Ich schlief tief und traumlos. Als ich erwachte, dämmerten am Horizont die ersten Streifen einer aufsteigenden Sonne. Es war kalt, und ich fror trotz des Umhangs, den Karon mir in der Nacht übergeworfen hatte, ganz erbärmlich. Ich zog den Stoff enger um mich und setzte mich auf, blickte mich um. Ich erkannte Lyrh. Er lag wenige Meter entfernt zwischen den kargen Sträuchern und atmete ruhig. Er schlief noch immer. Karon saß neben ihm, lehnte an der Seite seines Bruders und hielt sich die fast vollständig verheilte Wunde. Ich sah, wie Magie seinen Fingern entströmte. Magie, die er aus einem Ast bezog, den er ausgerissen hatte und in der Hand hielt.
Als er bemerkte, dass ich zu ihm hinübersah, ließ er den verwelkenden Ast fallen und kam auf die Füße. »Gut geschlafen?«
»Wenig geschlafen«, verbesserte ich ihn. »Und halb erfroren.«
»Ein Feuer könnte uns verraten. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob Therion uns bereits auf den Fersen ist. Tut mir leid, Kleiner. Halt noch etwas durch.«
Ich nickte. »Wann brechen wir auf?«
»Sobald ich es über mich bringen konnte, meinen Bruder zu wecken. Lyrh kann zum Tier werden, wenn er aus dem Schlaf gerissen wird. Gib ihm noch einen Augenblick Zeit.«
»Was macht deine Wunde? Ich habe gesehen, dass du immer noch mit der Heilung zu kämpfen hast.«
»Mit der Heilung nicht. Aber mit dem Gift. Worin auch immer dieser Dolch getränkt war, wäre ich damit länger in Berührung gekommen, hätte es böse enden können.«
»Glaubst du denn, Therion wollte dich umbringen?«
»Nein. Ich denke, er hat die Wirkung des Giftes unterschätzt. Oder er wollte mich so lange aus dem Verkehr ziehen, bis er einen Weg gefunden hat, mir etwas anderes anzutun. Jedenfalls kehren meine Kräfte nur schleppend zurück.«
»Welches Wesen sondert ein solches Gift ab? Ich dachte, du bist unverwundbar durch-«
»Magie. Viele Arten davon. Aber nicht alle. Und offenbar auch nicht gegen jedes Gift. Vielleicht stammt es vom Thural, dem Abkömmling der Drachen, einem Shelkhu, einer uralten Schlange, die einst alte Tempel und Ruinen bewachte, einem Findelkurz, Grenzwolf oder einer anderen Schreckensgestalt. Ich weiß es nicht, aber es tut höllisch weh. Und es verzehrt meine Kräfte wie Feuer die Luft.«
»Immer noch kein Portal?« Ich seufzte. Ich war enttäuscht, aber nicht wütend. Karon war der Letzte, dem ich Vorwürfe wegen seiner Schwäche machen würde.
»Nein«, entgegnete er ernst. »Meine gesamte magische Kraft ist blockiert. Ich spüre sie, aber ich kann sie nicht nutzen. Noch nicht. Ich brauche noch etwas mehr Zeit.«
»Hast du von so etwas schon einmal gehört?«
»Gehört, ja, aber berührt wurde ich von so einer Macht noch nie zuvor.«
»Du konntest dich verwandeln«, stellte ich nachdenklich fest.
»Das ist eine andere Art von Magie. Etwas, das der Whyndrir nicht beeinflussen kann. Es ist meine Natur.« Er warf einen Blick zu Lyrh zurück. »Ich wecke ihn.«
»Warte noch«, bat ich ihn leise. »Hast du noch irgendetwas gespürt?«
»Von Selinia und Eerin?« Nachdenklich schüttelte er den Kopf.
»Und von Therion und Syra?«
»Nein«, entgegnete der Dämon. Als ich ihren Namen nannte, schluckte er schwer als könne dessen Klang kaum ertragen. »Und jetzt lass mich meinen Bruder wecken.«
Wenige Augenblicke später hob Lyrh den Kopf und suchte nach uns. Ich wartete. Sie sprachen kurz miteinander, dann stand Lyrh auf und streckte seine Glieder. Krallen blitzten unter seinen Pfoten auf. Die Sonne stieg über den Felsen auf. Ihr warmes, weiches Licht zauberte vielfarbige Reflexe in sein glattes Fell.
»Sind Whyndrir und Menschen eigentlich immer so früh wach?«, fragte er unwirsch.
»Meistens«, antwortete ich, während Karon in die Hocke ging und seine Handfläche auf den festen Grund presste.
Er schloss die Augen. Sein Bewusstsein weitete sich, wie eine Blüte. Gierig trank er die Stärke der Erde, um seine eigenen Kräfte aufzufüllen. Seine Gedanken strömten frei durch seinen Körper, hinein in Theremals Tiefe. Seine Macht wanderte durch den Boden, durch das feine Geflecht aus Wurzeln, hinab ins Herz der Welt. Er suchte. Und er fand. Seine Augenlider hoben sich schleppend.
»Sie gehen nach Nordosten, nach Ni’ek. Eerin wurde im Kampf verletzt. Sein Blut hat heute Nacht die Erde berührt. Viel davon. Ich kann ihn heilen, wenn ich bei ihm bin. Ich spüre, dass noch sehr viel Leben und Widerstand in diesen Blutstropfen steckt. Er wird durchkommen.«
»Das alles weißt du, weil du den Boden berührt hast?«, stellte Lyrh anerkennend fest. »Ich habe schon einiges über Schattenschamanen gehört, aber ich wusste nicht, dass sie so etwas können. Was noch?«
»Ich bin immun gegen Zauberei, ich kann schneller und besser heilen und mit Theremals Elementen kommunizieren.«
»Er kann Götter fühlen«, mischte ich mich ein.
Lyrh hob eine Augenbraue. »Du bist weit gekommen, Bruderherz. Schattenblut, Hofzauberer, Heiler, Hexenfreund und jetzt Whyndrir. Wann wirst du je am Ziel deiner Reise sein? Wollen wir aufbrechen?« Lyrh spreizte demonstrativ seine dunklen Schwingen. »Bis nach Ni’ek werden wir ein paar Stunden brauchen und ich kann euch nur in die Nähe bringen, nicht in die Stadt selbst.«
»Das genügt uns«, sagte der Whyndrir. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis meine Kräfte zurückkehren. Du hilfst uns schon, wenn du uns nach Oara bringst, und über die Berge. Den Rest schaffen wir alleine. Erias, steig auf und halt dich fest.«
»Könntest du..«, setzte ich ein wenig beschämt an, »..heute bei mir bleiben? Ich mag deinen Bruder, aber kannst du ein wenig bleiben?«
Ein gütiges Lächeln erhellte die Miene des Dämons. »Natürlich.«
Als die Sonne am höchsten stand, breitete sich das Gebirge unter uns aus. Bergspitzen ragten hinauf bis in die Wolken. Einige von ihnen waren vollkommen verschluckt und verschleiert. Der Himmel hatte sich grau verfärbt, der Wind nahm kontinuierlich zu. Ein Schwarm Kristallvögel zog in Lyrhs Schatten dahin. Ihre durchsichtigen Leiber und die kantigen Konturen verliehen ihnen ein seltsames Aussehen. Wie Eiszapfen standen ihnen die Federn vom Leibe. Die wenigen Sonnenstrahlen, denen es gelang, die Wolkenwand zu durchbrechen, machten ihre Leiber nahezu unsichtbar. Sie begleiteten uns eine Weile. Wiegten sich unter Lyrhs massigem Leib in trügerischer Sicherheit und zogen schließlich ab, um an einer steilen Felswand zu rasten.
Ich fror. Mein Bewusstsein schaute sich um. Ich ließ den Blick in die Tiefe wandern, als hoffte ich, sie dort irgendwo am Felsen klettern zu sehen.
»Spürst du irgendwas?«, rief ich über die Schulter zurück.
Karon reckte das Gesicht der versteckten Sonne entgegen. »Nein«, gab er zurück. »Sie könnten längst in der Stadt sein. Mit Sicherheit weiß ich das erst, wenn ich den Boden berühre.«
Aber eigentlich wussten wir beide, dass wir in Ni’ek auf unsere verlorengegangenen Freunde treffen würden. Der Wind raunte uns die Wahrheit zu. Ich nickte, betrachtete aus den Augenwinkeln sein Profil und bemerkte plötzlich zum ersten Mal, dass sich unsere Beziehung langsam aber stetig gewandelt hatte. Meine Angst vor ihm war verschwunden. Ganz. Ich zweifelte nicht mehr an ihm. Er war nicht mehr nur Bindeglied zu meiner Vergangenheit, sondern auch mein Freund. Ich traute ihm, mochte und respektierte ihn so tief, dass ich aufgehört hatte, seine Motivation in Frage zu stellen.
Wir schwiegen. Der Wind nagte an uns. Wir waren müde, unsere Knochen taten weh, und Lyrh zeigte erstmals Erschöpfungserscheinungen. Die meiste Zeit über hielt ich die Augen geschlossen und dachte über unser bevorstehendes Wiedersehen nach. Ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen würde, Sel wieder in die Arme zu schließen. Und als ich die Lider erstmals wieder hob, sah ich am Horizont eine dunkle Wolke stehen, die steil in den Himmel aufragte. Rauchschwaden von vielen kleinen Feuern, die über die ganze Stadt verteilt aufstiegen. Vor uns ragte Ni’ek auf, die Stadt am Fuße der Berge.
Die Häuser wirkten aus der Luft klein und verfallen. Die Stadt selbst alt und bescheiden. Prunk und Glanz suchte man hier vergebens.
»Ich setze euch hinter der Stadtmauer ab«, sagte Lyrh. Er verlor schnell an Höhe.
»Lyrh hasst Menschen«, sagte Karon zu mir. Es schien ihm ein Bedürfnis zu sein, das Verhalten seines Bruders zu rechtfertigen, auch wenn es für mich gar keine Rolle spielte. »Er begibt sich niemals freiwillig in ihre Nähe.«
»Aber ich wünsche euch, dass ihr eure verlorenen Freunde findet.«
»Das werden wir«, entschied der Whyndrir. »Ich spüre sie schon. Du hast uns sehr geholfen. Ich stehe in deiner Schuld, Lyrh. Sollte ich dir je zur Hilfe eilen müssen, bedarfst du eines Zaubers oder eines Freundes, hast du ihn einmal mehr in mir gefunden. Vergiss das nicht.«
Lyrh lachte und diesmal kam der Laut tatsächlich aus seiner Kehle. »Warte nicht so lange, bis wir uns das nächste Mal sehen. Wenn ich wieder ein halbes Jahrhundert nichts von dir höre, erkläre ich dich für tot.« Ich sah die Erde näherkommen. Lyrh setzte so leicht auf, dass ich den Stoß kaum merkte. »Passt auf euch auf«, bat er uns, während er niedersank, um uns absteigen zu lassen. Ich werde mich noch eine Weile in der Nähe aufhalten. Passt auf euch auf.«
»Ich werde mich zeitnah nicht noch einmal abstechen lassen«, versprach ihm Karon mit einem schiefen Grinsen, schwang sich von seinem Bruder herunter und klopfte ihm dreimal auf den Hals.Ihre Beziehung war komplex, aber ich spürte, wie viel sie einander bedeuteten. Auch wenn sie darüber nicht sprachen. »Danke«, endete er und wandte sich ab.
Seine Bewegung wirkte endgültig und ich wusste, er würde sich nicht nochmals umdrehen. Deshalb stieg auch ich herunter, raunte Lyrh ein heiseres »Danke«, zu und huschte an die Seite meines Freundes. Hinter uns raschelten Federn. Ich hatte gelernt, dieses Geräusch zu lieben, auch wenn es nicht Karons Rabenschwingen waren, die sich auf- und zufalteten. Stumm trat ich an seine Seite und hob den Blick. Die Stadt wirkte von hier unten größer als aus der Luft. Es gab eine Stadtmauer, aber sie war alt und verfallen. Einen Wächter gab es nicht, aber unzählige ungewollte Eingänge, im morschen Mauerwerk.
»Die Einwohner von Ni’ek sind einfache Menschen«, sagte Karon zu mir. »Wir fallen am wenigstens auf, wenn wir uns bedeckt halten. Wenn wir sie nicht finden, werden wir nicht in der Stadt bleiben.« Als Karon meinen fragenden Blick bemerkte, grinste er verschämt. »Ich liebe Menschen und deshalb bringe ich sie nicht in Gefahr. Komm.«
Wir entfernten uns von Lyrh. Ich schaute nicht zurück, ich wusste nämlich, dass er nicht mehr hinter uns stand. Er hatte zwar versprochen, in der Nähe zu bleiben, aber er würde nicht dumm herumstehen und darauf warten, dass wir verschwunden waren. Und genau das taten wir. Karon führte mich an der Mauer entlang. Die Sonne stand inzwischen tief und ragte an einigen Stellen kaum über die aufgeschichteten Steine hinweg. Dort, wo wir die Mauer überquerten und Ni’ek betragen, schimmerte ihr rotes Licht über einen brüchigen Rest eingestürzter Steinblöcke hinweg. Ich folgte meinem Freund, immer weiter in feindliches Gebiet.
Da dies immer noch Oara war, und Therion vielleicht damit rechnete, dass wir unsere entlaufenen Freunde wiederfinden wollten, waren wir noch immer im Fokus der Gefahr. Sicherheit lag weit entfernt, und wir beide wussten, wie schnell sich das Blatt für uns wenden konnte. Doch wir ignorierten es. Ließen Angst und Zweifel zurück und besannen uns auf das, was wir mit Sicherheit wussten: Unsere Freunde waren Therion entkommen und nach Ni’ek geflohen. Eerin war verletzt und bedurfte möglicherweise Karons Hilfe, und wenn wir ehrlich waren, dann brauchten wir auch ihre. Ohne sie waren wir allein, standen mit dem Rücken zur ganzen Welt hin und wussten nicht, wohin wir gehen, wem wir trauen, und an wen wir uns im Zweifelsfall wenden konnten. Wir brauchten sie mindestens genauso, wie sie und, und obendrein war ich nicht der Einzige, der Selinia vermisste.
Kaum, dass er den ersten Fuß auf die Erde Ni’eks gesetzt hatte, spürte ich im Geist des Whyndrir eine tiefe Sehnsucht unter all der Sorge aufkeimen. Ich sagte nichts, denn ich wusste genau, wie ähnlich wir empfanden. In vielerlei Hinsicht waren wir gar nicht so verschieden, wie es manchmal den Anschein machte.
»Bist du bereit?«, fragte er mich plötzlich. »Oder brauchst du noch einen Augenblick?«
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich stehengeblieben war, während ich ihn schräg ansah. »Machst du Witze? Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen! Hast du sie gefunden?«
»Ich weiß, dass sie hier sind. Ganz in der Nähe. Zwei Freunde in einer fremden Stadt. Sie sollten sich verstecken, aber ich kenne Sel. Wenn Eerin verletzt wurde, wird sie unvernünftig. Sie wird Orte aufsuchen, die sie meiden sollte. Und du weißt, in Oara sucht man mich wegen Hochverrats.«
»Du solltest besser eine andere Gestalt annehmen. Eine, in der du sie aufspüren kannst und-«
Mit einem diebischen Grinsen verschwamm Karons Gestalt. Auch diesmal ging seine Verwandlung so schnell, dass ich Einzelheiten kaum erfassen konnte. Aus seiner Haut spross büschelweise schwarzes Fell. Seine Glieder, Muskeln und Knochen zogen und dehnten sich. Er schrumpfte, fiel auf alle Viere und war mit einem Schlag wieder der imposante, schwarze Wolf mit den smaragdgrünen Augen. Ich atmete langsam aus. Meine Gedanken suchten seine. Ich versuchte herauszufinden, was er fühlte, während sein Körper diese Wandlung durchlebte. Ob es schmerzte, oder nicht. Aber seine Gedanken blieben unbewegt und gelassen.
»Nicht gerade unauffällig«, murmelte ich, aber ein Mann und ein Rabe wären wohl weitaus ungewöhnlicher. »Na schön.« Ich rieb die Handflächen aneinander. »Finde sie!«
Er bleckte die Zähne, als wollte er grinsen. Sein Kopf senkte sich, bis seine Schnauze fast den Boden berührte. Seine Nasenflügel blähten sich auf. Diese Gestalt war mir fremd und doch so tief vertraut, wie all seine vielen Gesichter. Er mochte anders aussehen, anders riechen und sich anders bewegen, aber unter dieser Maske war er noch immer da. Stets der Alte.
Er richtete sich auf, straffte die Schultern. Seine Augen bewegten sich, als suchten sie die Straße vor uns ab. Dann schielte er zu mir hoch, machte die ersten Schritte und wartete geduldig, bis ich zu ihm kam.
»Wenn wir sie finden, sage ich ihnen, dass es dir leidtut, geflohen zu sein.«
Er nickte mir wortlos zu und stapfte los.