Der Schnee peitschte mir das Haar ins Gesicht. Es hatte sich schlohweiß eingefärbt, die Spitzen waren an meinen Kleidern festgefroren.
Irgendwo brach ein Krieg aus, der alles in den Schatten stellen würde, was ich je erlebt hatte.
Ich schlang die Arme fester um Karon. Er glühte. Sein heißer Fieberwahn war die einzige Wärmequelle, die mir zur Verfügung stand. Meine Finger schmerzten unter der bitteren Kälte. Sie zermahlte meinen Verstand, ließ all meine Knochen und Muskeln versteifen und machte jeden Atemzug zu einer unüberwindbaren Aufgabe.
Bald schon würde er aufwachen und ich musste mich der Wahrheit stellen, welche Kreatur mich durch seine Augen ansehen würde - Dämon oder Whyndrir. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es Karon sein würde. Ehe ihm die Augen zugefallen waren, hatte ich ihn wiedergefunden. Nun konnte mein unüberlegtes Handeln große Gefahr mit sich bringen.
Ich hatte ihn entführt und über Selinias und Eerins Kopf hinweg entschieden. Schließlich hatte Karon selbst nie wirklich versucht, mich zu töten. Er hatte mich auf Abstand halten wollen, als ihn der Whyndrir-Geist übermannte. Und nur, weil ich nicht auf ihn hören wollte, hatte er mich angegriffen. Wie ein zurückgedrängtes Tier hatte sich auch der Whyndrir vielleicht nur verteidigen wollen.
Karon war nicht Herr seiner Sinne gewesen, und einen Kranken für sein Handeln zu verurteilen, entsprach nicht den Lehren der Mönche, unter denen ich aufgewachsen war.
So sehr ich mich auch von meinem alten Leben lösen wollte, diese Lehren waren so tief in meinem Herzen eingebrannt, dass sie zu mir gehörten. Ich wusste, ich konnte meinem Selbst nicht entrinnen. Ich konnte meine Fürsorge und meine Angst um ihn nicht abstellen, weil er auf den falschen Weg geraten war. Aus Liebe. Nein, gerade weil er sich verloren zu haben schien, musste ich jetzt bei ihm sein, durchhalten, ausharren.
Ich schlang den Arm fester um ihn. Schnee bedeckte seine Beine. Er war barfuß, aber selbst seine schneebedeckten Füße, strahlten Wärme ab. Was auch immer das Gift in seinem Blutkreislauf anrichtete, im Augenblick half es uns beiden, nicht zu erfrieren.
Ich schloss die Augen und versuchte mir nicht vorzustellen, wie Selinia und Eerin tobten, aber ihre Gesichter schwebten wie dunkle Vorahnung vor meinem inneren Auge. Irgendwann, irgendwie, würden sie aus Nejdra entkommen und sich auf die Suche nach uns machen. Eine ungleiche Jagd drohte unsere Freundschaft zu entzweien. Ich wusste es, sie wussten es. Unser Schicksal war unausweichlich. Selinia gehörte zu Eerin, und ich gehörte zu Karon. Durch Schicksal, Blut und Liebe waren wir alle ein wenig vereint.
Ein tiefer Atemzug ließ Karons Brust zusammenfallen. Er riss die Lider hoch und bäumte sich so abrupt in meiner Umarmung auf, dass ich ihn beinahe nicht halten konnte. Erwachen fuhr wie ein Blitzschlag durch all seine Glieder. Jeder Muskel zog sich einmal kurz zusammen, und ließ dann wieder los. Er krampfte kurz, aber heftig. Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückte er einen Aufschrei und fiel dann so plötzlich in sich zusammen, wie er zu sich gekommen war. Ich hielt ihn, zog ihn näher zu mir und schlang wieder beide Arme um ihn. Ich wollte, dass das Erste, was er nach seiner Ohnmacht spürte, meine Gegenwart war. Ihn ins Leben zurückzuholen, war meine Bürde und Pflicht. Diesmal war ich da, wenn er mich brauchte. Diesmal schenkte ich ihm das Vertrauen, um das er mich so sehnlichst gebeten hatte.
Es war bitterkalt. Die Zeit stand still. Auf meinen Wimpern kristallisierte die feuchte Luft zu Eis. Meine Hände lagen auf seiner Brust und hoben und senkten sich mit ihr. Er atmete. Zunächst abgehackt, schwer, dann immer ruhiger und sanfter. Seine Krämpfe erloschen, Muskeln und Sehnen, Knochen und Fleisch entspannten sich langsam. Von schräg hinter ihm sah ich ihn blinzeln. Immer wieder. Irgendwann, viele Augenblicke später, hob er das Gesicht den grauen Wolken entgegen. Eine blasse Andeutung des Sonnenkreises barg sich hinter ihnen. Schwere Schneewolken und eiskalte Nordwinde türmten sich am Himmel zu einem Gebilde aus Trostlosigkeit und Kälte auf.
Karons Aura flammte langsam auf, wie Kerzenlicht, brannte sich ein, wurde größer und heller.
»Ist dir kalt?«, raunte ich ihm ruhig zu. Ich setzte alles daran, gelassen zu klingen, aber mein Herz wummerte so fest an seinen zerschundenen Leib, dass er mir dieses Trugbild nicht abkaufen würde.
»Nein«, erwiderte er.
Seine Stimme war rau. Von etwas durchzogen, das nicht menschlich war, nicht emotional und ganz und gar nicht zu ihm passen wollte. Er drehte sich langsam ein Stück zu mir herum, bis er über seine Schulter hinweg aus den Augenwinkeln mein Gesicht sehen konnte. In seinem Blick lag Wirrung, Unverständnis. Er sah mich an, wie ein Ertrinkender, dem ich die Hand reichen wollte, aber er nahm sie nicht. Er betrachtete mich wie ein Gespenst. Wie etwas, das nicht echt sein konnte. Als traute er seinen eigenen Sinnen nicht.
Als er sich langsam abwandte, fragte ich sanft: »Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«
»Ich bin aufgespießt worden«, erwiderte er kühl. »Mein Kopf funktioniert wunderbar.«
Ich schluckte. Er wollte mich abschütteln, von sich stoßen, aber ich bekam ihn zu fassen, schlang einen Arm um seine Brust und hielt ihn fest. Im Vollbesitz seiner Kräfte hätte er mich mühelos abschütteln können, aber das Gift schwächte ihn. Meine Chance. »Hör auf!«, zischte ich ihm ins Ohr. »Ich lasse dich los, wenn du mit mir sprichst!«
»Worüber?«, entgegnete der Dämon finster.
»Dieses.. Ding«, murmelte ich. »Dieser Teil von dir, den du nicht beherrschen kannst, und der vor wenigen Stunden noch versucht hat, Syra und mich zu töten. Darüber.«
Karon wurde still. Ich sah, wie sich seine Pupille weitete. Er erwachte aus einem grotesken Albtraum. Die kalte, harte Wirklichkeit prasselte wie Eisregen auf ihn hinab.
»Ich weiß«, unterbrach ich ihn, ehe er auch nur einen Ton hervorbringen konnte. »Du warst das nicht. Du wolltest keinem von uns schaden. Aber der Whyndrir wollte es. Und er hat es getan.« Ich ließ ihn los, ging in die Hocke und zog mich durch den Schnee, bis ich vor ihm saß und ihn ansehen konnte. Er senkte den Blick, wollte sich abwenden, aber ich ließ ihn nicht. »Ich weiß, dass du das nicht hören willst«, raunte ich ihm zu. »Ich gebe dir keine Schuld daran.«
»Aber ich.«
Er nickte mir zwar zu, aber ich fühlte, dass mit dem Erwachen seiner Erinnerungen auch Zweifel und Selbsthass in seine Gedanken sickerten. Wie konnte ich helfen? Was tun, was sagen oder tun, um sein gramgebeugtes Bewusstsein zu beruhigen?
»Ich hatte das Gefühl, ich kann dich erreichen. Ich dachte, ich bin dazu da, um dem Whyndrir seine Grenzen aufzuzeigen, um dir ein Freund und eine Stütze zu sein, aber als du dich verloren hast, konnte ich gar nichts tun, um dir zu helfen. Um ein Haar wären wir beide verloren gegangen.«
Karons Blick schweifte in die Ferne. Ich sah ihn dort nach einer unsichtbaren Erinnerung greifen. »Ich habe den Zauber geweckt.«
»Selinia hat dich ausgeschaltet, ehe du ihn benutzen konntest.« Ehe er in Flammen aufgegangen und verschwunden war.
»Er ist jetzt ein Teil von mir. Ein Teil meiner Gedanken. Irgendwann muss ich ihn aussprechen.«
»Aber nicht heute und nicht jetzt. Darüber machen wir uns Gedanken, wenn du dich erholt hast.« Ich hob die Hand zum Hals, löste seinen Anhänger von mir und drückte ihn in seine Hand. »Wir müssen jemanden finden, der dich am Boden halten kann und stark genug ist, es mit dem Whyndrir aufzunehmen. Ich kann ertragen, dass ich dieser jemand nicht bin. Aber ich kann nicht ertragen, dich so verloren zu sehen. Wir brauchen Hilfe.«
Wie in Trance starrte mein Freund auf das silberne Schmuckstück in seiner Hand. Seine Finger schlossen sich darum, als wollte er unbedingt an einem Traum festhalten. Sich an etwas klammern, dass nicht sein konnte. »Erias..«
»Nein, schon gut!«, erwiderte ich hastig. Meine Hände schnellten abwährend in die Höhe. »Du musst nichts erklären. Es ist alles in Ordnung. Ich fühle mich nicht wertloser dadurch. Ich will nur-«
»Es gibt unendlich viel zu erklären!« Karon packte meine Hand und drückte mir den Anhänger hinein.
Ich sah ihn an, blinzelte verwirrt. Hatte er nicht verstanden, dass ich ihm helfen wollte? Dass ich mir jede einzelne Minute seit unserer Flucht das Hirn zermartert hatte, was ich tun konnte, um ihm und mir zu helfen? Verstand er nicht, dass ich meinen Stolz beiseiteschieben konnte, wenn uns diese noble Geste rettete? Ich musste nicht der sein, der an seiner Seite das Böse bekämpfte. Mir reichte aus, wenn er mich auf diese Reise mitnahm, mir hin und wieder von meiner Mutter erzählte, und ich Teil seiner Geschichte sein durfte. Ich hatte gelernt, meinen Stolz von mir zu schieben, wenn das Ziel so leichter zu erreichen war. Die Mönche hatten mich gelehrt, klug und offen zu sein, weltgewandt und mich nicht von meinen eigenen Gefühlen blenden zu lassen. Ja, sie hatten mir einen Weg aufgezeigt, den ich frei von Schuld, frei von Sorge und Qual gehen konnte. Ich musste nicht sein Retter sein. Nicht das stolze Wesen, das in seinem Namen Theremal bewahrte. Mir reichte es, ein Teil dieser unfassbar schönen, wilden Welt zu sein - und ein Freund.
»Verstehst du denn nicht«, setzte ich an. »Ich will doch nur helfen.«
»Doch«, unterbrach er mich hastig. »Und wie ich verstehe. Ich verstehe deine Angst, deine Zweifel, ich kenne den Irrsinn, der durch deine Gedanken streicht, aber ich kann über dieses Chaos hinweg die Wahrheit sehen.« Mit Nachdruck schloss er meine Finger um den kleinen Rabenschädel. »Ich kann sehen, dass von unserer Bindung nichts verschwunden ist. Alles ist noch da, wo es sein sollte. Du bist stark geblieben, und ich bin nur deinetwegen wach und bei Bewusstsein. Du hast unter dem Einfluss meines Zaubers gestanden, und trotz allem gespürt, dass ich dich nie verletzen wollte. Diese Bindung ist gewaltig. Sie endet mit deinem Tod oder mit meinem, oder wenn ich sie mutwillig trenne. Aber sie endet nicht durch fremde Magie oder Zweifel.«
»Aber ich konnte nicht.. Ich wusste nicht, was.. Ich wollte nur..« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Gefühle stürzten auf mich ein. Es waren nicht meine eigenen, sie gehörten ihm. Ein Dschungel aus unendlich tiefer Sehnsucht, gepaart mit Zweifeln, Sorge und großen Ängsten, umschlang mich und hüllte mich in einen Vorhang aus Dunkelheit. Ich hätte sofort den Mut verlieren können, aber in all der Finsternis strahlte ein kleines Licht heller als alle Zweifel - mein Vertrauen. Selbst in allergrößter Not, hatte ich nicht aufhören können, zu ihm zu halten. Als alle Taue gerissen, als Zauber gesagt und alle Flüche gesprochen waren, und es nur noch uns beide und den Tod gab, war mein Vertrauen in ihn noch immer unerschütterlich, ungebrochen, und so gewaltig wie ein Gewitter in den Bergen.
»Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist«, erwiderte der Dämon ernst. »Ich bin von einer Kreatur überrannt worden, der ich kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Ich habe dich gehört, ich konnte dich sehen und zu jeder Zeit deinen Schmerz spüren. Ich sah all deine Zweifel und habe deiner Stimme gelauscht. Du hast mit dem Whyndrir um meine Seele gekämpft, wie kein anderer jemals um mich gerungen hat.«
»Alles, was ich getan habe, war nicht genug.«
»Nicht genug, um was zu tun?« Karon sah mich fest an. Die Schwäche, die seinen Blick zeichnete, wurde von wilder Entschlossenheit untergraben. »Was hast du denn erwartet? Dass deine Stimme jede meiner Wunden heilt? Dass mich deine bloße Nähe retten wird? Erias, in meiner dunkelsten Stunde, warst du alles, woran ich mich klammern konnte. Es hat funktioniert.«
»Es war nur nicht genug.«
»Es lag nicht an unserer Verbindung.«
»Woran lag es dann?«
Er wollte mich trösten und aufmuntern. Ich wusste seine Bemühungen zu schätzen, aber meine Seele blutete eiskalte Tränen, weil ich hatte zulassen müssen, dass Selinia ihn vergiftete und unschädlich machen konnte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er kurz darauf. Sein Blick hielt mich weiterhin gefangen. Ich sah ihn atmen. Schlohweiße Atemwölkchen entstiegen seinen Lippen. Sie verbargen die dunklen Schatten unter seinen Augen. »Ich konnte spüren, wie du mich zurückgerissen hast. Vor mir befand sich eine Tür. Ich hätte nur hindurchgehen und dem Whyndrir die Stirn bieten müssen. Aber ich konnte es nicht. Du warst da, der Weg war da, und ich konnte ihn einfach nur nicht gehen.«
»Vielleicht bin ich nicht der Richtige. Du brauchst einen Krieger. Jemanden, der unerschütterlich ist.«
»Du hast nie an meinem Wort gezweifelt. Du hast mir vertraut. Wieso zweifelst du jetzt meine Wahrheit an?«
»Weil ich mich nicht fühle, als wäre ich der Richtige für diese Aufgabe. Ich hatte Angst. Ich wusste, ich muss dich retten, und hatte keine Ahnung, wie. Ich habe mich machtlos gefühlt. Und wenn du mich getötet hättest, wärst du vielleicht ebenso verloren gewesen.«
»Erias, wenn ich könnte, würde ich dir zeigen, wie die Welt durch meine Augen aussieht. Sie ist ein dunkler und kalter Ort. Als du in diese Höhle kamst, und ich weder deinen Namen kannte, noch wusste, wer du warst, hast du bereits heller gestrahlt als jede andere Kreatur, die ich durch diese neuen Augen erblickte. Ich kann mich nicht geirrt haben. Es ist unmöglich. Das, was geschehen ist, war nicht deine Schuld.«
Ich blinzelte. In seiner Stimme schwang ein Gefühl mit, das ich selbst nach einem Blick in seine Gedanken, nicht entschlüsseln konnte. »Du glaubst, es liegt an dir«, stellte ich nachdenklich fest, besann mich dann jedoch darauf, wo wir uns befanden, und wie ernst die Lage war und fragte zum ersten Mal: »Kann ich dir denn noch vertrauen?«
Karon wandte sich im Sitzen zu mir um. Ich spürte seine Zerrissenheit, die auch an meinem Selbstbewusstsein nagte. Natürlich wollte ich ihn nicht verletzen, aber Selinias Worte hatten mich nicht unberührt zurückgelassen. Meine Mutter hatte meinen Tod vorausgesagt - durch die Hand eines Dämons, und Karon daraufhin gleich, nachdem das Ritual gelungen war, weggesperrt. Sie liebte ihn. Und sie liebte ihr Leben. Beides verlor sie durch diese selbstlose Tat. Während ich versuchte, meine Sorgen zu verstecken, spürte ich, wie der Dämon in mein Bewusstsein tauchte.
»Tu das nicht«, warnte ich ihn, aber er ignorierte meinen Einwand und las stattdessen meine Gedanken. Angespannt kniff er die Augen zusammen und tauchte in meinen Sorgen unter, wie ein Fisch in einem glasklaren See.
Als er wieder auftauchte, wirkte er seltsam ruhig. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er tatsächlich gefunden hatte, wonach er auf der Suche war. Doch er sagte nichts, legte lediglich den Kopf in den Nacken zurück und atmete kleine, blasse Wölkchen in die klirrende Nordluft. »Ich schwöre dir, dass ich nichts davon gewusst habe«, erwiderte er sanft. »Inadette hat nie ein Wort zu mir gesagt. Wenn sie mir von ihren Träumen erzählt hätte, wäre ich freiwillig in diese Höhle gegangen und dort geblieben.« Kopfschüttelnd wandte er mir den Blick zu. »Woher weißt du davon?«
»Selinia hat im Tagebuch meiner Mutter ihre Vorahnung gelesen.«
»Sie weiß davon?«
»Deshalb wollte sie dich unschädlich machen. Aber ich glaube nicht daran. Ich bin sicher, Mutter hat sich geirrt.«
Und wenn nicht?
»Ich weiß, du würdest es nie tun. Aber der Whyndrir würde. Und nach dem, was heute geschehen ist, habe ich wahnsinnige Angst vor ihm.« Ich atmete tief und schwer ein und aus. »Auch vor dir. Die letzten Stunden sind nicht spurlos an mir vorübergegangen. Aber ohne dich schaffe ich es nicht.«
»Ich habe keine Antwort für dich, Erias.«
»Und wer kann es wissen? Es muss doch in ganz Theremal irgendein Wesen geben, das sich mit dem Herzen des Whyndrirs auskennt. Woher wusste meine Mutter von diesem Ritual? Wer hat sie auf die Idee gebracht, dich auf diesem Weg zu retten? Wer weiß davon?«
Karon blinzelte. »Ich weiß es nicht.«
»Wer weiß es dann? Irgendwen müssen wir fragen können. Es gibt immer irgendwo jemanden, der mehr weiß, als alle anderen. Gibt es.. noch mehr Wesen wie dich?«
Karons Stirn schlug Falten. »Du meinst, einen lebenden Whyndrir?« Er schüttelte gedankenverloren den Kopf . »Als ich noch nicht lange existierte, gab es eine Whyndrir-Dame. Aber sie zog sich zurück und verschwand. Ich fühle nicht, dass da noch jemand ist. Ich kann ganz Theremal spüren, jeden Ort, jede Lichtung, jedes Feld, jeden Stein, aber ich spüre keinen anderen Whyndrir. Ich-« Er blinzelte. Plötzlich versiegten die Worte, die von seinen Lippen fielen. Er sah mich an, doch sein Blick glitt durch mich hindurch, wie durch flüchtigen Nebel. »Der letzte Whyndrir, der herkam, hat den Runenstein stehlen wollen und beinahe zerstört.«
Er murmelte die Worte vor sich hin. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich hatte genau das schon einmal gehört. Doch wo? Meine Gedanken kreisten. Ich schloss die Augen und suchte in mir, in ihm, in uns, nach der Antwort.
»Wo hab ich das schon einmal gehört?«, endete Karon.
Als seine Hand mich berührte, schlug ich die Lider hoch und erkannte, dass er sich auf die Knie hochgestemmt hatte. In seinem Blick flackerte Aufregung. Das Gift hemmte ihn, es lähmte und schadete seinem Körper, aber in seinen Augen loderte plötzlich ein wacher, aufgeweckter Geist. »Ich weiß, wo ich das schon einmal gehört habe«, wisperte er.
»Bei den Zhian-Ag«, stießen wir wie aus einem Munde hervor.
Meine Erinnerung war schwammig. Aber als uns der König dieses seltsamen Volkes durch den Zauberschleier in die Nähe des Runensteins geführt hatte, waren eben dies seine Worte gewesen. Ich hatte angenommen, dass sie eine Warnung sein sollten. Sie sollten Karon davon abhalten, den Runenstein zu beschädigen. Aber ich hatte mich geirrt.
»Der Zauberschleier«, wisperte ich. »Du hast gesagt, er separiert unsere Gedanken und Gefühle. Wir konnten einander nicht mehr hören. Sogar Selinia konnte ich weniger in meiner Nähe spüren. Da war ein Hauch von Bedrohung in der Luft. Denkst du etwa..?«
Karons Lippen zuckten. Sein rechter Mundwinkel hob sich zu einem diabolischen Grinsen. In seinen Augen flammte das Feuer der Sonne auf. Hell und gleißend. »Die Zhian-Ag haben einen Whyndrir direkt vor meiner Nase versteckt. Und durch den Zauber und die Anwesenheit des Runensteins habe ich nichts von seiner Anwesenheit gespürt. Ich war so sehr mit dem Runenstein und dem Zauber beschäftigt, dass ich nicht einmal hinterfragt habe, wieso die Zhian-Ag einen so gewaltigen Bannspruch spinnen, nur um ein Relikt zu bewachen, das ohnehin nur ein Whyndrir nutzen kann. Ihr König hat uns die Antwort auf einem Silbertablett serviert, und ich habe sie einfach nicht gesehen. Sie haben mich auf den Prüfstand gestellt, und ich bin durchgefallen. Alle Antworten lagen direkt von meiner Nase.«
Er wirkte bedrückt und das Gift gewann die Oberhand. Mit zusammengebissenen Zähnen lehnte er sich noch schwerer gegen mich. Ich wollte ihn packen, ihn stützen, aber ich wagte es nicht. Irgendwie wusste ich, dass er das alleine tun musste.
»Denkst du wirklich, es ist wahr?«
Karon nickte. »Eine Legende besagt, jedes Jahrhundert kann einen Whyndrir hervorbringen. Einen Krieger, der Theremal schützt und von der Welt selbst beschützt wird. Wenn man unsterblich ist, ziehen Jahrhunderte wie bewegte Bilder vorüber. Dämonen sind zäh und langlebig. Ja, ich denke, es ist möglich, dass es mehr von uns gibt.«
»Wenn dort draußen ein Whyndrir ist, der Jahrhunderte lang bereits in diesem Zustand überdauert, dann kann er dir vielleicht helfen, die Übergangsphase zu überstehen und vielleicht weiß er auch, wieso es dir fast gelungen ist, mich umzubringen.«
»Ja.« Karon nickte nachdenklich. »Möglicherweise.«
Er wirkte zweifelnd, zerrissen.
Ich erwiderte seinen Blick stolz, straffte die Schultern, symbolisierte meine Entschlossenheit. »Ich lasse nicht zu, dass du mir etwas antust.«
»Ich bin sehr viel stärker als du. Ich kann dich mühelos zum Bersten bringen.«
»Du bist nicht länger unverwundbar«, erwiderte ich aufrichtig. »Therion hat einen Weg gefunden, dich unschädlich zu machen. Wenn es keinen anderen Weg gibt, dann..«
»Dann gehe ich in die Höhle zurück«, entschied Karon prompt. »Wir erneuern den Zauber, und ich werde dort warten, bis du dein Leben gelebt hast. Für mich ist Zeit wertlos, wenn sie nicht von ein paar Lichtern durchflutet wird.« Er sah ich hilfesuchend an. »Ich gebe dir und mir diese eine Chance. Wir reisen zu den Zhian-Ag, und wenn es dort keinen Whyndrir gibt, akzeptierst du meinen Weg.«
»Und Syra?«
»Therion kann nicht für immer in ihrem Körper bleiben. Syra hat einen sehr starken Willen. Ich konnte sie spüren. Irgendwann wird sie ihn vertreiben, und wenn er mich nicht finden kann, wird er sich vielleicht wieder zur Ruhe betten.«
»Und wenn es diesen Whyndrir gibt? Wenn er uns sagen kann, was mit uns nicht stimmt?«
»Dann wird sich Therion schon bald auf der anderen Seite der Schlacht wiederfinden.«
Ich wusste, Karon konnte ihn töten, und Therion wusste es auch. Er war so schnell verschwunden, nachdem Selinia Karon aus dem Weg geräumt hatte, weil er an dem letzten Rest Leben hing, das noch in ihm war. Alles, was er noch besaß, war kostbar.
Ich verzog das Gesicht. »Darüber müssen wir uns wohl oder übel auch noch Gedanken machen.« Ich biss mir auf die Lippe, presste die Augen zusammen und zischte leise, während ich mir Selinias wutverzerrtes Antlitz vorstellte. Karon sah mich fragend an. »Ich habe sie nicht mitgenommen, weißt du? Sie wollten ein in Gift getränktes Messer in deiner Haut stecken lassen und dich festhalten, wenn nötig für eine sehr, sehr lange Zeit. Ich konnte nur daran denken, dich zu retten. Und ich habe sie möglicherweise in Nejdra zurückgelassen.«
Ein kleines, ein zaghaftes und bescheidenes Lächeln erhellte das Gesicht des Dämons und plötzlich war sie wieder da: Karons grenzenlose Güte. »Und deshalb bist du der Richtige, um an meiner Seite zu sein.« Er hob die Hand, obwohl es ihm offensichtlich schwerfiel, und klopfte mir zweimal auf die Schulter. »Nur Dämonen und jenen, die mit einem Dämon reisen, ist es gestattet, sich in der Schattenwelt aufzuhalten. Wenn ein Sterblicher allein in ihr verbleibt, wird sie ihn abstoßen. Sie wird über ihnen zusammenbrechen und sie ausspucken, wie eine bittere Traube. Mach dir keine Sorgen um sie. Sie kommen wohlbehalten nach Hause.«
»Und wie ist Therion nach Nejdra gelangt? Er ist doch kein Dämon, oder? Und Syra auch nicht.«
»Jemand muss ihm geholfen haben. Und ich denke, ich weiß auch, wer.« Khaithalin. Der Name flammte hell und feurig in seinem Bewusstsein auf und erlosch ebenso schnell wieder.
Ich hätte ihn womöglich danach fragen sollen, aber all meine Gedanken kreisten nur um diesen einen, kleinen Hoffnungsschimmer: Vielleicht gab es irgendwo im Reich der Zhian-Ag eine Antwort auf all die Fragen, die Karon und mich seit unserer ersten Begegnung quälten.