Lebensodem
»Ich bin eine Tochter des Lichts!«, zischelte Selinia zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Ich kann euch nicht einfach in die Schattenwelt folgen! Und Eerin-« Sie schaute ihn unsicher an. »Wer weiß, was mit ihm geschieht, wenn wir ihn in die Welt bringen, die der, die ihn zur Welt gebracht hat, am unähnlichsten ist?«
»Karon weiß, was er tut. Er braucht etwas Rückhalt aus seiner Welt, um Eerins Bein zu heilen. Seine Kräfte sind nach der Vergiftung noch nicht vollständig zurückgekehrt. Er schafft es hier nicht. Du wirst dich entscheiden müssen. Entweder, wir gehen das Risiko ein, oder Eerin verliert sein Bein. Oder sein Leben.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Auch wenn ich Selinia noch nicht annähernd so lange kannte, wie Karon oder Eerin wusste ich dennoch, dass sie sich richtig entscheiden würde. »Je mehr Zeit wir verlieren, desto schlechter wird es Eerin gehen, und umso mehr Kraft wird Karon brauchen, um ihn wieder in Ordnung zu bringen. Du weißt, er würde euch nicht wissentlich in Gefahr bringen.« Ich schaute flüchtig zu dem Wolf hin, der neben meinem Bein hockte und hechelnd zu uns aufsah. Er war angespannt, aufgeregt, er wollte helfen, aber konnte nicht. »Vertrau ihm einfach.«
»Es waren noch nie eine Fee oder ein Himmelswesen in dieser dunklen Welt, und schon gar nicht gemeinsam. Er kann überhaupt nicht wissen, was passiert.«
Aber er wusste es. Aus irgendeinem Grund spürte ich, dass Karon diesmal genau wusste, was zu tun war, und ich wünschte, er hätte es ihr selbst sagen können. Doch in seiner jetzigen Form musste er die Verhandlungen mir überlassen.
Plötzlich huschte er von meiner Seite, unter dem Tisch hindurch und nahm an Eerins Seite Platz. Auch wenn sein Wolfsgesicht nicht viel Spielraum für Mimik und Gesten boten, las ich doch in seinen Augen eine rätselhafte Entschlossenheit. »Lassen wir Eerin entscheiden«, sagte ich daraufhin, ließ Selinia stehen und trat an den gefallenen Krieger heran. Ich bettete eine Hand auf seine Schulter, und als seine Lider hochklappten, setzte ich mich auf den nächstgelegenen Stuhl. »Hey«, raunte ich ihm zu. Ich ließ ihm Zeit, um zu erkennen, wer ich war. Erst, als er sich langsam aufsetzte, und ich sein Schwanken bemerkte, streckte ich den Arm aus, um ihn festzuhalten.
»Das hat ganz schön lange gedauert«, tadelte er mich, doch das Lächeln, das seine Lippen kräuselte, machte klar, dass er scherzen wollte. Auch in seiner Situation war er noch immer unfähig dazu, seinen Zustand ernst zu nehmen. Und genau deshalb mochte ich ihn. »Wo ist Karon?«
»Hier.« Behutsam nahm ich seine Hand und führte sie unter den Tisch. Karon bog den verschwitzten Fingern des Zers seinen Hals entgegen und duldete, dass Eerin in sein Fell packte. »Wir sind in Ni’ek. Er muss sich im Verborgenen halten. Aber er kann dir helfen. Er kann es nur hier nicht tun. Er will, dass wir ihm in seine Welt folgen. Karon ist geschwächt. Um dir zu helfen, braucht er mehr Kraft, als er im Augenblick aufbringen kann. Es ist deine Entscheidung, aber ich-«
»Er soll es tun.« Stolz räusperte sich der Krieger, richtete seinen Oberkörper aus eigener Kraft auf und klammerte sich an dem Stuhl fest, um sich langsam zu erheben. Ich wollte ihm helfen, aber seine Aura verriet mir mit Nachdruck, dass ich ihn diesen Schritt alleine gehen lassen musste. Also warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Selinia musterte uns ungehalten. Ihre Lippen waren zusammengepresst, bildeten einen einzelnen farblosen Strich. »Ich bin bereit.«
Der Zer bückte sich nach einem langen, knöchernen Stab, auf den er sich während ihrer Flucht wohl gestützt hatte. Ich reichte ihn ihm und blieb hinter ihm, als er aus seiner Ecke gehumpelt kam und Selinia im Vorbeigehen mit einem spitzbübischen Grinsen betrachtete. »Wo ist dein Abenteuergeist hin, meine Liebe?«, feixte er. »Einmal Nejdra sehen. Bist du denn nicht neugierig?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte deinen Kopf untersuchen sollen, nicht dein Bein. Den hat es offenbar schlimmer erwischt.«
Eerin rang sich ein keckes Lächeln ab. Ich war froh, dass er selbst vernünftiger zu sein schien, als Selinia. Er stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Stab und durchquerte das Gasthaus allein, nur unter strenger Beobachtung des schwarzen Wolfes an seiner Seite. Im Vorübergehen warf ich dem Wirt ein Nicken zu und folgte ihnen. Ich hoffte inständig, Selinia würde es uns gleichtun. Und tatsächlich nahm sie mir an der Tür die Klinke aus der Hand und stürmte wie ein Wirbelwind hinaus. Ich konnte fühlen, wie sehr sie bei Eerin sein wollte. Wie groß ihr Wunsch war, an seiner Seite zu stehen. Obwohl wir uns gerade erst wiedergefunden hatten, besaß sie nur Augen für ihn. Nur für ihn, nicht für mich. Doch verübeln konnte ich es ihr nicht. Auch wenn sie Erkenntnis schmerzte, neu war sie nicht. Und insgeheim schien ich längst Frieden damit geschlossen zu haben. Jedenfalls dachte ich das.
Doch als mir die kühle Nordluft ihren Geruch um die Nase wehte, rissen alte Wunden auf und plötzlich tat es wieder weh. Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte sie nicht verlieren, nicht gehen lassen müssen, und mein Kopf weigerte sich, zu verstehen, dass dies tatsächlich eine Option war. Nein, für mich war es keine. Ich wollte ihre Hand halten, ihre Nähe spüren, aber es war falsch, sich zwischen sie zu drängen.
Dies war Eerins Zeit. Seine zweite Chance, die Frau glücklich zu machen, die ich liebte. Scharf sog ich Luft zwischen den Zähnen hindurch ein. Kaum war der Gedanke erst gedacht, war es unmöglich, ihn zurückzunehmen und ich sah mich einer Wahrheit gegenüber, die ich eigentlich unterdrücken wollte: Ich war in sie verliebt. Kindlich, scheu, naiv, und voller falscher Vorstellungen, aber es war Liebe. Und sie war unmöglich abzustellen.
Draußen wirkte Karon aufgewühlt. Er winselte, zog sich in eine dunkle Ecke zwischen den eng aneinander gebauten Häusern zurück und nahm ungesehen fremder Augen wieder seine menschliche Gestalt an. Er warf seinen Wolfskörper einfach ab, wie einen Mantel. Ich sah mich um. Außer uns war niemand auf den dunklen Straßen zu sehen. Der Wind war scharf und schneidend. Niemand, der nun mehr draußen sein musste, verließ heute Abend noch das Haus.
Ich winkte Selinia und Eerin zu mir und trat zu dem Dämon in den tröstenden Schatten, der alle Halbwahrheiten in sich verschlang.
»Karon!«, stieß Selinia hervor. Sie warf sich um seinen Hals, schlang die Arme um ihn und drohte, ihn in Liebe zu ersticken. »Ich hatte solche Angst um dich! Was ist passiert? Was hat Syra getan?«
Er berührte mit den Lippen kurz ihre Stirn. »Alles wird gut«, versprach er. »Bitte vertrau mir. Ich gebe dir alle Erklärungen, die ich habe, sobald wir in Nejdra, und in Sicherheit sind.«
»Muss es wirklich die Schattenwelt sein?« Als sie sich von ihm löste und beschämt zu Boden blickte, wurde ihre Unsicherheit sichtbar. »Ich habe Angst.«
»Ich habe jedes Wort gehört, meine Liebste. Aber es muss sein. Und es wird gutgehen.« Er schob sie beiseite, streckte den Arm aus und nahm Eerin den Stab ab. »Komm, mein Freund. Lass uns dein Bein retten.«
Er umschloss die Finger des Zeren fester, und Eerin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Dass ausgerechnet du mein Bein retten willst..«
Aber er sprach im Fieberwahn und Karon nahm ihm seine Sticheleien nicht krumm. Im Gegenteil. Er schien selbst ein wenig amüsiert. Eerins trockene, ehrliche, und manchmal unpassend humorvolle Art, lockerte Karons eiskalte Seele auf und ließ den Whyndrir, dem Dämon untergeordnet, ein klein wenig verschwinden. »Lass uns hoffen, dass dir von meinem Zauber diesmal nicht die Finger abfallen.« Als sein Blick mich traf und er schließlich: »Du weißt, was du tun musst?«, fragte, nickte ich zustimmend und zog den silbernen Rabenschädel hervor.
Sofort bezog die Düsterfee an meiner Seite Stellung und schmiegte sich an meine Hand. Sie wusste es nicht, und sollte es nie erfahren, aber mein Herz machte in jenem Augenblick einen einzelnen schmetterlingshaften Sprung.
Mein nächster Schritt führte mich in Karons Gedankenwelt. Ich griff nach ihm, während er Bilder vor meinem inneren Auge heraufbeschwor. Da waren Bäume, große Wurzeln, die oberhalb der Erde lagen, dichte Baumkronen mit riesigen, herzförmigen Blättern und über allem schwebte ein grünlicher Schimmer. So grün wie Karons Rabenaura. Gierig wie ein Schwamm sog ich alle Eindrücke auf und prägte sie mir ein. Routiniert lenkte ich inzwischen jedes Gefühl zu diesem Ort hin, an dem ich nie zuvor gewesen war. Ich schloss die Augen, um meine Fantasie fließen zu lassen. Ein Windhauch streifte mich. Er entriss mir die Kontrolle und zerrte an den Kleidern, die ich trug. Ich hob die Lider und drückte Selinias Finger fester. Sie waren noch da. Und wir waren plötzlich an jenem märchenhaften Ort, den ich durch Karons Augen zuvor gesehen hatte. Uralte Zauberkraft und Stille umringten uns wie unsichtbare Jäger, und über allem schwebte ein giftgrüner Schwarm aus flimmernden Glühwürmchen, die im Halbdunkel tanzten.
»Ist das wirklich..«
»Nejdra.« Neben uns traten Karon und Eerin aus dem Schleier. »Die Schattenwelt. Meine Heimat. Hier, am Fuße dieses Baumes..« Er hob das Kinn und wies auf einen gewaltigen Mammutbaum mit so hoher Krone, dass ich kaum erkennen konnte, welche Form die saftig grünen Blätter trugen. »..haben Lyrh und ich das Licht der Welt erblickt.«
»Lyrh?« Selinia hob fragend die Augenbrauen, aber Karon winkte ab.
»Später. Ich erkläre euch alles.«
Er ließ seine Hand aus der des Zers gleiten und gab ihm seinen Gehstock zurück. Ein Atemzug füllte seine Lungenflügel mit der heilenden Kraft seines Geburtsortes. Wie ein Kind, das den allerersten Atemzug tat, weitete sich sein Brustkorb.
Er atmete den seltsamen grünen Dunst ein, der über dem Waldboden schwebte. Endlich verstand ich Karons Liebe und seine Verbundenheit zur Natur. Dieser Ort war ein Geschenk. Eine schemenhafte Oase der Ruhe und Stille, inmitten einer von Krieg und Tod beherrschten Welt. Der Nebel über dem Grund war magisch. Karon atmete die Magie, der er entstammte, und die ihn nun an diesem Ort heilen und behüten würde, wie die Mutter, von der er stets sprach.
Er hob das Hemd an, das er trug und ich erhaschte einen kurzen Blick auf die Wunde, die der Dolch gerissen hatte. Sie verschwand vor meinen Augen. Die geröteten Wundränder heilten, aus dem Spalt in seiner Haut wurde ein schmaler Strich, eine blasse, rote Narbe und schließlich ein einfacher, schneeweißer Strich auf seiner Haut. Nejdra hatte ihn befreit. In seinen Augen, seinen tiefer werdenden, geräuschvollen Atemzügen, dem majestätischen Wiederkehren seiner Whyndrir-Aura - überall wurde seine Genesung sichtbar. Überall zeigten sich Heilung und Magie, bis der grünliche Schimmer seinen Körper einhüllte. Seine Haut strahlte, wie mondbeschienen.
Weshalb waren wir nicht eher an diesen Ort gekommen?
Weil uns keine Zeit genlieben war. Ich wusste, Karon brauchte alle Kraft, die er bekommen konnte. Und er war hier, um das Richtige zu tun. Selbst wenn dem Whyndrir in ihm nicht immer bewusst war, welchen Weg ein fühlender, lebender Mensch gehe würde, diesmal hatte er ihn auf den rechten Weg geführt. Auch ohne meine Hilfe.
Instinktiv klammerte ich mich an der Silberkette fest und spürte augenblicklich, wie die unheilvolle Verbindung zwischen uns zunahm.
»Setz dich«, bat er Eerin, half ihm im Anschluss dabei und sank dicht neben ihm in die Hocke.
Ich wusste, er würde den Verband lösen und die Wunde bloßlegen müssen. Und Eerin wusste, es würde wehtun. Ihre Blicke begegneten sich kurz. Der Zer weigerte sich tapfer, sein Lächeln einzustellen. Gekonnt sah ich den Dämon die Fetzen lösen, mit denen zwei Äste an seinem Unterschenkel festgebunden waren. Schicht um Schicht wickelte er das Kleidungsstück ab, das dieser Verband einmal gewesen sein mochte, und legte ein blutendes Loch frei, das im Unterschenkel des Zeren klaffte. Ein Spalt, der durch sein Fleisch ging.
Seine Hände legten sich direkt auf die Wunde. Ich sah Eerin zucken und zischelnd ein- und ausatmen. Der zarte Grünschimmer auf der Perlmutthaut des Dämons wanderte in seine Hände hinab, konzentrierte sich unter seinen Fingern und sickerte durch den Spalt in Eerins Körper hinein. Obwohl er ihn gebeten hatte, nicht hinzusehen, standen die Augen des Zeren plötzlich wieder offen. Er neigte sich sogar ein wenig vor, um sehen zu können, was Karon mit ihm anstellte.
»Spürst du was?«, fragte Karon ihn sanft.
Der Krieger nickte. »Der Schmerz löst sich auf.«
Hinter mir seufzte Selinia erleichtert auf. Ich drehte mich zu ihr um und sah in strahlendste Lächeln, das sie je auf den Lippen hatte. »Wie geht es dir?«
»Besser«, offenbarte sie mir. »Allein der Gedanke, Eerin könnte sterben..« Sie brach abrupt ab. Ihr Lächeln verschwand. »Himmel, Erias!«, stieß sie hervor. »Du bist in einen Kampf geraten, und sicher hast du uns verloren oder tot geglaubt! Wie geht es dir?«
»Hervorragend. Ich bin der Einzige, der gar nichts abbekommen hat.« Der einzige Mensch, der unter den eigenartigen Pakt fiel, den Karon und Selinia geschlossen hatten. »Ihr habt mich besser beschützt, als je irgendwer zuvor.«
Ihre Arme schlossen sich um meinen Hals. Sie beugte sich vor, und als ihre Lippen meine Wange berührten, blieb mein Herz beinahe stehen. »Ich kann nicht glauben, was für ein tapferer junger Mann du geworden bist. Oder immer schon warst? Was ist euch geschehen, nachdem ihr entkommen seid?«
»Ich weiß es nicht. Karon ist bewusstlos geworden und wir sind irgendwo in Theremal gelandet. Zwei Chendri haben uns gefunden und sich um Karons Wunde gekümmert.«
»Ihr seid auf Fuchsherzen gestoßen?«, fragte sie verblüfft. »Und wir haben uns zwei Tage lang durch die Berge gekämpft. Hättet ihr uns nicht eher finden können?«
Ihre Stimme klang scharf, aber ihr Lächeln hielt. Sie wollte mich necken, und hatte Erfolg damit. Die Anspannung löste sich langsam aus meinem Körper.
»Karon hat durch den vergifteten Dolch all seine magischen Fähigkeiten eingebüßt. Seine Wunde heilte nicht. Wir saßen fest. Und ohne Lyrhs Hilfe, wären wir noch immer dort.«
»Und wer ist Lyrh?«
Ich warf einen Blick zur Seite und bemerkte, dass Karon uns beobachtete. Sein feines Gehör musste ihm längst verraten haben, worüber wir sprachen. Er deutete ein Nicken an, ehe er sich wieder Eerin zuwandte, und ich sagte daraufhin: »Karons Bruder.«
Verblüfft hob sie die Augenbrauen und zog die Stirn in Falten. »Karon hat einen Bruder?«
»Ohja. Ein reines Dämonenblut ohne menschliche Gestalt. Ein echter Dämon, der mir einen riesigen Schrecken eingejagt hat, als er aufgetaucht ist! Nunja, er hat uns hergebracht. Leider haben wir keinen Weg gefunden, um euch mitzuteilen, dass wir auf dem Weg zu euch sind.«
»Ich schätze, wir haben es irgendwie gewusst.«
Sie verschwand so plötzlich von meiner Seite, dass mich der Lufthauch ihrer Bewegungen streifte. Ich schaute ihr nach, während sie zu Eerin lief, fühlte, wie die Leere vom Boden aufstieg, sich durch meine Beine nach oben vorarbeitete, und dort meinen Körper mit Schneewehen füllte. Zum ersten Mal fühlte ich mich selbst wie der Winter, von dem Karon sprach. Es dauerte, bis ich verstand, dass dies nicht meine Gefühle waren. Ich drehte mich zu ihm hin und sah, dass die Hände des Whyndrirs zitterten. Eine dünne, kaum merkliche Eisschicht lag auf seiner Haut. Er wirkte wie ein Erfrierender.
Seine Augen folgten mir. Er sah auf seine Finger hinab und ließ die Mundwinkel zu einem halbherzigen Lächeln zucken. ›Das ist Lebensodem‹, klärte er mich auf, wobei er jedes Wort in meine Gedanken pflanzte. ›Es ist nicht schön, aber Eerins Wunde ist zu tief. Er stirbt, ohne diesen kleinen Lebenshauch.‹
Und der Whyndrir errang einmal mehr die Oberhand. Anzusehen war ihm nichts, aber sein Inneres zersprang wie Glas. Seine Seele wurde aufgebrochen und Stück für Stück abgespalten und ausgelaugt. Ein Hauch von Nichtigkeit überlagerte seine edle Tat, von der weder Selinia noch Eerin je etwas mitbekommen würden. Ich allerdings wusste, dass Karon in diesem Moment ein wenig von seinem eigenen, irdischen Leben an den Zeren vermachte.
›Ich danke dir‹, flüsterte ich ihm zu.
Seine Finger zogen sich langsam zurück. Die Wunde unter ihnen war verschwunden. Nur aufgeworfene Haut und haarlose blasse Narben erinnerten daran, dass sich dort noch vor wenigen Minuten eine tödliche Infektion im Körper des Himmelswesen ausgebreitet hatte. Jetzt war sein Blut rein, sein Tod aufgelöst, sein Leben gerettet. Und der Preis war ein stummes Einverständnis zwischen Karon und dem Whyndrir, der ein klein wenig mehr Gewalt über die Seele meines Freundes errang. Niemals zuvor war sein Inneres so kalt geworden, sein Herz so unrein.
Ich versuchte, diese Gefühle auszublenden. Zu vergessen, was mit Karon geschah.
Und dennoch dankte ich ihm im Stillen für seinen Mut.
»Deine Welt ist wunderschön«, ließ ich ihn wissen. Ich trat zu den Dreien heran, schob Karon meine Hand entgegen und half ihm auf die Füße. Er war nicht geschwächt, aber sein Seelenheil taumelte kurz. »Danke.«
»Genau hier«, sein Stiefel scharrte über das Wurzelbett des nächstgelegenen Baumes, »haben Lyrh und ich damals gesessen und uns der Welt anvertraut. Tage, Wochen, wir wollten niemals gehen. Aber das Leben hört nicht immer auf uns, nicht wahr?«
»Willst du dich setzen?«, murmelte ich. Ich hatte das Bedürfnis, sein Opfer in irgendeiner Form zu würdigen, und wenn es nur durch ein wenig Aufmerksamkeit war, die er zweifelsohne gar nicht haben wollte.
Zu meiner Verwunderung nickte er. »Ja.« Er hakte sich bei mir ein, und ich bemerkte, wie er die Hand wieder auf die bereits verheilte Wunde presste.
»Kann ich helfen?«, fragte ich ihn, half ihm, auf der Wurzel niederzusinken. »Kann ich deine Heilung irgendwie beschleunigen? Ich meine, als dein Seelenanker oder so? Kann ich denn gar nichts für dich tun?« Ich berührte den Rabenschädel und hielt ihn ihm entgegen, und sofort flammte die Bindung zwischen uns auf, wie ein unsichtbares Netz, in dem wir beide gefangen waren. Ich wusste, auch er spürte es. Ich ließ los, und der Hauch brach. Fragend musterte ich ihn. »Willst du ihn wiederhaben? Diesen Funken Magie?«
»Nein«, wehrte er ab. »Ich brauche nur einen Augenblick. Dieser kleine Funken Magie würde mir nichts nützen. Er gehört dir.«
»Du hast mich damals angelogen«, vermutete ich, und schob den Schädel wieder in meinen Kragen. Ich war nicht wütend, nicht zornig. »Was du bei den Zhian-Ag getan hast, war viel mehr als nur eine kleine Kräfteverschiebung. Du hast dich an diesem Tage an mich gebunden. Ich kann spüren, wie unsere Verbindung wächst, wenn ich den Anhänger berühre. Du hast an diesem Tag irgendetwas mit mir gemacht.«
Karon nickte träge. »Ja. Ich hätte es dir gesagt, irgendwann.«
»Ich bin nicht böse.«
»Ich dachte, wenn du es wüsstest, ohne mich wirklich zu kennen, würdest du ihn abnehmen, wegwerfen und mich meinem Schicksal überlassen. Du darfst ihn niemals abnehmen.«
»Das würde ich nie.«
Karon schmunzelte. »Ich weiß. Aber ich bin manchmal ein wenig zu misstrauisch.«
In seiner Situation konnte ich jeden Zweifel verstehen, den er hegte. Wenn man so alt war, so viel erlebt und gesehen hatte, wie er, dann musste sich die Welt anders darstellen. Ich stellte sie mir vor, wie ein Buch, das er schon tausendmal gelesen hatte, und dessen Handlungen sich wieder und wieder wiederholten. Karon kannte den Lauf aller Dinge. Er war so oft in die Geschicke der Sterblichen verstrickt worden, dass sie kein Geheimnis mehr für ihn darstellten. Und natürlich hätte ich in jeder Situation auch anders reagieren können. Dass ich mich dazu durchgerungen hatte, ihm schnell mein Vertrauen zu schenken, war ein Glücksfall gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Hätte ich bei unserer ersten Begegnung entschieden, dass ich ihm nicht glauben wollte, wären die letzten Tage in Leid und Elend geendet. In Tod und Chaos. Und vielleicht hätte das eher seiner Weltanschauung entsprochen.
Langsam lenkte ich den Blick zurück zu Selinia und Eerin. Ich wusste, dass Karon meine Trauer über ihr unschuldiges Liebesspiel wahrnehmen konnte, so deutlich, wie ich sein Elend in Syras Nähe fühlte. Das, was uns einte und untrennbar verband, machte jede Lüge ungenügend, und bestrafte jeden noch so kleinen Versuch. Er folgte meiner Geste, und ich sah die Traurigkeit in seinen Augen ein bizarres Eigenleben entwickeln.
»Sie mag vielleicht nicht für dich bestimmt sein«, sagte er sanft zu mir und betrachtete mich lange. Ich erwiderte seinen Blick nicht, sondern klammerte mich mit aller Kraft an dem Schmerz fest, der mich heimsuchte, und mit Nachdruck daran erinnern wollte, dass ich lebte, fühlte, ein Mensch war. »Aber sie wird dir ewig treu sein.«
»Ihr habt einen Pakt besiegelt, der mich einschließt«, erinnerte mich. »Was besagt er?«
»Dass wir, sollten wir in Not geraten, und nicht alle retten können, immer dich wählen werden«, gestand er offen und ehrlich.
Natürlich unterhielten wir uns manchmal, und ich zweifelte nie am Wahrheitsgehalt seiner Worte, aber plötzlich, während er so dasaß, im Schoße seiner Mutter, und umringt von fast allen Geschöpfen, die ihm noch Freunde waren und nicht die Pest an den Hals wünschten, flammte eine Ehrlichkeit in seiner Stimme auf, die mich ehrfürchtig innehalten ließ. Ich wusste, in diesem Moment konnte ich ihn alles fragen, und er würde mir immer eine aufrichtige Antwort geben.
»Sag«, murmelte ich, »hast du je einen Menschen geliebt, den du nicht haben konntest? So sehr, dass es weh getan hat?«
»Unzählige Male«, erwiderte Karon. »Ich bin alt und sollte es besser wissen, aber in diesem Leben habe ich mehr geliebt, mehr gehasst, mehr gelitten, als jemals zuvor. Ich habe unzählige Male mein Herz verschenkt, es wurde mir öfter gebrochen, als ich zählen kann, und ja, ich habe unsagbar viel Liebe erfahren. Manchmal denke ich, nur dieser Güte und dieser selbstlosen Liebe verdanke ich, dass ich ein besseres Wesen als mein Bruder geworden bin. Dass ich lachen und weinen kann, und weiß, wie sich Trauer anfühlt.«
»Weiß das nicht jeder Dämon?«
Karon schüttelte den Kopf. Die beiden daumendicken Zöpfe, die in sein Haar geflochten waren, peitschten wie Drachenschwänze umher. »Leider nicht. Da wir keine Eltern haben, die uns aufziehen, keine Kindheit, die uns prägt und meistens auch keine Geschwister, mit denen wir den Beginn unseres Lebens teilen können, sind die meisten von uns vereinsamt. Ihre Einsamkeit wandelt sich in Trauer. Trauer in Wut. Wut in Schmerz. Und irgendwann sind sie von diesem einen Gefühl, das sie ein Leben lang begleitet hat, so besessen, dass es alles ist, wonach sie sich sehnen.«
»Aber du hattest einen Bruder«, stellte ich fest. Meine Stimme klang schlaftrunken, als ich es endlich fertigbrachte, ihn anzusehen und mich von der kleinen Romanze vor uns abzuwenden. »Du hast ein anderes Leben gewählt. Du bist.. anders.«
»Ich wählte ein Leben unter Menschen. Ich bin in vielerlei Dingen mehr Mensch als Schattenkind oder Whyndrir. Ich fühle wie ihr, ich denke wie ihr, ich will das gleiche Glück erfahren, das jemandem zuteil wird, der nur ein einziges Leben zu leben hat. Ich will Fehler machen und sie bereuen. Mich verlieben und Hand in Hand mit einer Frau an meiner Seite alt werden. Ich wünschte mir, ich könnte Vater werden, Großvater, Lehrer und wieder Schüler. Wer alt ist, hat so viel erlebt, ohne die wichtigsten Dinge im Leben je erfahren zu haben.«
»Ihr könnt nie Kinder haben?«
Ich sah ihn die Achseln zucken. »Schattendenker bekommen keine Kinder.«
»Schattendenker?«
»Ich bin einer. Lyrh ist einer. Wir sind aus Gedanken einer schöpfenden Schattenmacht entstanden. Schattendenker, Schlattenblüter, Schattenkinder.. Wir sind Wunschkinder, und doch dazu ausersehen, kein Leben schenken zu können. Die Natur hat Vorkehrungen getroffen, um das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten. Auch Eerin kann Selinia keine Kinder schenken. Erblickt ein Himmelswesen das Licht der Welt, wacht irgendwo ein Dämon auf. Das ist der Lauf der Dinge.«
»Aber Syra ist sterblich.«
»Die Verbindung zwischen ihr und mir ist ein wunderbarer Fehler in einem fehlerlosen Kosmos. Wir hätten einander niemals begegnen dürfen. Wir hätten uns nie verlieben dürfen. Wir sind nicht zum Glücklichsein bestimmt.« Er schmunzelte. »Und Syra war vor vielen, vielen Jahren, einem anderen Mann versprochen.«
»Sie hatte einen Geliebten?«
»Nein. Sie stammt aus einer sehr wohlhabenden und mächtigen Familie. Ihr Vater besaß Ländereien und einen großen Namen. Um den Reichtum seiner Familie zu mehren, versprach er Syra einem Mann ähnlichen Ranges. Einem jungen Burschen, einem Krieger.«
»Einem Sterblichen?«, hakte ich nach. »Therion?«
Karon schüttelte den Kopf. »Ein Sterblicher. Ein Mann, mit dem sie ein paar Jahre glücklich gewesen wäre, und der ihr Kinder und eigene Familie hätte schenken können. Aber Syra und ich, wir sind zäh und leben unsagbar lange. Die gemeinsame Zeit mit ihm wäre ein Wimpernschlag für sie gewesen. Ein Augenblick und sie hätte alle Menschen sterben sehen müssen. Irgendwann. Sie hätte Mann und Kinder zu Grabe tragen müssen, Kindeskinder und alle danach. Und mit jedem Leben wäre auch ein Funken in ihr erloschen. Als ich sie fand, als wir uns verliebten, fällte sie die Entscheidung, sich dieser Qual nicht auszusetzen. Wenn Unsterbliche einander lieben, altern sie noch langsamer. Für uns steht die Zeit still, wenn wir zusammen sind. Die Uhren ticken nicht mehr. Es gibt keinen Verfall und keinen Grund zur Traurigkeit.«
Ein Traum und ein Albtraum zugleich. Doch für Karon schien die Erfüllung all seiner Wünsche in diesem kleinen Geheimnis zu schlummern.
»Wenn es dir gelingt, Therion aus dem Weg zu räumen«, flüsterte ich besorgt, »und du nun weißt, was Syra für dich empfindet, was werdet ihr tun?«
»Ich will ihre Seele bewahren. Ich will Buße tun, für das, was mein Winterherz ihrem angetan hat. Ich werde sie mit mir nehmen, irgendwohin, wo uns niemand zu nahe kommt. Wo uns Frieden und die Ewigkeit erwarten, und es keine Kriege mehr gibt, die sie oder mich verderben können. Ich würde alles dafür tun, um sie bis ans Ende aller Tage in gleißendes Licht zu baden. Das bin ich schuldig, nach all der Dunkelheit, die ich in ihr Herz pflanzte. Nach all dem Blutvergießen und dem Hass, den wir säten.«
»Ihr werdet weggehen«, schlussfolgerte ich, und sah urplötzlich mein ganzes Leben an mir vorbeischwimmen.
Selinia und Eerin gingen früher oder später, und wenn auch Karon mit dem Gedanken spielte, mir das Letzte wegzunehmen, was blieb mir dann übrig, als selbst traurig und allein zu sein? Ich dachte flüchtig an das Kloster zurück. An all die guten Tage und schönen Stunden, die meine Kindheit dort geprägt hatten, an den Zusammenhalt und das Gefühl von Sicherheit. Aber ich wusste, es war mir nicht möglich, mit all dem neugewonnenen Wissen, an diesen Ort zurückzukehren, und meinen Frieden mit der Welt zu schließen. Umringt von Sternen und zeitlosem Weltensein, war es undenkbar für mich, mich noch einmal hinter Mauern und Türen zu verkriechen.
»Ja«, erwiderte er zögernd. »Aber ich würde bleiben, solange dein Leben dauert.« Seine Hand hob sich auf meine Schultern. Er zog mich zu sich hinab und hielt sich an meinem Ärmel so fest, dass ich nicht ausweichen konnte, als sein Blick mich zu fesseln begann. »Ich gebe dir hier und jetzt mein heiliges Ehrenwort, dass ich immer da sein werde, wenn du mich brauchst. Dass ich dir im Andenken deiner Mutter, das Leben schenken werde, das du verdienst, und das sie für dich haben wollte. Ich werde dich immer beschützen, ich werde dir Freund und Lehrer sein, und du wirst niemals ein Wort des Jammers von mir hören. Du bist Familie.« Er hob die zweite Hand auf meine Schultern und ich spürte, wie sich tiefe Trauer in ihm wölbte, und an die Oberfläche dringen wollte. »Du hättest mein Sohn sein können, wenn ich nicht wäre, was ich nun einmal bin. Wenn ich dich anschaue, falle ich in die gleichen Augen, die mir vor einem Jahrzehnt das Leben gerettet haben. Ich ertrinke in der gleichen Güte, die mir die Erde zu Füßen legt. Erias, in meinen Adern mag fremdes Blut fließen, aber du bist meine Familie. Die Einzige, die ich je haben werde. Ich würde dich niemals zurücklassen.«
»Du weißt, dass du mir das versprechen musst.«
Er nickte. »Ich verspreche es. In all den Jahren, die noch kommen werden, lege ich dir die Welt der Menschen und die der Dämonen zu Füßen.«
»Und alles für meine Mutter.« Ohne sie gab es nichts, das uns verband. Keine Gemeinsamkeiten. Wir waren Tag und Nacht. Und ohne sie vermutlich nicht einmal miteinander bekannt. In einer Welt, in der es meine Mutter nicht gegeben hätte, wäre Karon heute nach wie vor einem grausamen Fluch unterlegen und an jedes gesprochene und gedachte Wort Syras gebunden. Ich wollte mir diese Welt nicht vorstellen. »Wenn sie deine Loyalität sehen könnte, und wüsste, dass du es geschafft hast, wäre ihr das Glück genug.«
»Da kennst du sie schlecht.« Der Whyndrir lächelte ein seltsam schiefes Lächeln. »Deine Mutter kannte kein Zögern, kein Hoffen oder Bangen. Sie wollte mit dem Kopf durch die Wand, selbst wenn sie sich verletzte. Ihr wäre der Gedanke nie genug. Sie würde wollen, dass ich dir auf Schritt und Tritt folge. Für immer.«
Ich erwiderte sein Lächeln, und obwohl ich noch immer traurig war, fühlte ich mich befreiter als zuvor. Ich forschte meinen Gefühlen nach und fand dort ganz tief in mir den Keim, den Karon in mich gepflanzt hatte, bestehend aus Zuversicht, Hoffnung und Vertrauen. Ihm verdankte ich, dass ich mich, selbst wenn ich Selinia nicht haben konnte, nicht einsam oder ungeliebt fühlte.
»Ich wollte noch einmal auf diesen Pakt zurückkommen«, sagte ich. Ich schlang alle Angst und Zweifel hinunter. Wenn der Whyndrir in der Vergangenheit eines bewiesen hatte, dann, dass er mein Vertrauen verdiente. Und das wollte ich ihm schenken. Jetzt und für immer. Bis mein Leben endete. »Ich möchte den gleichen Schwur ablegen.«
»Erias.. Deine Mutter brächte mich um, wenn ich dir erlauben würde, irgendetwas zu schwören. Schwüre sind selten der Grundstamm, aus dem etwas Gutes wächst.«
»Ich werde die, die ich liebe, immer an erste Stelle setzen«, fuhr ich unbeirrt fort und unterdrückte seinen Einwand. Er biss sich auf die Unterlippe, sagte jedoch nichts mehr. »Und kann ich keinen von euch retten, bleibe ich mit euch stehen.«
»Ich kann dich das nicht schwören lassen«, erwiderte der Dämon prompt.
Aber ich winkte ab. »Das habe ich bereits getan. Und ich nehme kein Wort zurück. Wir sind so stark, wenn wir zusammen sind. So mächtig. Du bist viel stärker, wenn ich bei dir bin. Und wenn du willst, dass ich das hier trage-« Ich zerrte den Rabenschädel-Anhänger hervor und bemerkte, dass seine Haut noch immer aufgeheizt war. »Dann nimmst du meinen Schwur an. Oder ich gebe ihn dir an Ort und Stelle zurück. Meine Mutter ist tot, weil sie nicht daran geglaubt hat, dass ihr gemeinsam stark genug seid. Sie hat dich eingesperrt und sich verdammt. Ich will nicht, dass sich die Geschichte wiederholt.«
»Das wird nicht passieren.«
»Ich würde dir gern glauben, aber manchmal kann ich es einfach nicht.«
Sein Lächeln versiegte. Ich sah in seinen Augen den emotionalen Zwiespalt seiner Seele glimmen. Auf der einen Seite sehnte er sich so sehr nach Frieden und einem Ende aller Kämpfe, dass es wehtat. Dem gegenüber stand ein Mann, der entschlossen an allem festhalten wollte, das ihn irgendetwas fühlen ließ und ihn an das erinnerte, was er selbst über alles andere stellen würde. Immer. Das Leben. In seinen Augen glomm ein Funke, so grell wie das Sonnenlicht. Eine Supernova, zusammengesetzt aus all den Dingen, die er wollte, all den Dingen, die er nicht haben konnte, und all den Wünschen, die sein Leben bereicherten.
Er stand wortlos auf, breitete die Arme aus und schlang sie um mich. Ich hätte diese Geste von jedem anderen Krieger vielleicht kitschig gefunden, unpassend, oder viel zu groß für ein paar leere Worte. Von ihm jedoch bedeuteten sie etwas. Die Umarmung besaß etwas Würdevolles. Sie verband zwei Seelen durch ein vergangenes Leben, zwei Gedankenstränge durch Magie und zwei Herzen durch den Zufall, einander begegnet zu sein. Ich ertappte mich dabei, sogar ein wenig traurig darüber zu sein, dass er mir mit diesem Gespräch jede heimliche Hoffnung darauf genommen hatte, doch mein Vater zu sein. Ja, manchmal, wenn ich im Stillen meinem Herzschlag lauschte, dann wünschte ich, wir wären nicht nur durch Worte und Magie, sondern durch Fleisch und Blut verbunden.
Ich ließ alles, was ich war, alles, was ich je sein wollte und je sein würde, durch seine Gedanken fließen. Zum ersten Mal wollte ich, dass er wusste, wie ich dachte, was ich empfand, welche Wünsche ich hegte, und nach welchen Sternen ich greifen wollte. Ich brauchte das Gefühl, dass er verstehen konnte, was in mir los wäre, wenn er verlorenging. Ich ließ ihn sehen, mit wie viel Schrecken ich dabei zugesehen hatte, wie Therion den vergifteten Dolch in sein Fleisch rammte und wollte, dass er den Schmerz dieser Bilder fühlte. Bewusst überreizte ich all seine Sinne. Nicht um ihm zu schaden, um ihn zu ärgern oder zu quälen, sondern um ihm vor Augen zu halten, wie sehr ich ihn in meinem Leben brauchte.
Aus Karons Kehle erscholl ein quälender Laut. Er löste die Verbindung zwischen uns, ließ seine Hände jedoch noch einen Moment auf meinen Schultern verweilen und suchte die Wahrheit in meinen Augen. »Ich tu dir etwas Derartiges niemals wieder an.«
»Versprochen?«
Er nickte wortlos, ließ mich los und sich zurücksinken. Einmal mehr flog sein Blick zur Seite. Ich bemerkte, wie er Selinia und Eerin anschaute, und sich wünschte, ihr Glück würde auch seines sein. Ich sah ihm, wie er diesen egoistischen Gedanken so weit es ging, von sich schieben wollte, aber ich wusste, er war nicht stark genug. Und er musste es auch nicht sein.
»Wird er gesund?«
»Ja«, raunte Karon in die friedliche Stille Nejdras. Er hob das Gesicht den Baumkronen entgegen, die den Wald vor dem Licht des Himmels abschirmten. »So gesund, wie man in seinem Fall sein kann.«
Und damit war alles gesagt, was er sagen wollte, und was sich hören musste. Das plötzliche Abschotten seines Geistes beendete ein Gespräch, das ich gern fortgesetzt hätte, um noch tiefer in seine Seele und seine Psyche einzudringen, aber er erklärte diese Unterhaltung durch eine Geste der Ablehnung für beendet, und so setzte ich mich zu ihm, und ließ ihn an meiner Seite schweigen.