»Sie sind der Whyndrir«, wisperte ich. Ehrfurcht ließ mich tiefer ein- und ausatmen.
Die alte Frau neigte den Kopf, blickte noch immer lächelnd an Karon vorbei und fand mich. Doch sie sah mich nur an. Ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihr Geist, alles strebte danach, sich an Karon zu binden, und ich wusste sofort, als sich sein Bewusstsein mit einem Schlag aus meinem zurückzog, dass es ihm genauso ging.
Er war steif geworden. Seine Muskeln verhärteten sich, sein Herz schlug langsamer, sein Körper stemmte sich gegen den irdischen Rest seines Wesens. Er wirkte leblos. Wie ein Gefäß, das sich unaufhörlich leerte und seinen Inhalt in die Welt verströmte.
»Du weißt, wer ich bin«, sagte die Alte, streckte beide Hände vor uns nahm Karons Finger in ihre. Sie schaute zu ihm auf, unverwandt, freundlich, und fesselte seinen Blick an ihre eisgrauen Augen. »Und ich weiß, wer du bist. Hab keine Angst vor mir.«
Karon? Angst? Ich hielt ihre Worte für einen Scherz, bis ich nähertrat und sein Gesicht sah. Seine Augen waren weit, seine Miene starr, sein Ausdruck ganz und gar unbewegt. Er wirkte wie eine lebende Statue. Kalt. Leblos. Die Whyndrirdame drückte seine Finger, ehe sie die Hände hob und auf seine Wangen legte. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er und musste auf Zehenspitzen stehen, um ihn zu erreichen. Doch was sie bezweckte, setzte ein. Ganz langsam schmolz die Starre aus Karons Blick. Er senkte den Kopf, schaute auf die liebevollen Augen hinab und verlor sich in ihrem Gesicht. Obwohl ich es nicht sehen konnte, wusste ich, sein Körper und seine Seele trennten sich unter ihrer Berührung. Sein Wesen zersplitterte.
»Was ist mit ihm?«
Meine Stimme zitterte. Ich konzentrierte mich fest auf meinen Freund, doch ich fand kein Leid in ihm. Was auch immer die Alte ihm antat, er ließ es freiwillig geschehen. Karon war von einer eigenartigen Friedlichkeit umgeben. Etwas, das ich in seiner Nähe noch nie gefühlt hatte. Er war ein von Sorgen und Kummer geplagter Geist. Seine Gedanken kreisten immerzu um große Fehler, um Angst.
Nichts davon war in diesem Augenblick in ihm.
»Er blickt gerade in drei Jahrtausende Whyndrir-Magie. Durch unzählige Augen in unaussprechlich viele Welten. Er sieht sein Schicksal und den Fluch, das Leben und das Licht der alten Zeit.« Die Alte wandte sich mir nicht zu, aber ich wusste, ihre Worte galten mir. Nicht ihm. »Gib ihm einen Augenblick. Ich verspreche dir, ihm geschieht nichts.«
»Sie..«, setzte ich zaghaft an. »Sie sind ein Whyndrir?«
»Ich war der Einzige, bis dein Freund kam.«
»Wer sind Sie?«
Die Lippen der Alten öffneten sich. Sie holte Luft, setzte zu einer Antwort an, als Karon schleppend wiedererwachte.
»Belin«, wisperte er, umfasste ihre Handgelenke, als wollte er sie niemals mehr loslassen und brachte seinen Geist wieder in seine Gewalt. Mit dem zweiten Atemzug wurden seine Muskeln weicher, seine Gedanken wieder geschmeidig. Sein Bewusstsein glitt aus ihrem heraus, befreite sich wie ein Phönix aus der Asche und stieg zu einer neuen, stolzen Form seiner Selbst auf. Er blinzelte in ihr Gesicht, sah auf ihre Hände hinab und drückte ihre Finger sanft, als könnte er nicht glauben, dass sie vor ihm stand.
»Und du musst Karon sein«, erwiderte die Alte - Belin - gutmütig. »Der Wind spricht schon sehr lange von dir. Nur dachte ich, du wärst verschwunden oder einem bösen Zauber zum Opfer gefallen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du irgendwann wiederkommen würdest.«
»Gibt es sie denn?«, fragte ich an Karons Stelle. »Zauber, die euch zerstören?«
»Alles, was lebt, kann durch irgendeinen Zauber zerstört werden. Wir sind nicht unendlich.« Sie zog die Mundwinkel noch ein Stück weiter nach oben. »Ich bin so froh, dass ihr mich gefunden habt. Es gibt viel zu bereden.«
»Ich wäre schon eher gekommen«, erwiderte Karon. »Aber ich habe lange gebraucht, um dieses verfluchte Rätsel zu knacken. Als ich das letzte Mal hier war, konnte ich dich nicht spüren.«
»In deinem Körper fließt etwas Böses«, stellte Belin fest. Stirnrunzelnd ließ sie den Zeigefinger über die Venen seines Unterarms gleiten. »Es macht dich verwundbar. Das Gift einer Shelkii?«
»Ja. Aber deswegen bin ich nicht gekommen.«
»Natürlich nicht. Ein Whyndrir ist immer auf der Suche nach Antworten. Unser ganzes Leben ist eine einzige Suche. Auch ich habe gesucht und gesucht, und irgendwann bin ich hier gelandet.«
»Und hast du jemals eine Antwort auf die großen Fragen gefunden?«
Sie nickte, doch sie antwortete nicht. Ich wusste, sie würde Karons Fragen beantworten, wenn sie alleine wären. Aber ich verstand ebenso, dass er mich niemals bitten würde, zu gehen, und ich ihn im Augenblick auch nicht alleine lassen wollte. Auch Karon schien diese Wahrheit zu spüren.
Er schmunzelte ungläubig. »Was habe ich da eben gesehen?«
»Du bist im Bruchteil einer Sekunde in die Fußstapfen unzähliger Whyndrirwesen vor dir getreten. Du hast all ihre Gedanken gehört, alles gesehen, was sie gesehen haben. Du bist mit ihnen in jeder Welt gewesen, die je ein Whyndrir betreten hat, und durftest den Nektar ihrer Weisheit kosten. Einen Bissen der Macht schmecken, die durch deine Venen rauscht. Wenn du es zulässt. Keine Sorge, eines Tages wirst du soweit sein. Es dauert etwas. Gib dir Zeit. Dein Körper wird sich langsam an dieses neue Leben gewöhnen. Das Gefühl, eins mit allen dieser Wesen zu sein ist-«
»Überwältigend«, unterbrach er sie. »Es fühlte sich an, wie der Tag meiner Geburt. Ein friedlicher Schlaf voller absurder Träume, gestreckt auf eine nie enden wollende Zeitspanne. Da war ein Licht. Eine Stimme. Jemand sagte mir, dass ich hier richtig bin. Dass ich dort angekommen bin, wo ich hingehöre.«
Belin kicherte. »Endlich hat das Schicksal einem Whyndrir seine Stimme verliehen, der mit Worten umzugehen weiß.« Sie sah ihn an, und allmählich verblasste ihr Lächeln. »Ich weiß, wer du bist«, ließ sie ihn wissen. »Ich habe schon mein ganzes Leben lang auf dich gewartet.«
»Wieso?«
»Weil ich alt bin, und mir während meines Ritus versprochen wurde, der Whyndrir nach mir, würde die Schuld all meiner Fehler aussühnen. Du hast bereits damit begonnen. Du bist hier. Wir schlagen eine ungleiche Schlacht.«
Instinktiv wanderte Karons Blick zu dem Runenstein zurück. Ich rief mir die Worte des Zhian-Ag-Königs in Erinnerung. Er hatte davon gesprochen, dass der letzte Whyndrir versucht hatte, ihn zu stehlen. Wenn Belin bis zu Karons Erwachen der einzige Whyndrir Theremals war, dann konnte nur sie dieses Wesen sein. Und offenbar hatte sie bitter für diesen Fehler büßen müssen.
»Vor Hunderten von Jahren kam ich an diesen Ort und verlor mich in der Schönheit des Zaubers, den der Runenstein für mich bereithielt. Ich wollte ihn den Zhian-Ag nicht fortnehmen, aber ich wollte mich auch nie von seiner Macht trennen. Ich dachte an all die Leben, die ich retten konnte, an all die Kriege, die durch meine Hand enden würden, wenn ich die Macht dieses Artefakts mit meinen eigenen vereinte. Aber aus dieser Verbindung wuchs eine schreckliche Symbiose. Der Runenstein vernebelte meine Gedanken. Und als die Königin der Zhian-Ag mich bat, Abschied von ihm zu nehmen, tötete ich sie. Zur Strafe spann ihr Volk diesen Zauber um den Stein. Ich bekam eine einmalige Gelegenheit, zu gehen, und mein Leben fortzusetzen, aber ich entschied mich für den Stein und gegen das Leben. Seither sitze ich hier unten, zwischen Nebel und Steinen, und denke fortan jeden Tag, an jedes noch so kleine Glück, das ich versäumt habe. Ich sehe die Welt in Scherben liegen und habe so lange gehofft, jemand würde kommen und mich sehen. Theremals Stimme und ihr Schwert sein und mein Unrecht ausmerzen. Und du kommst her und berührst den Stein, und dein ungestümer Drang danach, die zu retten, die du liebst, wischt das Blut von ihm ab und verwandelt seinen Zauber wieder in gute reine Magie.« Belin seufzte. »Du bist meine einzige Möglichkeit, mich reinzuwaschen.«
»Ich bin nicht hier, um irgendjemanden zu befreien«, erwiderte Karon ernst. Er neigte den Kopf zur Seite, löste eine Hand und wies in meine Richtung. »Ich bin seinetwegen hier.«
»Natürlich«, entgegnete Belin kein bisschen enttäuscht oder traurig. »Er ist das einzige Wesen für dich, das eine Bedeutung haben sollte. Er ist deine Seele, dein Licht. Sein Leben ist ein Wunder. Du musst auf ihn Acht geben. Ohne ihn siegt das Dunkel. Immer.«
Ich sah Karon schweren Herzens nicken. »Ich hatte gehofft, dass du mir helfen kannst, diese Bindung zwischen uns besser zu verstehen. Ich brauche deinen Rat. Hilf mir, und ich helfe dir.«
»Ein gut gemeinter Rat sollte nie an Bedingungen geknüpft sein. Deshalb helfe ich dir, auch wenn du danach gehst und nie zurückkommst. Wir sind die Letzten unserer Art.« Erstmals wandte sie den Blick von ihm ab und schaute mich an. Ihre Augen blickten tief in meine Seele und legten alle Geheimnisse offen. Auch die, die ich gern für mich behalten hätte. »Wie ist dein Name, Junge?«
»Erias.«
»Du bist noch sehr jung, Erias. Manche Wahrheiten zeigen sich erst, wenn man älter wird. Was liegt dir so schwer auf dem Herzen, dass du meinen Rat suchst?«
»Ich bin das Problem.« Karon breitete die Arme aus und seine Bewegung wirbelte Nebelgeister auf. »Der Whyndrir gehorcht mir nicht. Er hat versucht, diese Bindung anzugreifen, und ich konnte ihn nicht aufhalten.«
Belin runzelte die Stirn. »Was ist geschehen?«
»Gestern hätte ich Erias beinahe umgebracht. Ich konnte es fühlen, ich habe gekämpft, mich gegen den Whyndrir aufgelehnt, aber ich konnte es nicht verhindern.«
Meine Erinnerung war hellwach. »Etwas.. trennte uns. Es hat sich wie eine Barriere angefühlt, die keiner von uns überwinden konnte.«
»Habt ihr einen Zauber gesprochen? Oder seid einem zum Opfer gefallen?« Sie musterte nun wieder Karon. »Was sagt dir dein Gefühl?«
»Nichts«, verneinte er. »Ich kann seine Gedanken lesen, all seine Gefühle spüren, ich sehe seine Aura und ich wollte seinen Tod nicht. Und doch..«
Belin nickte. »Kommt her«, befahl sie uns und bot jedem von uns eine Hand dar.
Nach einem prüfenden Blick in Karons Gesicht legte ich meine Finger auf ihre, und Karon tat es mir gleich. Durch Belin verbunden, flammte eine Stärke in uns auf, die Karons Bindung an die Schattenwelt noch weit übertraf. In meinen Blutgefäßen loderte Feuer. Mein Körper stand innerlich in Flammen. Auf meinen Lippen lag ein würziges Aroma von Erde, ich schmeckte das Salz des Meeres auf meiner Zunge. Ein unendlich weit entferntes Rauschen kündete mir von einem Wasserfall, der sich tosend in die Tiefe stürzte. Und dann fuhr der Wind wie ein gespenstisches Raunen durch mein Haar. Theremal flüsterte meinen Namen.
»Alles ist da«, sagte die Whyndrir schließlich. »Karon, dein Band durch die Erde und das Herz dieses Sterblichen ist ungeheuer stark. Ich selbst besaß nie ein derartiges Empfinden für meinen Seelenverwandten. Als ich mich an das Element Luft band, wurde meine Bindung zu ihm flüchtig wie ein Hauch. Du siehst, wir sind wie die Kräfte, die uns beherrschen. Wir binden uns an das Element, dem wir am ähnlichsten sind.«
»Ich hatte keinen Einfluss darauf.«
»Doch. Den haben wir alle. Du hast starke Kräfte, die in dir und der Erde wurzeln. Ich war stets sprunghaft und flüchtig. Ich lernte vor vielen Jahren einen Whyndrir kennen, ruhig wie das Meer. Aber wenn Gefahr drohte, aufbrausend wie die wilde Gischt.«
»Und einen, heiß wie das Feuer?«, warf ich ein.
Belin schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, hat sich nie ein Whyndrir an das Feuer gebunden. Unsere Herzen sind kalt. Sie beschützen uns vor bösen Zaubern. So wie sich das Gift in diesem Moment durch deine Venen frisst, würden es auch die Flammen tun. Kein sehr angenehmer Zustand. Deshalb meide die Flammen. Außerdem bin ich gar nicht sicher, ob es möglich wäre. Wir binden uns für immer an unsere Entscheidungen. Und das hat uns Jahrtausende lang am Leben gehalten.«
»Tausend Jahre altes Whyndrirwissen, und du weißt dennoch nicht alles?«
Das gutmütige Lächeln der Alten kehrte zurück. »Nein. Aber ich weiß andere Dinge, die viel wichtiger sind. Ich sehe Stolz und Stärke, eine lange Reise voller Gefahren und Vertrauen, das euch zusammenschweißt. Ich sehe eine Frau, die euch zusammengeführt und in Liebe vereint hat. Und einen finsteren Mann, der nach euch greift. Ein Schatten aus der alten Welt. Mehr darf ich dir nicht verraten, tut mir leid.«
»Siehst du auch eine Prophezeiung?«, hakte Karon stirnrunzelnd nach.
»Ja. Ich sehe blasse Worte und eine große Angst vor der Zukunft. Eine schwere Entscheidung und einen schmerzhaften Verlust. Die Frau, die euch eint, ist deine Mutter.« Ihre Aufmerksamkeit wandte sich mir zu. »Willst du sie hören?«
Ich nickte stumm.
»Das Kind eines Königs wird geboren und leben.
Siebzehn Jahre sind dem Knaben gegeben.
Dann wird er schwinden, der Zauber verfliegen.
Das Königskind soll dem Dämon erliegen.«
Sie blinzelte. »Denkst du, dass du der Dämon aus dieser Weissagung bist? Du fürchtest, es könnte sich bewahrheiten.« Hastig winkte sie ab. »Das sind nur Worte. Vielleicht bedeuten sie gar nichts.«
»Ich würde jede Warnung ernstnehmen, wenn sie meine Freunde bedroht«, gab der Dämon kühl zurück.
»Ein Charakterzug, den ich beneide.« Belin zwinkerte ihm zu. »Eine Prophezeiung bedeutet rein gar nichts. Das sind leere Worte auf Papier. Schattenhafte Angstvisionen einer sorgenvollen Mutter. Sie können sich heute, morgen oder auch niemals erfüllen. Sie haben keine Seele. Das Schicksal lässt uns nur sehr selten in seine Pläne sehen. Also gräme dich nicht, Whyndrir. Prophezeiungen töten keine Menschen. Nur wir tun das. Und du hast ein gutes Herz.«
Karon nickte, aber er war bleich geworden. Belins genaue Wiedergabe der niedergeschriebenen Vorahnung meiner Mutter zauberte ihm den Schrecken ins Gesicht, denn irgendwie wurde sie dadurch realer. Sie kam näher. »Was siehst du noch?«
»Ein Schatten liegt auf eurem Band. Eine große, allumfassende Lüge trübt eure Sicht. Ihr müsst sie ausmerzen. Ihr müsst einander bedingungslos vertrauen können. Andernfalls wird diese Verbindung schwächer, und sie kann euch sogar gefährlich werden. Sie kann eure Seelen aneinanderbinden und gemeinsam in den Abgrund stoßen. Wollt ihr diese Bindung, müsst ihr um sie kämpfen. Wollt ihr sie nicht, müsst ihr sie lösen. Eine Bindung dieser Art birgt eine große Verantwortung. Du, Karon, bist das Medium der Götter. Ihre Kraft rinnt durch dein Blut. Du kannst den alten Pakt erfüllen und das Gleichgewicht halten. Aber dazu brauchst du den Jungen. Du, Erias, kannst Karon im Gleichgewicht halten, das ihm durch das Wesen des Schamanen entgleitet. Fehlende Bruchstücke einer aufgespaltenen Seele heilen unter deinen Fingern, aber wenn du bleibst, birgt diese Verbindung ein Risiko für dich. Der, der euch auf den Fersen ist, wird die Macht eurer Nähe nutzen, um euch in die Enge zu treiben. Freundschaft macht euch angreifbar, Liebe verwundet euch. Ist es das, was ihr wollt, dann kämpft um jeden Rest davon. Schützt euch. Beseitigt die Lüge, die euch entzweit, oder geht auseinander und vergesst dieses Band zwischen euch.«
Ich sah an ihr vorüber zu Karon hin und hatte plötzlich das Gefühl, er wich meinem Blick aus. Wenn es Geheimnisse oder Lügen gab, die zwischen uns standen, dann kamen sie von ihm, denn ich war immer ehrlich, immer aufrichtig zu ihm gewesen. Ich hatte nie gelogen, und ich war davon ausgegangen, dass auch er immer die Wahrheit zu mir sagte.
»Karon?«, hauchte ich ein wenig verloren in die Luft.
Er schüttelte den Kopf, trennte die Verbindung sowohl zu Belin als auch zu mir, und sperrte mich mit einem Schlag aus seinen Gedanken aus. Als er sich abzuwenden drohte, machte auch ich mich von Belin frei, huschte an ihr vorüber und umfasste seinen Ärmel. Er riss sich los. »Erias, nicht..«
»Ich habe niemals gelogen«, erwiderte ich aufrichtig. »Ich habe dich immer und überall in mein Herz sehen lassen. Ich habe keine Geheimnisse vor dir, und ich will, dass du weißt, egal wie furchtbar das sein mag, das du mir verheimlichst, ich kann und ich will diese Last mit dir teilen. Also-«
»Das«, erwiderte Karon und betonte das Wort so scharf, dass ich zusammenzuckte, »ist etwas anderes!«
»Etwas anderes, das euch um Kopf und Kragen bringen kann.« Belin verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr seid hierher gekommen, weil ihr eine Wahrheit gesucht habt. Jetzt habt ihr sie gefunden. Ich sprach eben von Vertrauen und Weisheit. Jetzt müsst ihr beweisen, dass ihr beides besitzt.«
Karon warf einen Blick über seine Schulter zurück, musterte die Schattenschamanin scharf. Mit einem Mal war sein Inneres zerrissen, all seine Gefühle aufgewühlt.
»Egal wie schlimm es ist«, setzte ich nochmals an, »wenn dieses Geheimnis dafür sorgt, dass du diesen Ort wieder gemeinsam mit mir verlässt, bin ich bereit dazu.« Ich zuckte die Achseln. »Ich habe keine Angst. Sieh nach, wenn du mir nicht glaubst. Ich bin vollkommen angstfrei.«
Er sah mich an, und tatsächlich ließ er die Barriere in seinem Kopf fallen. Seine Gedanken streckten sich nach meinen aus. Was konnte wohl so groß und finster sein, dass er sich fürchtete, es auszusprechen? Wann mochte er mich wohl belogen haben? Ging es um Selinia? Um seine Gefühle für meine Mutter?
Ich schüttelte den Kopf, verbannte alle Zweifel aus meinen Gedankenwelten. Als ich den Dolch aus seinem Rücken gezogen und mich offenkundig gegen Selinia und Eerin gestellt hatte, hatte ich mir gegenüber geschworen, ihm bis zum bitteren Ende zu vertrauen. Ich war weit an seiner Seite gegangen, und jetzt umzukehren kam nicht in Frage. Jetzt waren wir hier, hatten den letzten lebenden Whyndrir gefunden - jetzt wollte ich mehr. Siegen. Ihn befreien von der Last, die er offenbar mit sich herumschleppte.
»Geht es um meine Mutter?« Ich zögerte, als ich die Worte sprach. Ich wollte nicht in seinen Gefühlen herumwühlen, aber ich musste wissen, was er wusste, sehen, was er gesehen hatte. »Du kannst mir alles sagen. Alles. Aber ich werde dich nicht dazu drängen.«
Als unsere Blicke sich trafen, lag eine ungesprochene Wahrheit zwischen uns in der Luft. Wir waren durch mehr als den Whyndrir aneinander gebunden. Anfangs mochte es ein Ritus gewesen sein, dann Freundschaft, Vertrauen, und nun liebte ich ihn wie den Bruder und den Vater, den ich nie besessen hatte. Wie Familie. Ich wusste, er las auch diesen Gedanken, und ich beschloss, ihn so im Raum stehen zu lassen. Sollte er mir diese Wahrheit offenbaren wollen, dann aus freien Stücken.
»Mein Seelenanker ist schon viele Jahre lang tot«, wisperte Belin hinter mir. »Er war mein Geliebter. Als ich ihn verlor, und nicht bei ihm sein konnte, weil ich an diesem Ort festgehalten wurde, schwor ich mir, diesen Fehler wieder gut zu machen. Doch ich bekam nie Gelegenheit dazu.« Sie seufzte. »Ich bin sehr alt und sehr mächtig geworden. Das Herumsitzen hat mich über viele Dinge nachgrübeln lassen, und heute sehe ich Einiges in einem anderen Licht. Ich könnte dich zwingen, diese Lüge zu offenbaren. Ich bin der Ältere von uns.« Sie stützte die Hände in die Hüften. »Ich besitze sehr viel Macht. Würdest du über diese Macht verfügen, stünde dir die Welt offen. Dir und deinem Freund. Keine Prophezeiung könnte euch ängstigen, niemand zu irgendetwas zwingen, was ihr nicht wollt.«
»Ich verfüge bereits über Macht«, entgegnete Karon stur. »Was ich suche, ist Frieden.«
»Und du kannst ihn finden. Ihr beide könnt es. Ihr könnt von hier fortgehen, als freie Wesen, frei aller Zwänge und Sorgen. Du, Karon, kannst all jene, die du liebst, schützen. Du kannst jeden Feind bezwingen, jeden Ort besuchen, an dem je ein Whyndrir war, und über all ihr Wissen und ihre Macht verfügen. Auch sie wissen nicht alles, und manchmal gibt es keine richtige Antwort, aber ich kann dir den einzigen Weg zum Glück weisen.«
»Aber der Preis ist hoch«, vermutete der Dämon. »Was willst du?«
Belin schmunzelte. »Als du das erste Mal hierher gekommen bist, hat sich dein Schicksal entfaltet, als du in meine Nähe kamst. Du hast mit deinem Eintreten in meinen Schutzwall, den Whyndrir in dir befreit.«
Ich erinnerte mich genau. Hier war das Ungeheuer zum ersten Mal erwacht.
»Er ist kein Monstrum«, tadelte mich die Alte. »Er ist Weisheit und Wissen, Bruder und Freund. Er ist dein Beschützer, dein Lehrer, dein Pfad in die Unendlichkeit und er vereint alles Wissen Theremals in sich. Wir sind alt. Das Wort Whyndrir bezeichnet den ersten Krieger, der seine Seele dem Erhalt dieser Welt opferte. Er rettet dich Tag für Tag vor einem unwürdigen Tod durch Krankheit und Alter, und er wird den Menschen, die du liebst, viel Zeit und Glück bescheren. Karon kämpft im Verborgenen gegen dieses Wesen. Er fürchtet um sein brüchiges Seelenheil.« Sie schaute zu ihm hin. »So ist es doch, nicht wahr? Du denkst, er frisst deine Seele, er löscht dich aus und durchdringt deinen Körper wie Gift. Aber sieh mich an. Ich lebe bereits so lange in dieser friedlichen Symbiose. Ich habe schon eine Ewigkeit kein Leben mehr genommen. Meine Gedanken sind frei. Ich bin mein eigener Herr. Der Whyndrir-Geist in deiner Brust hat dein Herz nicht kalt gemacht, um dich zu bestrafen. Er tat es, um dich zu schützen. Und er wird dich immer schützen. Hör auf, gegen ihn anzukämpfen. Heiße seine Macht willkommen, und ich schenke dir meine Kraft.«
»Und wenn ich sie nicht will?«
»Du willst sie. Nur sie lässt dich die Wahrheit sehen. Nur sie befreit dich von allen Ketten dieser Welt. Sie schmilzt jeden Bann, bricht jeden Zauber.«
»Und was gewinnst du dabei?«
Belins Lächeln wurde schief. »Frieden«, gestand sie. »Das Schicksal hat mir dich versprochen, um meine Fehler mit Stärke auszugleichen. Um meine Taten ungeschehen zu machen. Und ich bin bereit dazu. Ich bin bereit, dir zu folgen.« Sie griff unter ihren Rock und zog etwas hervor, das wie ein gebogener, großer Stoßzahn anmutete. Aber es war ein Knochen. Er war vergilbt und schien spröde zu sein, seine Enden waren spitz gefeilt und todbringend. »Dieser Knochen ist ein Totendolch. Das Instrument des ersten Whyndrirs. Des einen, der vor allen anderen kam. Das einzige Objekt, mit dem ein Whyndrir einen anderen Whyndrir töten kann. Die Natur hat uns so geschaffen, dass wir einander lieben und ehren, aber nicht jagen und töten sollen. Hier.« Sie streckte die Hand aus, aber Karon griff nicht zu. »Nur du kannst mir in diesem verfluchten Zauberbann meinen Frieden schenken. Du kannst Wahrheit über dich und deinen Freund bringen, und mit meiner Macht in einen Kampf ziehen, der nicht länger ungerecht scheint.« Ihre Augen lächelten plötzlich gütig, selbst wenn ihre Lippen ernst geblieben waren. »Ich weiß von Therion. Ich weiß von dem, was er dir angetan hat, und was er dir noch antun wird. Ich weiß, alle die du liebst, werden von nun an Jagd auf dich machen. Sie werden Feinde sein, und niemand wird dich verstehen. Du brauchst Macht, um dich zu verteidigen.«
»Und durch deinen Tod erlange ich sie.« Karons Augen wurden schmal. Argwohn funkelte darin. »Das ist alles?«
»Ja, Karon. Das ist alles. Frei von Bedingungen und Kummer, frei von dieser Magie und dem Gefühl der Ewigkeit sein. Wenn Theremal nicht wollen würde, dass wir diesen Weg beschreiten, wärst du nicht heute zu mir gekommen.«
»Was ist heute?«
Nun folgten ihre Lippen dem Beispiel ihrer Augen. Sie verzogen sich, bildeten ein sanftes, gutmütiges Lächeln. »Der Tag, an dem ich sterben werde.« Als ich auffahren wollte, hob sie beschwichtigend die Hände. »Schon gut. Es ist alles in Ordnung. Ich habe sehr lange gelebt, habe viel Glück gesehen, und auch ich habe geliebt. Der Whyndrir nimmt dir diese Liebe nicht weg. Er verstärkt sie. Er hebt sie in den Himmel und macht sie ewig. Aber mein Himmel zeigt Nacht für Nacht die gleichen Sterne, und ich bin der Gedanken und Selbstgespräche überdrüssig geworden. Es gibt keine Geschichte, die ich mir nicht bereits erzählt habe.«
Ein Hauch von Wehmut fuhr über mich hinweg. Ich begann zu frieren. Belins Worte erinnerten nicht an eine alte Frau, die an der Welt und ihrem Leben hing. Ihre Stimme war voller Liebe, voller Leben und Güte, aber ihr Leben selbst war ein leerer und trostloser Ort. Ihr Zuhause ein Gefängnis. Ich wusste, selbst wenn Karon ihr Hilfe anbieten würde, den Zauber, mit dem die Zhian-Ag sie hier festhielten, konnte auch er nicht brechen.
»Hier.« Sie hob die Hand, auf deren Innenfläche der gebogene Knochen lag. »Du weißt, du wirst diesen Handel eingehen müssen. Er ist deine Bestimmung. Bring es zu Ende, sag dem Jungen, was du ihm mehr als alles andere verheimlichen willst, und dann zieh in den Krieg und gewinne Frieden für Theremal. Frieden für die Erde, an die du dich gebunden hast.«
Wie in Trance bewegten sich Karons Finger. Er berührte den Knochen, schloss seine Finger um ihn und hielt einen Augenblick lang inne. Diesmal konnte ich nicht sehen, was zwischen den Beiden vorging. Aber Karons Gesicht entspannte sich, seine Skepsis verblasste und ein Echo des Friedens, den Belin verströmte, trat in seine tiefgrünen Augen.
»Sag es ihm«, beschwor sie ihn. »Tu es für dich. Lass die Ketten fallen. Es wird euch befreien und das Band zwischen euch wieder stärken.«
»Oder zerstören.« Karon nahm den Knochen aus ihrer Hand und wog ihn lange in den Fingern. »Als ich das letzte Mal kam, hast du mich berührt und den Whyndrir in mir geweckt, der bis dahin friedlich geschlafen hat.«
»Ich konnte nichts dagegen tun. Wir sind eins, auch wenn wir zwei Körper sind. Du bist mit jedem Whyndrir eins, so wie du mit Theremal und dem Herzschlag dieser bizarren Wirklichkeit verwachsen bist. Mit dem Ritual hast du diesen Pakt akzeptiert. Du bist nicht mehr du, du bist wir. Du bist wir alle geworden. Meine Zeit ist um. Theremal braucht einen Whyndrir, der die Kraft, die ihm zur Verfügung steht, auch nutzen kann. Sieh mich an. Ich bin alt geworden. Mein Kummer lässt meine Haare grau und meine Knochen schwach werden. Meine Zeit ist gekommen.«
»Ich habe so viele Fragen..«
»Die Zeit wird sie dir alle beantworten. Ich werde ein Teil von dir sein, und niemals mehr verloren gehen. Lass mich nicht darum bitten, in meinem letzten Atemzug noch von Nutzen für dich sein zu dürfen.«
Karon nickte träge. Er wirkte plötzlich unsicher, wie ein Junge, der von Zuhause fortgehen musste, um erwachsen zu werden. Seine Augen verrieten, dass ihm Belins Wunsch widerstrebte. Doch sie hatte die Zukunft gesehen und ihren Lauf erblickt. Sie wusste, was er tun würde, was er tun musste. Sie wusste, er würde das Richtige tun.
Als der Dämon sich zu mir umwandte, lastete die Wahrheit seiner Entscheidung schwer auf ihm. Ich nickte ihm zu, trat an seine Seite und wartete stumm darauf, dass er sich entschuldigen würde. Aber er tat es nicht. Der Würfel rollte nicht mehr. Die Entscheidung war gefallen.
»Ich kann sie verstehen«, wisperte ich. »Was fühlst du?«
»Gar nichts«, entgegnete er. »Ich weiß längst, dass es wahr ist. Aber der sterbliche Teil meines Wesens, möchte keinem unschuldigen Wesen einen Knochen ins Herz rammen und sich an Kräften laben, die ihm nicht gehören.«
»Aber das tun sie«, sagte Belin. »Sie gehören dir. Und auch wenn ich jetzt alt und müde bin, bin ich nicht immer unschuldig gewesen. Auch ich habe gewütet und Menschen verletzt. Ich bin nicht besser als du, und nicht schlechter als der Junge. Wir sind, wer wir sind.«
Mit einem tiefen Atemzug verließ auch der letzte Zweifel Karons Körper. »Es wird wehtun.«
»Wird es nicht.« Belin flüchtete sich nun ganz und gar in ihr Lächeln. Sie schlug ihr Kleid zurück und setzte sich ungeschickt auf einen der großen Steine. »Komm her. Lass mich das für dich tun. Du brauchst den Dolch nur zu halten.«
Ungeschickt machte Karon den ersten Schritt. Er setzte sich seltsam steif, und Belin schmiegte sich an seine Schulter. Ich hätte gern mehr getan, als zuzusehen, denn obgleich wir Fremde waren, empfand ich eine tiefe Dankbarkeit für diese stolze, alte Frau. Aber dieser Weg war Karon vorbehalten. Sanft umschlang Belin seine Hand, in der sich der Knochen befand. Sie führte ihn mit dem spitzen Ende über ihre Brust. Ein befreiter Seufzer entglitt ihren rauen, trockenen Lippen.
»Weißt du, was ich mir wünsche?«, flüsterte sie an seine Brust.
Karon atmete scharf ein. »Ja.«
Dann hob er die freie Hand, bettete sie auf ihre Wange und hob ihr altes, von Falten durchfurchte Gesicht an, schenkte ihr einen zarten, liebevollen Blick und berührte mit seinen Lippen sanft die ihren. Es war kein stürmischer Kuss, und ihm wohnte keine Liebe inne, aber er war verheißungsvoll und sanft. Eine letzte, liebevolle Geste für eine sterbende Frau. Ich sah die rasche Bewegung kommen, mit der sie Karons Hand den tödlichen Hieb vollführen ließ, aber ich spürte ihr Dahinscheiden nicht. Sie sank friedlich in den Armen meines Freundes zusammen. Ein Hauch von Stille legte sich über den Ort und schon begannen feine Nebelschwaden, ihre Gestalt zu umschließen.
Karon beendete den Kuss langsam. Als er seinen Mund von ihrem nahm, sickerte ihr schneeweißer, leuchtender Lebensodem über ihre Lippen zwischen seinen hindurch und verschwand in der Stille seiner Kehle.
Sterbend neigte sich die Whyndrirdame vor, lehnte sich in seine Arme und flüsterte ihm ein paar letzte Worte ins Ohr. Seine Hand strich eine lose Strähne aus ihrer Stirn. Dann berührte er sie noch einmal mit den Lippen, hauchte einen Abschiedskuss auf ihre Stirn und ließ ihren Körper auf den Stein sinken. Friedlich. Stumm. Ein kleiner Tod an einem unauffälligen Ort. Er bedeutete nichts, und doch wies er den Weg in eine große, eine veränderte Zukunft. Ich wusste, Karon würde die Welt nun durch andere Augen sehen.
Er ballte die linke Hand zur Faust, führte sie an seine Stirn und drehte sich langsam von ihr fort. Sein Blick wanderte über den Boden, zu mir hinüber, an meinem Körper hinauf und blieb an meinem Gesicht hängen. Lange musterte er mich. Er brauchte diese Zeit, um mit sich wieder ins Reine zu kommen. Immerhin hatte er geschworen, nie mehr ein Leben auszuhauchen. Doch diesmal war es anders. Etwas geschah mit ihm. Es war nicht äußerlich, es war ein innerer Frieden, der ihn beseelte, als er die ersten Schritte in meine Richtung ging.
»Was hat sie gesagt?«, flüsterte ich dumpf.
»Dass Feuer immer der letzte Ausweg sein sollte. Was auch immer das bedeuten mag.« Er wirkte deprimiert. Seine Stimme klang müde.
»Es tut mir so leid für dich«, sagte ich zu ihm.
Als er an meine Seite trat, klopfte ich ihm auf die Schulter. Er nickte und schritt an mir vorüber. Er ließ mich stehen, trat an den Runenstein heran und berührte mit seiner Hand dessen raue Oberfläche.
»Ich habe dich nie belogen, Erias. Alles, was ich sagte, ist wahr. Ich habe nur an dem Punkt aufgehört zu erzählen, an dem es schmerzhaft wurde.« Er runzelte die Stirn, schaute zurück zu mir und lächelte ein schiefes, bitteres Lächeln. »Als ich damals beschloss, die Hilfe deiner Mutter anzunehmen, beschwor ich ein Unheil herauf, das mich heimsuchen wird, bis es aus der Welt geschafft ist.«
»Sprichst du von Therion?«
»Ja und nein. Ich spreche von Liebe und Hass. Es ist eine sehr, sehr alte Geschichte. Sie handelt von Eifersucht und Raserei. Vom Wissen, dass man falsch liegt und der Unfähigkeit, daran etwas zu ändern. Wie ich dir bereits erzählte, schlug deine Mutter dieses teuflische Ritual vor. Sie begleitete mich in die Höhle, in der du mich gefunden hast. Sie wusch und salbte mich und blieb drei Tage lang an meiner Seite, während meine Seele einmal durch die Totenwelt wanderte und zurückkehrte. Als es vorüber war, war ich schwach. Ich konnte mich kaum bewegen, ich fühlte mich elend und krank. Zu dieser Zeit betrat Therion die Höhle. Das Ritual war beendet, aber die Kräfte, die wir heraufbeschworen hatten, wanderten noch immer ziellos umher. Sie umgaben mich, denn ich war schutzlos in diesem Moment. Sie waren um mich herum, und um deine Mutter, und ihr einziges Ziel bestand darin, alles Böse von uns abzuschirmen. Und sie taten, wozu sie geschaffen waren. Als sie die Gegenwart eines finsteren Wesens fühlten, holten sie zum Vernichtungsschlag aus. Ich sah Therion in die Höhle kommen, ich spürte, dass er da war, aber ich konnte ihn nicht retten. Er raste vor Wut. Er schwor mir, mich und alle, die ich liebe, zu finden und für meinen Hochverrat leiden zu lassen. Der Whyndrir fasste seine Worte als Drohung auf, obgleich er selbst wohl nichts vor ihm zu befürchten hatte. Er war nur ein armer, zorniger Mann, der die Wahrheit nicht sehen wollte. An diesem Tag starb Therion. Die Kräfte in dieser Höhle rissen ihn entzwei, zerstörten seinen Körper und fügten seiner Seele schwerste Schäden zu. Ich kann mich an nicht sehr viel erinnern, was danach geschehen ist. Ich habe das Bewusstsein verloren, und als ich wiedererwachte, gab mir Inadette einen Abschiedskuss und verwandelte mich in den Raben, der ich war, als du mich gefunden hast.«
»Also hast du ihn gar nicht getötet?«
»Nein, und doch bin ich schuld daran.«
»Aber Karon, das weiß ich alles.«
»Nein, du weißt nicht alles.« Karons Finger streichelten über den Stein, als würde ihm die Wahrheit entsteigen. Er stützte die Handflächen auf die kühle Oberfläche. Haare fielen ihm vor die Augen. »Denn ich habe nicht erzählt, dass Therion ihr Mann war. Der König.« Er sah zu mir auf. »Er ist dein Vater.«
Ende Teil 1