Wenn ich anfangs glaubte, ich würde mich niemals an Karons Art zu reisen gewöhnen können, genoss ich die schnellen Ortswechsel inzwischen sehr. Das Gefühl, ganz und gar von Magie umgeben zu sein, sie atmen und spüren zu können, hüllte mich in einen unsichtbaren Mantel aus Geborgenheit ein. Ich fragte mich, dann ich tatsächlich ein Wesen der magischen Welt geworden war. Erst, als Karon mir den Anhänger geschenkt hatte? Oder schon, als ich ihn in der Höhle zum ersten Mal getroffen hatte? Irgendwann war ich vom berauschenden Sog der anderen Welt verschluckt und verschlungen worden. Dass sie mich je wieder ausspucken würde, hielt ich für äußerst unwahrscheinlich.
Diesmal taumelte ich nicht einmal mehr, als uns der Schleier ausspuckte und wir Hand in Hand auf die Lichtung traten, kurz ehe der Abschirmzauber der Zhian-Ag uns berühren konnte. Ich löste mich von ihm, ließ den Blick schweifen und spürte, wie Erinnerungen auf mich niederprasselten. Ja, endlich waren er und ich nicht mehr in der klirrenden Kälte gefangen. Wir waren hier. An dem Ort, an dem er mir erstmals die zauberhaften Geschichten über seine Welt und sein Leben erzählt und ich sie gierig wie ein Schwamm in mir aufgesogen hatte. Endlich wieder an einem Ort, an den wir uns nicht voller Schrecken zurückerinnern wollten. Und doch lag eine schwere Melancholie über diesem Ort.
Über den Boden kräuselten sich blasse Nebel. Der liebliche Morgen kroch allmählich aus der Erde empor. Tautropfen glitzerten wie winzige Kristalle auf gebogenen und abgeknickten Grashalmen. Von den ersten Sonnenstrahlen berührt, schimmerte die Wiese wie ein unbezahlbarer Schatz.
Vor uns fiel die ebene Landschaft ab. Ich konnte noch nicht in den Abgrund blicken, aber ich wusste ohnehin, was sich dort befand - ein klaffendes Loch, gefüllt mir uralten, riesengroßen Steinen und einem verzauberten Runenstein.
»Spürst du irgendwas?«, fragte ich ihn.
Ich fühlte ihn an meiner Seite tief und sehnsüchtig einatmen. Wenn wir hier einem Whyndrir begegneten, bedeutete das für Karon, die Möglichkeit, all die Fragen zu stellen, die ihm auf seiner Eisseele brannten.
Wortlos schüttelte er den Kopf.
Er bewegte sich langsam, trat ins Freie hinaus und sah sich um. Alles war noch genauso, wie bei unserem letzten Besuch. Bis auf die schwer bewaffneten Krieger der Zhian-Ag, die heute fehlten, und den Hauch von Bedrohung, der über allem schwebte. Diesmal bekam ich die Zeit, die Magie dieses Ortes zu inhalieren, ehe der Bannzauber meine Sinne blockierte. Ein klein wenig graute mir sogar vor dem Gedanken, in den Wirkungskreis dieses furchtbaren Zaubers einzutreten. Doch diesmal würde Karon an meiner Seite sein und jeden bösen Zauber abwenden.
»Hast du einen Plan?«
»Nein«, erwiderte Karon abermals kopfschüttelnd. »Er würde uns auch nichts nützen. Dieser Verschleierungszauber funktioniert in zwei Richtungen. Als wir das letzte Mal hier waren, hatte ich zu wenig Zeit, um ihn auf mich wirken zu lassen. Aber jetzt kann ich es deutlich sehen. Für uns auf dieser Seite des Schleiers wirkt er wie die Oberfläche eines Sees. Er verzerrt die Welt dahinter, wie es ihm beliebt. Er spielt mit unseren Sinnen, er täuscht uns und führt uns in die Irre. Kannst du irgendetwas in seinem Inneren spüren?«
Er streckte die Hand aus, als wüsste er, wie nahe wir dem Wirkungskreis des Zaubers waren. Ich hätte es nicht sehen dürfen, aber ich sah es. Seine ausgestreckten Finger stießen auf ein Hindernis und tauchten darin ein, wie eine Hand in Wasser. Seine Berührung schlug Wellen, und ich konzentrierte mich auf die Kräfte, die hinter dem Zauber wirkten. Ich streckte und beugte meinen Geist, tastete in den Zauber hinein und suchte nach irgendetwas, an dem ich mich festklammern konnte. Und ich fand - nichts. Und nichts bedeutete in diesem Fall wirklich gar nichts. Kein Leben, kein Laut, keine Bewegung, kein Nichts. Als würde dieser Ort überhaupt nicht existieren.
»Nein. Was hast du gefühlt, als du in ihm warst?«
Karon wog seine Worte sorgfältig ab. »Leere. Verwirrung. Eine Trostlosigkeit, die ich nicht begreifen konnte. Ich wusste, alles um mich herum existiert weiter, aber ich verlor die Bindung zu meiner Umgebung. Ich vermisste die Nähe der Erde, die Gegenwart von Leben.«
Ich hatte damals das Gefühl verspürt, einsam, eiskalt und bedeutungslos zu sein. Ich war allein und ohne Hoffnung gewesen, obwohl ich nur am Rand des Zaubers gestanden hatte.
»Also könnte sich ein Whyndrir in diesem Bann verstecken, ohne je gefunden zu werden?«
»Möglicherweise.« Karon zog seine Finger zurück und der Zauber wurde transparent. »Finden wir es heraus.« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern war mit einem Satz in die Tiefe gesprungen. Seine blanken Füße berührten den Grund, wirbelten Staub auf. Er streckte sich, hob den Kopf und neigte ihn mir zu. »Worauf wartest du?«
Ich zuckte die Achseln. »Darauf, dass du mir sagst, dass die Luft rein ist?«
Aber eigentlich wollte ich mich davor drücken, mich der unangenehmen Macht dieses Zaubers auszusetzen. Ich war ihm nahe und spürte seine Wirkungsweise bereits. In ihn hineinzutreten, widerstrebte mir. Doch als Karon eine verheißungsvolle Geste machte und sich abrupt abwandte, stieg ich seufzend über die Steine hinunter, um an seine Seite zu gelangen. Es fühlte sich genauso an, wie er es beschrieben hatte: Wir standen in eine großen, leeren Tag, abgeschnitten von der Wirklichkeit und vollkommen allein, obwohl wir nur die Hand ausstrecken brauchten, um einander zu berühren. Der Verschleierungszauber isolierte und physisch und geistig.
Karon schaute einmal Kopf bis Fuß über meinen Körper. Er nickte mir zu. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ich.. Es tut nicht weh, oder so. Es ist nur so.. leer.«
»Es ist nur ein Zauber«, versuchte er mich zu beruhigen, aber mein Herz schlug schneller als gewöhnlich. »Er wird dir nichts tun. Keine Sorge.«
Dann wandte er sich ab von mir. Ich sah ihn wenige Schritte zwischen den Steinen hindurchschreiten. Hier war ich zum ersten Mal Zeuge der Macht geworden, die der Whyndrir ihm verleihen konnte. Ich drehte mich zur Seite, ließ den Blick zu dem unscheinbaren Runenstein gleiten und meine Hand wanderte wie von selbst zu dem Silberschmuck an meinem Hals.
»Gib ihn mir«, wies Karon mich an. Er trat auf die andere Seite des Steins, streckte die Hand aus, und erst, als ich den Rabenschädelanhänger hineinsinken ließ, fing er an zu lächeln. Er platzierte das Schmuckstück auf der unebenen Oberfläche des Gesteinbrockens und ließ seine Hände wie ein Dach über ihm schweben.
Unter seinen Fingern bildete sich Nebel. Ein feiner, goldener Dunst, in dem zarte, winzige Partikel kreisten. Jetzt, hier, so nahe, sah ich, was mir das letzte Mal verborgen geblieben war. Aus der Haut des Steins löste sich der Zauber. Ein Hauch des Runensteins verflüchtigte sich, ging in einen anderen Zustand über und sickerte in Form des zarten Nebels ins Innere des Rabenschädels. Die Smaragdaugen glommen auf wie Sterne. Sie loderten heller und gleißender denn je, als Karon seine Macht mit mir teilte.
Genau in diesem Moment war mir damals das Herz in die Hose gerutscht. Ich dachte, ich würde ihn an eine überlegene, dunkle Macht verlieren. Diesmal allerdings war sein Blick fest auf mich gerichtete. Ich spürte, wie sich der Whyndrir unter seiner Haut erhob und seinen Herzschlag verlangsamte. Seine Energie kreiste wohlwollend durch Karons Glieder, erfüllten sie mir schier unbeschreiblicher Macht und Stärke. Er zitterte unter dem Aufwallen der magischen Energie. Seine Pupille wurde groß, größer, bis der farbige Ring, der um sie lag, kaum noch zu erkennen war. Er weckte das Biest, beschwor das Ungeheuer herauf, das mich töten wollte, und doch blieb es diesmal friedlich. Diesmal kontrollierte er die Macht, an der er hier noch vor kurzer Zeit beinahe gescheitert wäre.
Ich hielt mir vor Augen, dass Karon ein gefährliches Ritual überlebt hatte, und ihm danach die Zeit genommen worden war, sich in seine neuen Kräfte einzufinden. Ihm fehlten zehn Jahre Beherrschung, Übung, Training. Doch der Whyndrir war immer dort gewesen. In ihm. Er war erstarkt, erholt, und hatte zehn Jahre lang die Füße stillgehalten, gelauert, nur um sich endlich entfalten zu können. Ganz gleich, wie stark Karon eins gewesen sein mochte, ein so gewaltiges Wesen in sich aufzunehmen und zu beherrschen, erforderte Übung.
Mühelos las er meine Gedanken. Sein Bewusstsein tauchte in meines, und auch der Whyndrir machte sich hinter meiner Stirn bemerkbar. Meine eigenen Fähigkeiten waren durch den Zauber so weit geschwächt, dass er meinen blassen Widerstand wortlos hinwegfegen konnte. Der Whyndrirgeist trotzte der Übermacht des Zaubers.
Als Karon seine Hände von der Oberfläche des Steins löste, brach der Bann mit einem Schlag entzwei. Der Whyndrir seufzte in seiner Brust, fand zur Ruhe, legte sich schlafen. Er selbst nahm den Anhänger an der Lederschnur und hielt ihn mir entgegen. Wortlos nahm ich ihn entgegen und legte ihn um. Ich war ihm nichts schuldig, sagte sein Blick, aber Dankbarkeit empfand ich dennoch.
»Ich-«
Ich starrte ihn an, als sich eine Hand von hinten auf seine Schulter legte. Mein Körper wollte zusammenfahren, aber Karon blieb völlig ruhig. Langsam glitt sein Blick herab, fuhr über die runzelige Haut bleicher Finger. Er drehte sich langsam und gab den Blick auf ein Wesen frei, das hinter ihm aufgetaucht war. Eine alte Frau in einem dicken, grauen Kleid, ohne Schuhe und einem langen, stahlgrauen Flechtzopf, der locker über ihre Schulter fiel, stand dort, die Hand noch immer zu ihm erhoben. Ihre Augen wanderten. Wanderten seinen Körper hinauf, über seine Brust, seine Schultern, und kamen auf seinem Gesicht zur Ruhe. Ein schmales, kleines Lächeln ließ das Alter aus ihrem Gesicht weichen. Falten zogen sich um ihre Lippen. Das Lächeln wuchs, breitete sich über ihre Lippen und Wangen, bis hoch zu ihren Augen aus, und dann wusste ich plötzlich, wer sie war.