Eine steife Brise über dem schäumenden Wasser gab Karon Auftrieb. Er ließ sich gleiten, bis er hinabzusinken drohte, und brachte sich dann, mit wenigen Flügelschlägen, zurück auf die Höhe, in der sich Fliegen am besten anfühlte. Das Wasser spiegelte sein eigenes Abbild wieder: einen großen, stolzen, schneeweißen Vogel, dessen Federkleid vom Licht der Sonne wie Gold schimmerte. Sie wärmte nicht nur sein Gefieder, sie erhellte auch sein Seelenlicht. Fliegen war fliehen, ganz gleich, in welcher Gestalt er steckte.
Er schloss die Augen. Wind brauste ihm ums Gesicht. Seine Gleichgewichtsorgane, überall in seinem Körper verteilt, halfen ihm beim Gleiten. Er konzentrierte sich, aber es fiel ihm schwer, denn ein Rabe kreiste weit oben über ihm. Sein Schatten spiegelte sich im Wasser. Syra.
Selbst in dieser Form nahm er ihre Nähe wahr. Seine Vogelinstinkte hatten damit nichts zu tun. Es lag an ihr. Nur an ihr und dem geheimen Zauber, die sie beide erfüllte, wenn sie zusammen waren.
›Willst du mich ärgern?‹, fragte sie kess. ›Wo sind deine schwarzen Federn?‹
Karon schlug die Lider hoch und begann, fest mit den Flügeln zu schlagen. Ihre Frage ließ er unbeantwortet. Er wollte hinauf zu ihr, näher bei ihr sein und vielleicht dann und wann ihre Federn berühren. Er stieg auf, und als er direkt unter ihr war, reckte er den Kopf, berührte ihr weiches Bauchgefieder mit dem Schnabel und schoss unter ihr hindurch. Die Wut über ihre menschlichen Fehler verflog. Sie ging nach und nach verloren im Sumpf seiner animalischen Instinkte. In diesem Moment waren sie nicht mehr sie selbst, sondern etwas anderes, Größeres, und unerklärlich frei. Er huschte fort von ihrem Zauber. Er wollte bei ihr sein, sie streicheln, die Freiheit des Augenblicks gemeinsam mit ihr durchleben, aber die Wahrheit überschattete den sterblichen Teil seiner Gefühle.
Schon bald würden sie ins Schloss zurückkehren, und dann wieder nur Krieg gegeneinander führen.
Etwas ziepte an seinen Schwanzfedern. Er neigte den Kopf und sah, wie Syra ihn mit ihrem Schnabel neckte. Ihr Körper war schwerfälliger, obwohl der Schneevogel der Größere von beiden war. Es kostete sie Kraft, ihm zu folgen. Für einen seiner Flügelschläge musste sie zwei machen. Und da sie ihre Form nicht beliebig verändern konnte, war er ihr gegenüber im Vorteil.
Für den Moment. Seine Instinkte brodelten in ihm hoch. Er verlangsamte sein Tempo, segelte weiter, und konzentrierte sich ganz auf ihre Gegenwart. Wie viele Jahre hatte er darauf gewartet, nur einmal wieder mit ihr fliegen zu können?
Über ihnen schimmerte die Sonne. Die Gischt schäumte auf schwarzem Wasser. Nur dort, wo einzelne Strahlen in die Tiefe drangen, zeigte sich das Meer in einem Strudel aus Blautönen.
Es war die Magie des Augenblicks, die Karon aller Furcht, aller Wut und Zweifel beraubte. Wie ein Pfeil schoss er in die Höhe, spreizte seine Schwingen zu voller Größe auf und ließ die weißen Federn von sich abfallen. Magie wälzte die Farbe seines Gefieders um, bis es so dunkel wie ein Obsidian schimmerte. Jede Faser seines Körpers schrie nach Entspannung, als er in diese vertraute Form zurückkehrte und sich die Zeit nahm, einen Atemzug lang völlig reglos in der Luft zu stehen. Plötzlich schoss Syra vor ihm in die Höhe. Sie krächzte vor Begeisterung.
›Na endlich.‹
Da waren sie. Die Zeit dehnte die Sekunden zu einer Ewigkeit aus. Wie sehr hatte er diese Unterbrechungen des schnöden Lebens einst geliebt?
Er erinnerte sich. Damals, vor ihrer ersten Begegnung, war die Form seiner Wahl ganz anderer Natur gewesen. Ein Wolf, ein Falke, ein Schwertfisch oder Puma, aber seit sie in sein Leben getreten war, fühlte er sich Vogelgestalt wohler, als in jeder anderen.
Syra drehte ab. Aus den Augenwinkeln bemerkte Karon, dass sie sich von ihm entfernte, und folgte ihr nach. Sie segelte majestätisch über dem Meer, dem Land entgegen. Ein Windhauch gab ihr Auftrieb und blies sie von ihm fort, zum Festland hin. Dort verschwand sie kreischend zwischen den Bäumen. Karon jagte ihr nach. Er wusste, sie spielte mit ihm. Sie hatte ihm angedroht, es würde Konsequenzen haben, wenn er außer Reichweite geriet, und nutzte diese Drohung nun, um ihn vom Meer fortzulocken.
Seine verborgenen Urinstinkte erwachten. Er ließ sich von ihnen tragen. Als er sie landen sah, breitete er die Schwingen aus, und segelte langsam dem Grund entgegen. Seine Klauen berührten die Erde und sein Körper drängte danach, sich zurückzuverwandeln. Er gab dieser Sehnsucht nach, und als er sich aufrichtete, war er wieder Mensch. Der Rabe über seinem Kopf kreischte protestierend, aber Karon maß ihn lediglich mit ernstem Blick. Er fühlte etwas. Etwas, das durch die Erde ging, durch die Luft zitterte und auch im Wasser war. Eine Erschütterung. Ein Beben. Irgendetwas, das hier nicht sein durfte.
Syra stürzte sich kreischend hinab und landete ungeschickt auf dem vorgestreckten Arm des Dämons. »Ist das deine Art, mir zu sagen, dass du meine Hilfe brauchst?«, raunte er dem Vogel zu. Er blinzelte.
Die Energie, die aus der Erde in seinen Körper sickerte, stimmte nicht. Irgendwas hatte diesen Ort verunreinigt, seine Seele gestohlen und ihn in totes Land verwandelt. Auch wenn die Blätter noch grün waren, die Erde saftig und sich die Luft frisch anfühlte, würde hier schon bald alles Leben verwelken. Etwas Grauenvolles hatte hier stattgefunden. Jemand - etwas - hatte das Land mit seiner Anwesenheit zu Grunde gerichtet. Jeder Baum, jeder Strauch, jedes Tier, das in ihnen lebte - alles war dem Untergang geweiht.
Rasch schüttelte der Whyndrir den Raben ab, und während Syra ihre wahre Gestalt anzunehmen begann, ging er selbst in die Hocke, um seine Fingerspitzen in den sterbenden Waldboden zu graben. Die Magie dieses welkenden Ortes knisterte unter seinen Fingern. Etwas Verdorbenes haftete ihr an.
»Was ist hier passiert?«, fragte er tonlos.
»Nicht was«, antwortete sie ihm. Ihre Hand berührte seinen Nacken. »Sondern wer. Ich wollte es dir sagen, als du mich vor Tagen aufgesucht hast. Aber du warst fort, ehe ich es tun konnte. Und du hättest mir kein Wort geglaubt, hätte ich es dir im Schloss gesagt. Ich wusste, du würdest dich nie von deinen Freunden trennen, um bei mir Schutz zu finden. Deshalb holte ich dich her. Und deshalb halte ich dich fest.«
»Jetzt«, sagte er, »bin ich bereit, dir zuzuhören.« Er stand auf und drehte sich zu ihr um. »Ich habe das Böse, das diesen Ort zerstört, schon einmal wahrgenommen. Bei den Zhian-Ag hat es mich berührt, kaum dass ich die Kräfte des Whyndrir entfesseln konnte. Es war auf der Lichtung bei Erias und in der Höhle, als ich aufgewacht bin. Von welcher Macht sprechen wir hier? Vor welchem Zauber willst du mich beschützen?« Er sog Luft zwischen den Zähnen hindurch. Beschützen? Sie ihn? Nach allem, was sie ihm angetan hatte?
»Das ist die Spur, der ich gefolgt bin, um dich zu finden. Etwas Grauenvolles ist diesem Land zugestoßen. Und es ist dir auf den Fersen. Es folgt dir, seit dich der Junge aufgeweckt hat. Es war mit dir bei den Zhian-Ag und es weicht nicht ab von deiner Fährte. Wenn du hier draußen bleibst und weiterhin mit Magie um dich wirfst, bringst du dich in Gefahr.«
»Wem bist du gefolgt, um mich zu finden?«
»Einem alten Bekannten, den dein Erwachen aus dem Winterschlaf gerissen hat«, erwiderte Syra. Der Stolz in ihrer Stimme war gebrochen, ihr Hochmut verloren. Sie kam näher, hob das Gesicht und blickte tief in die grünen Augen des Dämons. »Du weißt, wen ich meine.«