»Reden?«, echote ich wie in Trance. Eerin ging vor mir in die Knie, wie er seine Hände unter Karons Leib schob und ihn mir entriss, wie er ihn mir wegnahm, forttrug, und mit dem Dolch im Fleisch seitlich an den nächstgelegenen Baumstamm lehnte. »Ich will jetzt nicht reden. Ich muss das Messer ziehen. Ich-«
Als ich aufstehen wollte, legte Selinia ihre Hand auf meine Wange und schüttelte sanft den Kopf. »Nein, bitte«, seufzte sie. »Hör mir zu.«
Plötzlich wusste ich nicht, ob ich sie noch klar sehen konnte. Meine mentalen Fühler streckten sich. Ich wollte nicht sie berühren, sondern Karons Bewusstsein kosten, aber es war tief und fest hinter einer Wand aus Schweigen verborgen.
»Ja«, murmelte ich. »Gut.«
»Ich hätte schon längst mit dir sprechen sollen«, seufzte die Fee angespannt. Ihre Finger zitterten noch. »Ich wusste nur nicht, wie. Und dann ging alles so schnell und uns blieb keine Zeit zum Reden. Er ist deine Familie. Ich weiß, du liebst ihn, aber diese Verbindung ist gefährlich.«
Schweigend nickte ich. Mein Kopf fühlte sich nach wie vor taub an. Ich war kaum fähig, zu denken. Ihre Worte sickerten durch mich hindurch, wie Sand in einem Stundenglas.
»Karon ist gefährlich«, fuhr sie mit ernster Miene fort. »Du hast gesehen, was geschieht, wenn sich sein zweites Gesicht zeigt. Dieses unberechenbare Wesen in ihm kennt keine Freundschaft, keine anderen Regeln als die, die es selber macht, und es schreckt vor gar nichts zurück. Dieses Wesen wird zu jeder Zeit alles tun, um Karon zu beschützen. Ohne ihn stirbt es. Bisher hat es auf unserer Seite gestanden. Wir haben das gleiche Ziel verfolgt. Aber du hast mit eigenen Augen gesehen, wie schnell sich das ändern kann.«
Ich nickte wie in Trance. Aus den Augenwinkeln schielte ich zu Karon hinüber. Das Messer steckte noch immer in seinem Fleisch und vergiftete sein Blut. Seine Brust hob und senkte sich sanft, gleichmäßig. Er wirkte trotz seiner Blässe seltsam friedlich. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern zuckte sein Erwachen, aber er war noch weit davon entfernt. Dort, wo mich sein Bewusstsein sanft begrüßen sollte, klopften meine Sinne an eine verschlossene Tür.
Was lauerte dahinter? Freund oder Ungeheuer?
»Was willst du mir damit sagen?«, murmelte ich. Ich schob die Erkenntnis von mir, auch wenn sie wie Wassertropfen mein Bewusstsein aushöhlte.
»Es gibt eine Prophezeiung deiner Mutter. Eine wirre Vision, die sie wohl im Fieber ereilte. Ich bin in der Bibliothek darauf gestoßen, in einem ihrer Tagebücher.«
»Und?«
»Sie besagt, dass ein Dämon deinen Tod bringen wird.« Sie sie mich ansah, schwammen ihre Augen in Tränen. »Ich wollte dir, solange es möglich ist, nichts davon erzählen. Ich habe gehofft und gefleht, dass dieser Tag nie kommen wird. Dass es nur Albträume einer kranken Frau waren, und Karon viel stärker ist, als die gestaltlose Bestie des Whyndrirs. Aber das ist er nicht. Du hast gesehen, wie ihm dieses Ding die Lichter ausgeblasen hat.«
»Eine Prophezeiung meiner Mutter?« Ich blinzelte verwirrt. »Von meinem Tod.« Letzteres war keine Frage, sondern eine Feststellung. Meine Stimme klang blechern. Meine Augen und meine Gedanken wanderten zu dem Dämon hin. »Und du glaubst daran?«
Ein mildes Lächeln flutete ihr Gesicht. »Deine Mutter glaubte wohl daran. Was denkst du, hat sie dazu bewogen, ihn vor der Welt zu verstecken? Hast du nicht gefühlt, wie knapp es diesmal war? Was, wenn es wieder geschieht? Wenn diesmal kein rettender Dolch zur Stelle ist?«
»Das war nicht Karon. Das war der Whyndrir!«
»Welche Rolle spielt das noch, wenn du gestorben bist?«
In ihren Augen suchte ich nach der Wahrheit. »Du kannst ihn nicht aufhalten.«
»Das habe ich doch schon.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, als die Wahrheit an die Pforte meines Verstandes klopfte. »Du kannst ihn nicht in diesem Zustand lassen wollen!«
»Doch, das will ich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, während sie angespannt von einem Fuß auf den anderen trat. »Wir haben uns geschworen, dich zu beschützen. Wir waren uns einig, dass du an erster Stelle stehst. Für Karon hatte dieser Vorsatz absolute Priorität. Er würde wollen, dass du in Sicherheit bist.«
»Das«, erwiderter ich feindselig und deutete zu ihm hin, »würde er mit Sicherheit nicht wollen!«
»Das«, entgegnete die Düsterfee und imitierte bewusst meinen abwertenden Tonfall, »wollte niemand. Aber Karon hat dich angegriffen. Was glaubst du, wäre geschehen, wenn es ihm gelungen wäre?« Aus feuchten Augen funkelte sie mich ebenso bedauernd wie herablassend an. »Du magst glauben, dass er zu jeder Zeit alles riskieren würde, nur um Syra wiederzubekommen. Aber so ist das nicht, Erias. Wenn Karon zwischen dir und ihr stünde, dann würde er, wenn er nur einen retten kann, immer dich wählen, und mit ihr zu Grunde gehen. Er würde dich wählen. Du bist die sterbliche Familie, nach der er sein ganzes Leben lang gesucht hat. Du bist das Licht am Himmel, das ihn jeden Morgen daran erinnert, wofür er diese Schlacht schlägt.« Sie seufzte. »Du bist das Kind einer reinen, aufrichtigen Liebe. Und es hätte seine Liebe sein sollen. Es war seine Liebe. Karon hat deine Mutter geliebt, Erias! Er hätte alles für sie getan!«
Ich schluckte meine Wut und meine Verzweiflung hinunter und ließ Selinia stehen. Ihre Worte eckten an meinem Verstand an. Ich wollte sie nicht hören, und noch weniger glauben. Ich wollte nichts mit ihnen zu tun haben.
Langsam näherte ich mich dem Dämon. Eerin schaute mich an, doch er ließ mich gewähren. Als ich an Karons Seite in die Hocke ging, folgte er meiner Bewegung.
»Er ist ein Krieger«, raunte er mir zu, als ich die Hand ausstreckte und ihm eine lose Strähne aus der Stirn wischte. »Ich kenne nicht viele, die es wagen würden, sich für einen Funken Freiheit mit einem Whyndrir zu verbinden. Aber Karon tat es. Er tat es für die Zukunft. Um eines Tages wieder frei zu sein, und ein Leben führen zu können, in dem er sich wohlfühlte. Es würde ihn umbringen, wenn er wüsste, dass du seinetwegen leiden musst.«
»Und das hier bringt ihn nicht um?«
Eerin schüttelte sanft den Kopf. »Nein. Kein Gift der Welt kann einen Whyndrir töten. Sein Körper wird das Gift bekämpfen. Früher oder später wird er aufwachen und sich erholen.«
»Also ist euer fantastischer Plan, dieses Messer in ihm drin zu lassen, bis er sich selbst heilen kann?« Ich drehte den Kopf und beobachtete, wie Selinia sich beschämt wegdrehte. »Oder bis ich alt geworden bin, und mein Leben nichts mehr wert ist?«
»Erias, bitte.« Selinia seufzte. »Wir sind genauso überrumpelt, wie du.«
»Nein«, entgegnete ich. »Ihr wusstet von diesem ganzen Prophezeiungskram. Ihr hättet es mir sagen müssen. Ich bin völlig unvorbereitet. Ich-« Ich fuhr mir mit beiden Fingern durchs Haar. »Ich will allein mit ihm sein. Jetzt.« Ich suchte erst ihren, dann seinen Blick. »Das seid ihr mir schuldig.«
Und obwohl ich sicher war, sie würden meinen Wunsch ablehnen, nickte Selinia. »In Ordnung. Aber du solltest eines wissen. Dem Whyndrir bedeutet eure Bindung nichts. Im Gegenteil. Wenn er kann, wird er sie zerstören. Und wenn er glaubt, dass du zwischen ihm und seinem Ziel stehst, wird er dich aus dem Weg räumen. Er wird dich kompromisslos ausradieren und vom Angesicht der Welt wischen.«
»Das würde Karon nie erlauben.«
»Er wird nicht unbedingt gefragt, was er will. Es tut mir leid, dass du es auf diesem Wege erfahren musstest.«
»Ja«, wisperte ich. »Mir auch..«
Aber meine Worte klangen sicherer, als ich mich tatsächlich fühlte. Ich war nicht dumm. Ich wusste, dass Karon hätte kämpfen wollen, und der Whyndrir dennoch gewonnen hätte. Wieso hatte ich die Macht dieser fremdartigen Kreatur so unterschätzt? Wieso war mir nicht klar gewesen, wie finster und mächtig dieser Fluch war? Karon hatte wieder und wieder mit mir darüber sprechen und mich warnen wollen. Wieso nur hörte ich nie zu, wenn es wichtig war?
Zum ersten Mal war ich auf eine Version des Dämons getroffen, die mir keine Chance ließ, zu reden, sie zu erreichen und zu besänftigen. In allen anderen brenzlichen Augenblicken war Karon so beherrscht aufgetreten, dass ich immer die Möglichkeit hatte, an seine Vernunft zu appellieren. Diesmal war es anders gewesen.
Ich war nicht sicher, ob das Gift damit zu tun hatte, oder ihn Syras Verschwinden mitnahm. Vielleicht war es ein Resultat aus all den kleinen Fehlern, die er uns zu Liebe begangen hatte. Aber eben gerade hatte der dunkle Teil seines Wesens versucht, alles auszulöschen, was der Karon liebte.
Und ich hatte ihn nicht darum kämpfen sehen. Natürlich wusste ich, dass er gekämpft hatte. Niemals würde er akzeptieren, dass irgendjemand oder irgendetwas versuchte, Syra oder mir zu schaden, aber der Whyndrir-Geist war so viel stärker als er selbst, dass er ihm chancenlos erlegen war. Wie vertraute man einem Wesen, das sich selbst nicht über den Weg traute? Wie viel bedeutete meine Zuversicht angesichts dessen, dass Karon keinen Einfluss darauf hatte?
Mit gesenkten Lidern tauchte ich tief in meine Gedanken hinab. Dort am Grund all meiner Hoffnungen lag noch immer das Wissen begraben, dass dieser Dämon alles war, was mich mit meiner Vergangenheit verband. Dass er Freund, Familie und Lehrer für mich sein konnte und wollte. Aber über diesem Wissen lauerte ein neuer Feind - der Zweifel. Ich wollte ihm vertrauen, ihm jedes Wort glauben und anerkennen, dass er mich vorziehen würde. Ich wollte Selinias Worten eine Bedeutung zumessen, aber ich konnte es nicht.
Ich dachte an meine Mutter. Daran, dass sie ihn geliebt hatte, und vielleicht sogar meinem Vater vorziehen wollte. Dennoch hatte sie ihn überlistet und weggesperrt. Würde ich den selben Fehler begehen können, wie sie? War ich fähig dazu, zuzusehen, wie Karon in seinen eigenen Gedanken gefangen an diesem Ort verblieb und auf den Tag wartete, an dem er sich befreien konnte? Durfte ich ihm das gleiche Schicksal aufladen, wie sie es getan hatte?
Oder war ich klüger? Wusste ich, wem ich vertrauen musste, egal, wie oft ich enttäuscht werden würde?
Ich wartete, bis meine Freunde sich weit genug entfernt hatten, damit ich meine Gefühle loslassen konnte. Beschämt, gekränkt und entwürdigt legte ich eine Hand auf seine Schulter. Mein Freund hing leblos an den Baumstamm gelehnt und hätte er nicht geatmet, hätte ich ihn für tot gehalten.
»Sie hat recht, weißt du?«, raunte ich ihm zu. »Du hast mich umbringen wollen, und wenn es dir gelungen wäre, wärst du vielleicht so dumm gewesen, mit mir zu gehen. Ich habe deinen Stolz und deine Stärke immer bewundert, aber heute habe ich gesehen, wie viel es dich kostet. Ich will dich niemals wieder eine solche Schlacht schlagen sehen. Du hast mich gebeten, dir zu vertrauen, und ich wollte es tun. Ich wollte es wirklich. Aber du hast mir gezeigt, dass es unmöglich ist, auf dein Wort zu wetten.«
Langsam ließ ich die Hand sinken. Eine große Leere breitete sich mehr und mehr in mir aus. Ich schaute ihn an, betrachtete ihn ganz genau und fühlte, wie die Verbundenheit unserer Herzen mich dazu verleiten wollte, leichtsinnig zu sein. Meine Mutter hatte ihr Leben gegeben, um Karon zu beschützen, und nun, da ich von ihrer Vision wusste, musste ich auch erkennen, dass sie es vielleicht getan hatte, um mich zu retten. Indem sie Karon half, Syras Fluch abzuschütteln und ihn an schließend wegschloss, wiegte sie mich in trügerischer Sicherheit. Ich blinzelte ihm ins Gesicht und fragte mich, ob er wohl davon wusste. Ob er ahnte, dass sie ihn geopfert hatte, um mich zu retten? Hatte sie ihm deshalb den Schwur abverlangt, für meine Sicherheit zu sorgen? Wusste sie, was sie von ihm verlangte?
Ich wünschte, diese Worte nicht sagen zu müssen, aber ich konnte sie nicht zurückhalten.
»Vielleicht haben sie alle recht, und es wäre besser, du würdest schlafen, und niemals in Versuchung geraten, irgendeine dahergelaufene Prophezeiung zu erfüllen. Ich wünschte, du könntest den Whyndrir einfach siegen lassen, anstatt immerzu mit ihm ringen zu müssen. Aber eine Welt ohne dich ist keine Welt, in der ich leben will. Ich brauche die Hoffnung, dass du dich selbst heilen und wiederfinden kannst. Und du..« Ich seufzte. »Du hast gesagt, du brauchst jemanden, der an dich glaubt.«
Mit einem Seitenblick auf Selinia und Eerin, die in ein angespanntes Gespräch vertieft waren, ließ ich die Hand über seinen Rücken wandern, und umschlang den Griff des Dolches. Im Bruchteil einer Sekunde fasste ich den Entschluss, ihm nicht die gleiche Bürde aufzuladen, wie meine Mutter. Sie hatte getan, was sie tun musste, um ihre Familie zu schützen, und Karon einem furchtbaren Schicksal überlassen. Aus Liebe. Und auch ich liebte ihn. Und zwar so sehr, dass ich nicht fähig war, ihren Weg zu gehen. Ich schloss die Augen, atmete ein und zog das Messer aus seinem Rücken. Ein friedlicher, kleiner Seufzer kam über seine Lippen.
Die Klinge fiel aus meinen Fingern zu Boden. Ich hob noch einmal den Kopf und vergewisserte mich, dass mir niemand zugesehen hatte. Dann zog ich den kleinen Rabenschädel aus meinem Kragen, schlang meine Finger um Karons Hand und klammerte mich mit aller Macht an ihm fest.
»Ich vertraue dir.«
Mit diesen Worten klammerte ich meine rechte Hand um den Anhänger und wünschte mich so weit fort, wie ich nur konnte: in die kalte, raue Isolation Theremals.