Sie waren gegangen, bis Eerins Bein ihn nicht mehr weitertrug. Im Schutze der herannahenden Dunkelheit waren Selinia und der Zer in einer Felsspalte verschwunden. Hier im hohen Norden waren die Nächte bereits frisch. Sie wussten, sie würden frieren, aber ein Feuer wäre weithin sichtbar und konnte sie leicht an den Feind verraten.
Deshalb hatten sie sich eng aneinander gedrängt an den Felsen gedrückt, um sich wenigstens vor de kalten Wind in Sicherheit zu bringen. Eerins Bein war unter dem improvisierten Verband angeschwollen. Dort, wo sich das Schwert einmal durch seinen Unterschenkel hindurchgebohrt hatte, waren die Wundränder entzündet, und die Infektion breitete sich rasch auf das umliegende Gewebe aus. Die blutgetränkten Stofffetzen waren verrutscht und die Schiene saß nicht mehr richtig.
»Wenn die Sonne aufgeht, mache ich das neu«, beschloss die Düsterfee.
Ihr Blick wanderte zum Gesicht des Zers hinauf. Er sah mitgenommen aus, müde und blass. Das fahle Mondlicht warf dunkle Schatten auf sein Gesicht. Sie wollte ihm nichts davon sagen, aber das Bein sah nicht nur angeschwollen, sondern auch schwer entzündet aus. Wenn sie nicht bald das Dorf erreichten, war es möglich, dass Eerin nach seinen Flügeln auch sein Bein verlieren würde. In der trostlosen Gegend, in die sie geflohen waren, gab es keine Heilkräuter und Pflanzen, mit denen den Verband einreiben konnte, und nicht einmal Wasser, um die Wunde auszuwaschen.
Selinia hoffte sehr, dass der Krieger den nächsten Tag gut überstehen würde. Wie ein Löwe war er in den Kampf gestürzt, nachdem Syra den Befehl gegeben hatte, sie zu töten. Er hatte fünf oder sechs Mann niedergestreckt, ehe er selbst verletzt worden war. Und sie? Sie schaute an sich hinab. Dank seiner Tapferkeit war sie vollkommen unverletzt. Nicht einmal einen Kratzer hatte sie abbekommen.
»Hier«, raunte sie ihm zu. »Lehn dich an mich, schlaf ein wenig. Morgen wartet ein anstrengender Abstieg auf uns.«
Eerins Gesicht wurde von einem diebischen Grinsen erschüttert. »Wann hast du gelernt, so fürsorglich zu sein?«
»Als du um mein Leben gekämpft und beinahe dein Bein verloren hast.«
»Ich hätte für jeden dort das Gleiche getan. Nur für Karon nicht. Und offensichtlich beruht das auf Gegenseitigkeit.«
»Er ist verletzt worden. Wir waren viel zu weit entfernt. Ich kann verstehen, dass er wenigstens Erias in Sicherheit bringen wollte. Sobald er sich erholt hat, wird er sich auf die Suche nach uns machen. Vielleicht sind sie schon unterwegs. Er lässt uns nicht im Stich.«
»Nicht noch einmal, meinst du.« Aber seine Stimme spiegelte die Bitterkeit seiner Worte nicht wieder. Er hob den Arm, schob ihn der Fee um die Schulter und zog sie zu sich heran. »Ich bin nicht wirklich wütend auf ihn, weil er den Jungen gerettet hat. Ich hoffe, das weißt du. Du kennst mich doch.«
»Ich kannte dich. Und das ist lange her.«
»Und du denkst, ich bin heute so anders?«
Selinia seufzte. Sie schmiegte sich an ihn. Über ihnen war es inzwischen dunkel geworden. Gedankenverloren spähte sie zu den Sternen hinauf. Der ganze Himmel war mit winzigen, funkelnden Lichtern gesprenkelt. »Ich glaube, das weißt du selbst am besten.«
»Was, wenn ich immer noch der selbe alte Sturkopf bin, der ich einmal war?« Behutsam hob er den Arm, strich mit den Fingerknöcheln über ihre Wange. »Was, wenn ich jetzt erst verstanden habe, dass ich dich beinahe verloren hätte?«
Selinia seufzte. »Eerin«, murmelte sie, während ihr Wärme in die Wangen schoss. »Nicht, bitte. Das ist ein schlechter Zeitpunkt, um dich an alte Zeiten zu erinnern. Auch wenn du dich vielleicht nicht verändert hast, ich habe es. Ich bin nicht mehr das Mädchen von damals.«
»Aber du bist die Frau, in der sich das Mädchen von damals noch immer irgendwo versteckt. Ich sehe doch, dass es noch da ist.«
»Es?«
»Das Feuer!« Abrupt packte er ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Die Leidenschaft!«
»Du bist verrückt«, murmelte die Fee. »Ich glaube, das Fieber steigt dir langsam in den Kopf.«
Ein glockenhelles Lachen drang aus der Kehle des Zers. »Das Fieber.. Schon gut. Vielleicht hast du Recht.«
»Nein, ich..« Selinia atmete tief durch. »Ich habe eine Aufgabe. Ich muss Erias helfen. Das habe ich Karon versprochen. Du weißt, wie er auf Ablehnung reagiert.«
»Der Junge also. Ist er schuld daran, dass du mich ansiehst, als wollte ich dich zu einem Verbrechen anspornen?«
»So ist das doch gar nicht! Aber ich kann ihn nicht im Stich lassen. Er braucht mich.«
»Jetzt brauche ich dich. Erias hat den besten Beschützer an seiner Seite, den man sich vorstellen kann. So lange Karon bei ihm ist, kannst du sicher einen Augenblick aufhören, dich um ihn zu sorgen.«
Wenn das so einfach wäre. »Ja«, erwiderte sie rasch. »Natürlich. Du bist verletzt, und du-«
»Ich will mit dir reden«, schmunzelte Eerin. »Ich will dich nicht stehlen, nicht verderben und nicht auf dumme Gedanken bringen. Morgen kannst du dir Gedanken machen, wie du zu deinem Königssohn zurückkehrst, aber heute Nacht, gehört mir. So wie früher.«
»Aber es ist nicht mehr so wie früher, Eerin.«
Beschämt wandte die Düsterfee den Blick ab. Wieso wollte er sie nicht verstehen?
Aus dem Nichts tastete seine Hand nach ihrer.
»Du gibst wohl nie auf«, wisperte sie.
Eerins Grinsen wurde breiter. »Nein. Nie. Also, was ist los? Wieso klammerst du dich so an dem Jungen fest?«
»Er ist unschuldig.«
»Das bin ich auch.«
»Erias könnte das Opfer einer bösen Prophezeiung werden.« Zum ersten Mal wagte sie es, die bösen Worte auszusprechen und bereute es beinahe augenblicklich wieder. Sie nahm seine Hand und rieb ihre Wange daran.
»Welche Prophezeiung?«
»Die Königin hatte vor vielen Jahren im Fieberwahn eine albtraumhafte Vision. Sie sah Krieg und Tod und eine Verwüstung, die nur Magie erreichen kann. Ich will mir nicht vorstellen, wie sie dabei empfand. Den Todestag des eigenen Sohnes zu sehen. Als Erias und ich in der Schlossbibliothek waren, habe ich das Buch gefunden. Mir fiel diese Prophezeiung auf. Sie hat sie wieder und wieder und wieder niedergeschrieben, wie eine Besessene. Ich glaube nicht, dass ich zufällig darüber gestolpert bin. Das Schicksal will mir etwas sagen. Es warnt mich.«
»Wie lautet sie?«
»Ich weiß nicht, ob ich den genauen Wortlaut hinbekomme, aber sie handelt von einem Königskind, das siebzehn Jahre lang ein gutes Leben haben soll, und noch vor seinem Geburtstag dem Zauber eines Dämons erliegen wird.«
»Karon«, vermutete der Zer.
»Ich hoffe nicht.« Sie hob den Blick, sah im Dunkeln zu ihm auf und Betroffenheit machte sich in seinem Gesicht breit.
»Weiß er davon?«
»Niemand weiß davon. Inadette hat dieses Geheimnis mit ins Grab genommen, und ich habe es zufällig entdeckt. Ich bringe es nicht übers Herz, Erias davon zu erzählen, und wenn ich Karon einweihe, dann wird er alles nur schlimmer machen. Er liebt den Jungen abgöttisch. Es ist nur..«
»Der Whyndrir-Fluch?«
»Er macht etwas aus ihm, das Karon in Wirklichkeit nicht ist. Er verändert ihn. Ich traue diesem seltsamen Weltenwächter-Zauber nicht. Was, wenn doch etwas Dunkles in ihm wurzelt?«
Eerin nickte verstehend, zog die Fee in seine Arme und streichelte ihr tröstend über die Schulter. »Früher oder später wirst du Karon davon erzählen müssen. Auch wenn das bedeutet, dass er sich von Erias fernhalten muss.«
»Ich glaube, ich bin einfach noch nicht bereit dazu.«
»Ist das der Grund, weshalb die Königin Karon in diese Höhle sperrte?«
»Ja, vielleicht.« Sie sog zwischen den Zähnen Luft hindurch ein. »Genug von mir. Du bist der, der vielleicht sein Bein verlieren wird. Sag mir, was ich tun kann, damit du dich besser fühlst? Diese alte Prophezeiung wird mir nicht weglaufen, wenn ich einen Moment nicht an sie denke.«
Ohne Vorwarnung schnellte der Zer vor, zog die Fee zu sich heran und presste seine Lippen auf ihre. In den ersten Sekunden wehrte sie sich noch, stützte die Hände an seine Brust und wollte ihn fortstoßen, doch dann wurde sie ruhiger. Hitze schoss ihr ins Gesicht, aber sie hörte auf, Widerstand zu leisten und sank in Eerins warmer Umarmung zusammen.
Als er sich von ihr löste, erwiderte sie seinen sanften Blick und sagte: »Lenkt man in deiner Kultur so Frauen davon ab, zu viel nachzudenken?«
Als Antwort darauf grinste er böse, senkte den Kopf und küsste sie wieder. »Ich verspreche dir«, hauchte er an ihre Lippen, »zuerst finden wir sie, und dann verhindern wir, dass sich diese Prophezeiung erfüllt. Karon wird niemandem etwas tun. Ein klein wenig kenne ich ihn auch, und ich bin mir sicher, so sehr kann er sich nicht verändert haben. Er war schon immer eine Kämpfernatur.«
»Ich weiß. Aber Angst habe ich trotzdem. Was macht dein Bein?«
»Tut höllisch weh«, feixte der Halbengel grinsend. »Vielleicht brauche ich ein klein wenig mehr Aufmerksamkeit von der schönen Frau an meiner Seite, um mich besser zu fühlen? Oder sind da Gefühle im Spiel, von denen ich wissen sollte?«
Auch ohne, dass er Namen nannte, wusste Selinia, auf wen er anspielte. Sie und Karon besaßen eine sehr bewegte Vergangenheit. Sie standen einander nahe, und bedeuteten sich viel, aber liebevolle Gefühle gab es zwischen ihnen schon lange nicht mehr. Sie wussten beide, dass es für ihn nur Eine gab, und sie am besten funktionierte, wenn ihr niemand am Bein hing.
»Nein«, antwortete sie sanft. »Da sind keine anderen Gefühle. Nur Pflichtbewusstsein.«
»Stell es ab«, bat er sie. »Nur für ein paar Stunden. Und sag mir, wie sehr du mich vermisst hast.«
»Sehr«, gestand sie, und diesmal meinte sie es ehrlich.