlang meine Finger. Sie zerrte mich weiter. Und während ich ihr folgte, begannen sich Zweifel in mir zu regen. Wie groß wäre der Zufall, wenn ausgerechnet die Frau, die diesen eigenartigen Brief gefunden hatte, nun auch noch eine Freundin von Karon wäre? Nur gesandt, um mir zu helfen.
Ich blieb erschrocken stehen. Sie fuhr zu mir herum, musterte mich verblüfft.
»Erias«, zischte sie. »Was-«
»Wer bist du?« Ich atmete heftiger. »Bist du eine Freundin?«
»Ich bin jemand, der auf jeden Fall verhindern will, dass Karon etwas zustößt.« Ihr Blick taxierte mich eisern. »Bitte, wir haben wirklich keine Zeit zu verlieren. Du musst mir glauben! Und jetzt komm.«
Ich folgte ihr nicht, weil mich ihre Worte überzeugten, aber plötzlich hatte ich Angst um meinen Freund. Mehr als zuvor. Ohne weitere Fragen zu stellen, hastete ich hinter ihr her, den Bäumen entgegen, zwischen ihnen hindurch, so lange, bis ihre Stämme lichter wurden, und Mondlicht von oben auf den Boden sickerte. Plötzlich fand ich mich auf einer Lichtung wieder, kreisrund und von Mondschein und Fackellicht erfüllt. Eine große, finstere Kutsche, aus glänzendem, schwarzen Holz stand an ihrem Ende. Die vier vorgespannten Pferde waren gewaltig, dunkel und von schnaubten verächtlich, als wir uns ihnen näherten.
Mein Herz wummerte. Ich streckte meine Fühler aus, in der Hoffnung, ich würde Karon finden, aber sein Geist blieb dunkel, seine Gegenwart verborgen.
»Wo ist-«
Ich wandte mich Meria zu, doch sie war verschwunden. Dort, wo eben noch die wunderschöne Dienstmagd gestanden hatte, war ihre Gestalt verflogen und ein Strudel aus lebender Finsternis, aus Schatten und Nebeln stand an ihrer Stelle dort. Ich sah verwirrt und erschrocken zu, wie sich aus dem Nichts, aus dem Abgrund des Nebels, eine andere Gestalt bildete. Sie war ebenso groß, wie die Magd, aber ihre Haut war fahl wie Sternenglanz, ihr Haar fiel wie rabenschwarzes Wasser über ihre bleichen Schultern und sie trug ein Kollier um den Hals, mit sechs funkelnden, violetten Steinen daran, in denen sich etwas bewegte. Etwas Dunkles. Auch ohne ein Wort der Erklärung, und ohne ihr begegnet zu sein, wusste ich, kaum dass sie vor mir stand, dass es sich um die Rabenhexe handelte.
Ihr geliehener Körper war von ihr abgefallen und hatte ihr wahres Wesen offenbart: Eine dunkle Präsenz, umgeben von Zauber und einer leidenschaftlichen Aura, wie kein Mensch sie haben konnte.
»Hallo, Erias«, raunte sie mir zu. Ihre Stimme war heller, als ihr Antlitz vermuten ließ. Sie klang sanft und trügerisch zart. Ich wusste sehr wohl, dass sie maßgeblich dazu beigetragen hatte, Karon in ihren Bann zu ziehen. Diese Stimme war dazu geschaffen, dunkle Zauber zu sprechen und Männerherzen zu zerschmettern.
»Wo ist Karon?«, flüsterte ich, vor Angst wie erstarrt. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich bemühte mich, ihrem Geist fernzubleiben, aber meine Gabe zwang mich dazu, ihre Dunkelheit zu lesen. Kälte dehnte sich in mir aus. Ich atmete plötzlich Eiswölkchen aus. »Ist er verletzt?«
Auf Syras blassen Lippen erschien ein amüsiertes Grinsen. »Ich hatte gehofft, du wüsstest es. Mit mir will er schließlich nicht sprechen.«
Ich setzte mit geöffnetem Mund zu einer Antwort an, als mir die wahre Bedeutung ihrer Worte dämmerte. »Er ist nicht hier«, schlussfolgerte ich, taumelte wie benommen einen Schritt zurück und warf einen Blick über die Schulter, auf die Kutsche mit den vier Pferden davor. »Du hast ihn nicht zu fassen bekommen. Er ist frei.«
»Er suchte mich auf, bot mir allerdings keine Möglichkeit, ihn zurückzuholen. Stattdessen«, sie deutete ein Nicken in meine Richtung an, »zeigte er mir unbeabsichtigt einen Weg auf, um zu ihm durchzudringen. Nein, er ist nicht hier. Und wenn ihn jemand verletzt hat, dann mit Sicherheit nicht ich. Wieso denken alle, ich warte zehn Jahre auf einen Mann, um ihn dann in Stücke zu reißen?« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Aber ich bin überzeugt davon, dass er mich besuchen wird, nun, da der Anreiz groß genug ist. All das ist nur durch dich möglich, mein lieber Königsjunge. Du bringst mir Karon wieder.«
Ich strauchelte. Karon war frei. Meine verkrampften Finger lösten sich. Ich hob die Hand und starrte auf die Feder, die auf meiner Handfläche lag, bis sie ein Windhauch packte und mir entriss. Ich wusste, was ich gefühlt hatte. Diese Feder gehörte zweifelsohne ihm.
»Ich habe sie aus der Höhle holen lassen«, erklärte die Rabenhexe mir schelmisch. »Sie lagen dort überall herum und mussten ja zu irgendetwas gut sein.« Mit langsamen Schritten kam sie mir näher und drängte mich zielstrebig der Kutsche entgegen. »Fürchtest du mich, Erias? Welche Gruselmären hat Karon dir auf eurer Reise über mich erzählt?«
»Ich nutze dir gar nichts«, erwiderte ich entschieden. Doch während ich sprach, schwang die Tür der Kutsche auf und vier rabenschwarze, vermummte Gestalten traten heraus. Keine von ihnen besaß ein Gesicht. »Karon wird nicht kommen, um nach mir zu suchen. Unsere Verbindung ist schon vor Tagen abgerissen. Er interessiert sich nicht mehr für mich.«
»Aber du sorgst dich um ihn. Du wärst nicht hier, wenn dem nicht so wäre. Und das sagt mir, dass nichts an eurem Band zerbrochen ist. Ich kenne Karon seit so vielen Jahren. Seine falschen Moralvorstellungen lassen nicht zu, dass er tatenlos zusieht, während ein Anderer an seiner Stelle leiden muss. Er wird den Helden spielen und sich vor dich werfen. Er wird zu jeder Zeit alles tun, um die zu bewahren, denen er Bedeutung zumisst. Das weiß ich, denn er war bei mir und versprach mir, um meine Seele zu kämpfen. Nicht einmal mich kann er aufgeben. Und du bist sehr viel wertvoller für ihn, als du glaubst.«
Nein, das würde er nicht.
Die Luft versiegte in meiner Kehle. Ich wollte auffahren, meine Wut entfesseln und sie anschreien, aber der Schrecken lähmte all meine Glieder.
»In die Kutsche mit ihm!«, befahl die Rabenhexe düster. »Wir warten. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass Karon schon sehr bald bei uns sein wird!«
Zwei der ausgestiegenen Gestalten packten mich daraufhin am Arm. Ich versuchte, mich loszureißen, aber ihre Hände saßen fest wie Schraubstöcke. Ich zog an ihnen, vergebens. Als würde ich nichts wiegen, zerrten sie mich zur Kutsche hin. Ein Dritter öffnete die Tür.
Ein leises Stöhnen begleitete das Gefühl, mit dem sich mein Herz krampfartig zusammenzog. »Syra, bitte!«
Doch sie lächelte nur. »Gib ihm einen Augenblick. Ich weiß, er wird kommen.« Verheißungsvoll tippte sie mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. »Glaub mir, ich weiß, wie sein Verstand funktioniert. Dich hier zu lassen? Undenkbar. Jemanden im Stich zu lassen, ist für Karon so abwegig, wie sich eine Niederlage einzugestehen.«
»Lasst mich los!«, fauchte ich. Erfolglos.
Noch einmal warf ich mich in den Griff meiner Wächter und versagte. Doch kaum, dass ich einen zweiten Kampfversuch wagen wollte, schob sich ein Hauch über mein Bewusstsein. Eine Präsenz erhellte meinen Verstand. Die Sonne ging hinter meiner Stirn auf.
›Nein‹, flehte ich im Stillen, hob unauffällig den Blick und ließ ihn über den Himmel schweifen. Ich erwartete beinahe, dort den großen Raben zu entdecken, aber er war nicht dort. »Nein!«
Einer meiner Wächter packte beherzt zu. Seine Hand grub sich tief in meine Schulter und dann begriff ich.
›Erias‹, raunte mir eine Stimme zu, während Finger schmerzhaft in meine Muskeln drückten.
Ein sanfter Hauch berührte mich und für den Zauber eines einzigen Augenaufschlags war mein Kopf von Karons Gedanken erfüllt. Die Hand meiner Wache lockerte sich und festigte sich binnen einer einzigen Sekunde erneut. Massiv und sanft zugleich lag sie auf meiner Schulter, wie ein zarter Händedruck.
›Hör zu‹, wisperte die Stimme in meinen Verstand. Wild klopfend reagierte mein Herz mit unglaublicher Macht auf den vertrauten Klang in meinem Kopf. ›Vertrau mir, und dir wird nichts geschehen. Steig in die Kutsche.‹
Ich hörte auf, mich zu wehren und starrte erschrocken in die Finsternis unter der Kapuze. Karon? ›Das ist eine Falle.‹
›Ich weiß‹, antwortete er ruhig. ›Steig in die Kutsche. Ich habe alles gehört, was sie sagte.‹
›Du wusstest es?‹, murmel ich verwirrt.
›Ja. Hab keine Angst‹, fuhr er fort und umfasste meinen Arm mit ungeheurer Kraft. ›Ich bin an deiner Seite. Jetzt steig in die Kutsche.‹
Ich wollte ihm glauben, aber mein Verstand fürchtete sich davor, dass er sich irren könnte. Dennoch atmete ich durch, funkelte Syra ein letztes Mal wütend an und ließ mich dann scheinbar widerstandslos von den beiden Männern zur Kutsche geleiten.
Karons Erscheinen legte mir eine Wahrheit offen, die ich gerne vergessen hätte. Er war tatsächlich da. Und wenn er wusste, dass ich in Gefahr geraten war, dann musste er auch gehört haben, wie ich nach ihm gerufen hatte. Wieso hatte er so lange geschwiegen?
›Bitte sag mir, dass du einen Ausweg kennst‹, bat ich ihn. Als die Vermummten mich losließen, zupfte ich meinen Umhang zurecht, um Zeit zu schinden.
›Ich arbeite daran.‹ Auch ohne sein Gesicht zu sehen, erkannte ich das unterdrückte Schmunzeln in seiner Stimme. Meine Verzweiflung erheiterte ihn. Ich wollte ihn für diese dämonische Bosheit hassen, aber die Wahrheit ist, dass seine Unbeschwertheit auch mir etwas Freiheit schenkte und ich ihm nicht böse sein konnte. ›Gedulde dich einen Augenblick. Mir wird etwas einfallen.‹
Dann stand plötzlich Syra hinter mir. Neben mir begann Karons Herz zu rasen. Wie ein Uhrwerk trieb es ihn an, ein kontrolliertes, gezähmtes Uhrwerk.
Auf Syras Lippen lag ein wildes, düsteres Lächeln, unter dem ihre Mundwinkel amüsiert zuckten. »Rein mit dir, Königssohn«, sagte sie und streckte die Hand aus, um mir eine Strähne hinter das Ohr zu streichen. »Du willst doch die Nacht nicht im Freien verbringen, oder?« Ihre Hand wanderte so dicht an Karon vorbei, dass selbst ich den Funken spüren konnte, der sie zurückzucken ließ.
Einen Augenblick lang stand die Zeit völlig still. Das verräterische Kribbeln hallte zwischen ihnen nach. Ich starrte Syra an, während sich das Beben über meine Glieder ausbreitete. Ich beobachtete, wie sich der verwirrte Ausdruck auf ihrem Gesicht in ein sanftes Lächeln wandelte. Sie hob zaghaft beide Hände und schob mit einer fast liebevollen Geste Karons Kapuze zurück.
»Sieh einer an«, raunte sie ihm zu, die Hände noch immer an seinem Gesicht. »Ich habe damit gerechnet, dass du schnell sein würdest, aber dass du so schnell bist, habe ich nicht erwartet.«
»Bin ich so durchschaubar?«, fragte er diebisch grinsend. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Angst oder Erstaunen zu erkennen. Hatte er nicht begriffen, dass er ihr ins Netz gegangen war? Wusste er, wie fatal sein Fehler sein würde, wie schwer er wog? Oder war das alles nur ein seltsames Spiel für ihn? »Ich wollte doch so unvorhersehbar sein, wie du mich haben wolltest, und dich in einem Augenblick größten Erstaunens mit meiner Gegenwart überraschen.« Mit einem Schlag wurde er todernst. »Aber du musst uns gehenlassen.«
Sie vollführte eine vielsagende Geste und die vermummten Gestalten, die mit ihr hergekommen waren, wichen respektvoll vor uns zurück. Sofort umfasste Karon mein Handgelenk und zog mich näher an seine Seite.
Syra hob den Arm und ich spürte, wie ein Zauber ihre Handfläche verließ. Aber er berührte mich nicht, weil Karon neben mir stand und ihn durch einfache Geste abfing und wie Papier in seiner Hand zerknüllte. Die Magie, die ihm innewohnte, verblasste in der zusammengeballten Hand des Dämons. Silberstaub rieselte zwischen seinen Fingern zu Boden. Karon hatte den Zauber zerstört und seine verheerende Wirkung aufgehoben - einfach so.
Demonstrativ streckte er die Hand vor und blies der Hexe den Staub entgegen, der von ihrem Zauber übrig war. »Ein hübscher Trick. Hast du noch mehr für mich, als eine Handvoll Feenstaub, Liebste?«
Ich fühlte Ehrfurcht in mir aufwallen. Natürlich wusste ich, dass er mächtig war, aber er hatte es mir nie bewiesen. Und nun war ich Zeuge seiner inneren Stärke geworden.
»Ein Whyndrir also«, flüsterte Syra. Ihr Lächeln bröckelte. »Ich wollte dir zunächst nicht glauben, aber es bestehen keine Zweifel mehr daran, dass du die Wahrheit sagst. Du hast dich aus meinem Bann gewunden. Und jetzt? Werden wir uns bekämpfen, bis du meine Seele geheilt und deine zerstört hast? Auch ein Whyndrir kann nicht ohne Konsequenzen mit der Magie Theremals spielen. Du opferst deine sterbliche Seele, wenn du mit diesen Mächten spielst.«
»Nicht, wenn du uns gehen lässt«, sagte Karon sanft. »Ich bin noch nicht bereit für dich, und wenn wir kämpfen, wird es böse enden.«
»Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Und du kannst diese Lichtung nicht gemeinsam mit dem Jungen verlassen.« Sie schaute ihn an und ihr Blick wurde ernst und hart. Die aufgesetzte Fröhlichkeit welkte dahin. »Egal, was du tust, und ob du kämpfst oder nicht, du kannst euch nicht beide retten.«
In Karons smaragdgrünen Augen glomm ein bedrohliches Funkeln auf. »Dieses Kind bedeutet dir nichts. Er ist nur ein dummer, leichtgläubiger Junge, der keinerlei Wert für dich hat«, erwiderte Karon energischer und legte erstmals den Dämon frei, den ich nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Seine Aura verfinsterte sich und dort, wo sein Geist mich eben noch sanft berührt hatte, gefror seine Güte zu Eis. Ein dunkler Schimmer trat in seinen Blick und auch seine Gedanken verfinsterten sich langsam. Blitzschnell trat er vor und packte sie mit einem gezielten Griff am Arm. »Wenn du uns nicht ziehen lässt, gehen wir ohne dein Wohlwollen. Ich brauche deine Erlaubnis nicht, um diesen Ort zu verlassen.«
»Ich will dir nahe sein!«, fuhr Syra ihn an. »Ich will in deiner Nähe sein und musste dich mit eigenen Augen sehen, damit ich glauben kann, dass du zurückgekehrt bist. Ich habe dich vermisst, du sturer Esel!«
Sie schnaubte verächtlich, aber ich sah, dass ihre Hände zitterten. Ihr Stolz war aufgesetzt, ihr Inneres fassungslos und hitzig zugleich. Sie war nur minder beherrscht, und ich wusste, dass sie Karon gefährlich werden konnte. Nicht durch Magie oder Zauberei, aber durch ihr Wesen, durch kleine Gesten und Blicke. Denn ich spürte auch in ihm eine Veränderung.
Sein Herz schlug schneller als zuvor. Er blickte sie an und ich hatte ihn nie zuvor ein anderes Wesen so anschauen sehen. Voller Sehnsucht. Voller Träume, die sich nicht erfüllen konnten, wenn er jetzt davonlief. Und ich fragte mich, ob es einfältig oder egoistisch von mir war, aber dieses Glück wünschte ich ihm nicht. Unter keinen Umständen durfte er bei ihr sein.
Er entwand ihr sein Gesicht und ließ mich langsam los. »Ich bin nicht deinetwegen zurückgekommen«, sagte er leise. Seine Stimme hatte sich verändert. Der Zorn darin war verraucht und nun lag etwas Wehmütiges darin. »Dieses neue Leben gehört Erias und der Aufgabe, meine Schwächen mit seinen Stärken auszugleichen. Und umgekehrt.« Er seufzte, sah in ihr Gesicht und fuhr entschlossen fort. »Für uns Beide ist kein Platz, solange wir nicht vernünftig miteinander umgehen können.«
»Vernünftig?«, erwiderte die Rabenhexe und lachte gellend auf. Mit einem Ruck befreite sie sich aus seinem Griff und funkelte ihm zornig entgegen. »Seit wann sind wir denn vernünftig? Hast du vergessen, wie viel Blut durch unsere Finger geronnen ist, weil wir allen Schattenblütern ein besseres, freieres Leben verschaffen wollten? War das vernünftig? Ich werde euch unter gar keinen Umständen erlauben, gemeinsam diese Lichtung zu verlassen. Wenn du es wagst, mich zu bekämpfen, dann ist der Junge tot, ehe du auch nur einen Zauber wirken kannst! Ich scherze nicht.«
Ein knarrender Laut ließ mich herumfahren. Karon drehte sich an meiner Seite in die gleiche Richtung. Die vier vermummten Gestalten hinter uns hatten unbemerkt ihre Bögen aufgelesen, einen Pfeil eingespannt und jede Spitze wies zitternd auf mein Herz. Mit einem Ruck fuhr der Whyndrir zu Syra herum. »Wenn du dem Jungen auch nur ein Haar krümmst-«
»Er kann auf der Stelle gehen!«, zischte die Hexe. »Es liegt nur an dir. Ganz gleich, wie viel Stärke du dazugewonnen hast, du kannst nicht jeden Zauber und jede Waffe abwehren, die auf dieser Lichtung das Leben des Jungen bedrohen. Du hast nur eine einzige Möglichkeit, ihn heil hier herauszubringen. Und dieser Weg ist eine einfache Entscheidung: Bleib bei mir, und ich lasse deinen Zögling auf der Stelle gehen.« Ein kleines Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Das ist alles, was ich von dir verlange.«
›Karon‹, murmelte ich, als ich ein loderndes, schwarzes Feuer sein Bewusstsein Stück für Stück niederbrennen sah. ›Du darfst jetzt nicht den Kopf verlieren.‹
Karons Blick streifte mich. Ich sah, dass das wunderschöne Grün aus seinen Augen fast verschwunden war. Nur noch ein schmaler, farbiger Ring lag um seine deutlich vergrößerte Pupille. Der Dämon verschlang seine Selbstkontrolle. Zum ersten Mal konnte ich mir vorstellen, wovon Selinia gesprochen hatte. Ich sah Karon vor meinem inneren Auge ganze Schlachtfelder in Trümmern legen und ohne jegliche Berührung das Leben aus unzähligen Leibern pressen. Zum ersten Mal war er das Schattenwesen aus dem Abgrund meiner Albträume.
Ich hätte ihn fürchten sollen, aber ich konnte es nicht. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und berührte seinen Arm. Es war eine kurze, eine flüchtige Geste, aber ich sah in seinem Profil, wie sich seine Pupille zusammenzog und der satte grüne Ring um sie sich auszudehnen begann.
»Karon, geh nicht«, bat ich ihn. »Ich würde nie verlangen-«
»Sei still«, befahl er mir kühl und warf mir aus den Augenwinkeln einen düsteren Blick zu. »Du hast nicht auf mich gehört und uns beide erst in diese dumme Lage gebracht! Ab jetzt verhandle ich.« Er schob sich einen Schritt von mir fort, dann einen zweiten. Er hob die Hände rechts und links neben seine Schläfen, um Syra zu signalisieren, dass er keinen Widerstand leisten würde. »Ich werde keinen Zauber wirken«, gab er ihr mit rauer Stimme sein Wort. Jede Silbe war schärfer als alle Klingen dieser Welt. In seiner Stimme lebte keine Freude mehr, kein Triumph. Er resignierte vor der schwarzen Hexe. Meinetwegen. Nur meinetwegen. Wegen eines dummen Schwures, den meine Mutter hätte mir ins Grab nehmen sollen. »Ich werde keinen Bann und keinen Zauber weben, keinen Fluch sprechen und keinen Widerstand leisten. Aber ich erwarte mehr als dein Ehrenwort, den Jungen zu verschonen.« Seine Stimme bröckelte. »Ich erwarte von dir, dass du niemals mehr die Hand gegen ihn oder ein anderes Wesen erhebst, dessen Leben mir etwas bedeutet. Du wirst deine Diener abziehen, und in dein Schloss zurückkehren. Nur dann, nur wenn du dein Wort hältst..« Seine rauen Worte versiegten. Er schluckte, schlang seine Wut und seine Abscheu hinunter und ließ langsam die Hände sinken. »Nur dann werde ich mit dir gehen.«
»Nein!«, entfuhr es mir sofort. Ich wollte auf ihn zustürzen, mich in seine Arme werfen und ihn anflehen, sich nicht auf Grund meiner Dummheit aufzugeben, aber Karon ließ mich nicht. Ich sah ihn die Hand in meine Richtung heben, und mein ganzer Körper wurde steif. Ich konnte keinen Finger mehr rühren. Magie kribbelte in meinen Beinen. Nie zuvor hatte ich einem Bann unterlegen, aber ich erkannte ihn sofort. Die Macht, die mich lähmte, die meinen Leib und meine Gedanken fesselte - wie hatte er selbst Jahrzehnte in diesem Zustand verbringen können?
»Das ist meine Entscheidung«, grolle er, verzog die Lippen zu einem eiskalten Lächeln und hielt mich an Ort und Stelle fest. Ich sah, wie er, während er den Zauber webte, mit den Zehen in der Erde grub, um sich ihre Macht zu sichern. »Ich sagte dir, wenn du das Schloss verlässt, bist du in Gefahr. Du hättest auf mich hören sollen, dann wäre uns beiden dieser Augenblick erspart gebliebe!« Mit diesen Worten ließ er mich los und ich gewann die Kontrolle über meinen Körper zurück. »Jetzt verlieren wir beide.«
Als er sich umdrehte und die ersten Schritte in Syras Richtung ging, fühlte es sich an, als würde meine Welt zusammenbrechen. Ich sah ein Meer aus bunten Punkten vor meinen Augen tanzen. In meinen Ohren rauschte Blut und schlug an meinen Verstand, wie schaumige Wellen an eine hohe Klippe. Ein mühsam aufgebautes Trugbild von einer gerechten Welt begann sich langsam von meiner Netzhaut zu lösen und legte eine Wirklichkeit bloß, die mich erschreckte. Das Mondlicht schien nicht mehr silbern, sondern grau und fahl wie das Unheil. Der kleine Windstoß, der durch die Äste und Zweige wehte, glich dem Vorübergehen eines Geistes. Ich fror, hob die Arme und rieb über meine eiskalten Schultern.
Nie zuvor hatte ich mich derart einsam und wertlos gefühlt. Nie zuvor hatte ich einen Freund besessen und so sehr gekränkt, wie Karon. Meine Unachtsamkeit drängte ihn an den Ort zurück, von dem er mit all seiner Macht geflohen war. In Syras ausgebreitete Arme.
Der Augenblick, in dem sie ihre kreideweiße Hand hob und der Whyndrir seine Finger in ihren verschränkte, presste die Luft aus meinen Lungenflügeln. Ich schaute in seine Seele und sah, dass der Schamane in ihm mit aller Macht kämpfte. Er brannte Zauber und Schatten nieder und setzte sich gegen den Teil seiner eigenen Seele zur Wehr, den Karon verzweifelt unterdrücken wollte. Den, der diese Frau trotz all ihrer Schandtaten noch immer liebte.
Er bezwang zwar den Fluch, der sie einst aneinanderfesselte, aber nicht die Liebe, die wie ein Feuer in ihren Seelen aufflammte.
»Ich wusste, du kommst zurück«, flüsterte sie ihm zu und strich mit der freien Hand über seine Schläfe. Er und die Hexe tauschten einen raschen Blick, dann sagte sie mir: »Ich stehe zu meinem Wort. Geh heim, Königssohn. Weder du noch dein Schloss oder dein Land hat in Zukunft etwas vor mir zu befürchten.« Behutsam hob sie die Finger an Karons Gesicht. »Und die Welt wird nie verstehen, was dein Herz für sie getan hat.« Sie seufzte. »Ich will nach Hause.«
›Karon‹, flüsterte ich ihm zu und berührte behutsam seinen Geist.
Er ließ mich augenblicklich ein, öffnete mir seine Gedankentür und empfing mich gekränkt und traurig, aber ohne Groll. War seine Wut nur gespielt? Sein Zorn nur Taktik?
›Ich will nicht, dass du gehst‹, ließ ich ihn wissen. ›Ich will, dass du wegläufst. Ich bin der, der einen Fehler begangen hat. Lass mich dafür geradestehen.‹
Doch an Stelle der Kälte seines Blickes umfing mich seine Herzenswärme. ›Ich habe den Entschluss, uns durch diese Geste Zeit zu verschaffen, schon lange ehe ich diese Lichtung betrat, gefasst. Ich ahnte bereits, dass sie nur einer von uns wieder verlassen würde. Ich war bereit dazu, dieses Risiko in Kauf zu nehmen. Dich trifft keine Schuld, Erias. Und ich könnte nicht gehen, wenn du bleiben musst. Ich kann das Band zwischen uns nicht ausnutzen, um dich für meinen Fehler büßen zu lassen. Es wird Zeit, dass ich selbst die Schuld auf mich nehme. Ich habe dieses Monster erschaffen. Es zu zähmen, ist meine Bürde, nicht deine.‹
Sein Fehler bestand darin, eine Frau getroffen und ihr sein Herz geschenkt zu haben. Seine Schuld bestand darin, dass er liebte. Und sein dämonisches Wesen nicht für Gefühle geschaffen war.
›Ich werde mit ihr gehen‹, bat er mich. ›Syra kann und wird mir nichts zu Leide tun. Kein Zauber wird bei mir wirken. Ich bin nicht in Gefahr. Und wenn ich dort bin, wird sie abgelenkt sein und sich anderen Dingen widmen.‹
Ich bemerkte, wie er zwiegespalten auf seine und Syras verschränkten Finger hinab sah. Dann hob er den Kopf, sah mich ein letztes Mal an und sagte laut und fordernd, in ernstem Tonfall: »Ich weiß, du kennst die Bedeutung meines Fluches inzwischen.« Ja, die kannte ich. »Finde einen Weg. Lass nicht zu, dass ich vergesse, wie man weint und lacht. Wenn du stark bist, bin ich es auch.« Nachdrücklich fesselte mich sein Blick. »Rette mich«, sagte er mit fester Stimme und betonte jedes einzelne Wort. »Hast du verstanden?«
»Ja«, antwortete ich stockend.
Hilflos und ausgebrannt stand ich da und schaute ihn an. Die Wärme in seinem Inneren, die er nur mir offenbarte, verwandelte sich wieder in die Kälte, die jaulend durch seine Eingeweide fuhr. Sie übernahm wieder die Kontrolle und verwandelte ihn wieder in das Wesen, dem ich in der Höhle begegnet war.
Fester denn je wusste ich, dass er meine Nähe brauchte, um sich bei Sinnen zu halten, dass ihm meine Gegenwart Hoffnung und Kraft gab.
»Geht heim, junger König. Noble Gesten sollte man dankend annehmen«, flüsterte mir die Hexe zu, schnippte in die Finger - und sie und Karon waren im Inneren der Kutsche verschwunden.
Er war fort. Vielleicht für immer.
Die Pferde wieherten und noch während ich wie benommen auf die schwarze Kutsche blickte, die sich langsam zwischen den Bäumen entfernt, schwappte eine Flut von Kälte über meinen Körper und ich war allein.