»Sei vorsichtig, Erias.« Felida trat an Lyrh heran, hob mir die Finger entgegen und ließ zum Abschied etwas Kleines in meiner Hand zurück.
Sie waren mit mir zum See gekommen, hatten sich mit eigenen Augen davon überzeugen wollen, dass dieses Untier, von dem ich erzählte, existierte, und sich anfangs nicht aus dem Unterholz getraut. Erst, nachdem Karon sich bei ihnen bedankt hatte, waren sie aus dem Wald gekommen und hatten abwechselnd eine von Lyrhs Pfoten berührt. Durch meine ausgestreckten Fühler spürte ich ihre verborgene Unsicherheit, doch ihr Wunsch, uns Hilfe zu leisten, war stärker als die Sorge.
Ich blickte auf meine Hand hinab. Ein kleines Leinensäckchen, kaum größer als meine Handfläche lag darin. Fragend schaute ich sie an, zog mit der freien Hand die Schnur auf und spähte hinein. Ein großer, flacher, schneeweißer Stein lag darin und eine fingergroße Phiole, gefüllt mir nur ein paar Tropfen einer glasklaren Flüssigkeit.
»Das ist ein Schneestein«, sagte sie lächelnd. »Er erinnert den, der ihn trägt, in aussichtslosen Augenblicken immer an das Licht. Er funktioniert. Sonst wären wir nie durch den halben Wald gelaufen, um nach euch zu suchen.«
»Und in dem Fläschchen?«, fragte ich dankbar lächelnd, zog die Schnur wieder zu und verstaute den Beutel sicher in meiner eingenähten Tasche.
»Heilwasser einer ganz besonderen Quelle. Nur meine Großmutter kennt den Ort, an dem sie entspringt. Vielleicht wird es dir eines Tages von Nutzen sein.«
Als Lyrh schnaubte, wich sie zurück. Ich saß bereits auf seinem Rücken und klammerte mich mit einer Hand in seinem Fell fest. »Danke«, rief ich zu ihr hinab und sie huschte zufrieden an die Seite ihres Bruders.
»Kommt gut an«, murmelte sie. Ihre Augen folgten Karon, als dieser hinter Lyrh trat und mit einem Satz auf dessen Rücken sprang.
Er rutschte näher an mich heran, lugte über meine Schulter hinweg und tippte seinem Bruder auf die Schulter. »Flieg uns zum Gebirge von Ni’ek. In meiner Vision konnte ich Berge sehen, und Schnee auf ihren Spitzen. Sie müssen sich nahe der eisigen Ebenen verstecken.«
»Und wir?«, hakte ich nach. »Wo sind wir hier?«
Ich kannte so wenig von meiner eigenen Welt, dass ich mich schämen sollte, Theremal meine Heimat zu nennen. Aber die eisigen Ebenen waren mir ein Begriff. Sie lagen im Nordosten Oaras und bildeten die äußeren Grenzen des Reiches. In Buna befand sich das Kloster, in dem ich aufgewachsen war, und durch Selinia wusste ich, dass wir im Süden, auf der größten Thenkra Insel den Zhian-Ag begegnet waren. Systematisch führte mich das Leben an Karons Seite durch diese neue, fremde Welt.
»Wir sind in Khela«, antwortete Lyrh direkt in meinen Kopf hinein. »Wir überfliegen den großen Wald, der direkt an Oara grenzt, und werden dort rasten. Für den Flug nach Ni’ek brauchen wir zwei Tage. Dann siehst du deine Freunde wieder, junger König. Schneller geht es nicht auf meine Weise.«
»Es wäre möglich, dass ich mich schnell erhole«, warf Karon ein. »Vielleicht kann ich uns morgen dorthin bringen. Aber das erspart uns höchstens ein paar Stunden. Tut mir leid, Kleiner. Aber meine magischen Grenzen sind erreicht.«
»Ich habe dir keinen Vorwurf gemacht.« Ich ließ den Schneestein in meine Hosentasche gleiten und versenkte beide Hände in Lyrhs schwarzem Fell. »Ich bin bereit.«
Ein letztes Mal sah ich zu Urma und Felida hin. Sie hielten sich im Arm und wirkten ein klein wenig traurig und bestürzt darüber, dass wir sie so schnell wieder verließen. Ich wünschte mir plötzlich mehr Zeit, um sie kennenzulernen und mehr Trauer für den überstürzten Abschied, aber Lyrh setzte sich plötzlich in Bewegung, dass ich beides nicht bekam. Ich versuchte, keinen Schmerz zu empfinden, aber die Schnelllebigkeit der letzten Tage tat mir weh. Weder von Gorla noch seiner Familie, Selinia oder Eerin hatte ich mich verabschieden können. Der Gedanke, auch nur einen von ihnen niemals wiederzusehen, setzte mir zu, bis wir in der Luft waren, und ich mich einem anderen Gedanken hingeben musste. Dem, dass ich noch nie geflogen war.
Plötzlich lähmte ein seltsamer Schrecken meine Glieder. Meine Finger verkrampften sich. Ich schlug sie in das lange Fell und Lyrh knurrte leise. Unter meinen Fingern zuckte einer seiner Muskeln. Ich versuchte, zu atmen, mir einzureden, dass ich von zwei starken Dämonen beschützt wurde, und mir nicht geschehen konnte, aber die irrationale Furcht davor, hinunterzufallen, lähmte mich. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich, wie Karons Mund ein Lächeln formte. Aber er verspottete mich nicht. Er nahm seine Chance wahr, etwas für mich tun zu können und öffnete seinen Geist so weit, dass er meinen beinahe verschluckte. Sein Bewusstsein flutete meines mit Bildern, mit Gefühlen, mit Erinnerungen an schöne, an stolze und edle Dinge - und an Selinia. Auch wenn ich es nicht gewollt hätte, ich entspannte mich wie von selbst.
Der Wind blies mir um die Nase, er zog und zerrte an meinen Haaren, aber meine Furcht schmolz dahin, denn ich wusste, am Ende des nächsten Tages, würde ich wieder bei ihr sein, sie in den Arm nehmen können, und alles wendete sich zum Guten. Ich glaubte fest daran, und Karons Magie bestärkte mich darin, an dieser Hoffnung festzuhalten.
»Besser?«, fragte er mich aus reiner Höflichkeit, denn er wusste genau, wie ich mich fühlte. Dennoch nickte ich, und kurz darauf war er hinter mir verschwunden. Ich blinzelte, drehte den Kopf und suchte nach ihm. Und dann erspähte ich nur wenige Meter über uns einen dunklen Schatten, geworfen von mächtigen Rabenschwingen.
»Du kannst einfach nicht anders, oder?«, murmelte ich, drehte den Blick wieder nach vorn und lehnte mich vornüber auf Lyrhs muskulösen Tierleib. »War er schon immer so?«
»Du meinst, ein Scharlatan, Angeber und Possenreißer? Ja, so lange ich denken kann.«
»Kennst du Syra?«
»Ich bin ihr nie begegnet, aber ich weiß, dass sie meinem Bruder nie gut getan hat. Er hat nicht auf mich hören wollen, aber vielleicht weiß er es inzwischen selbst.«
»Mh«, murmelte ich. »Ich glaube, sie hat sich verändert.« Ich dachte an die Liebe zurück, die ich auf der Lichtung gespürt hatte, an Karons Worte und den Glanz auf seiner Seele, wenn er heute von ihr sprach. »Wie ist es möglich, dass ihr Brüder seid? Selinia hat mir erzählt, wie Dämonen geboren werden. Sie sagte, ihr habt weder Mutter noch Vater. Es gibt nur einen Anstoß, eine Macht, die euch aufweckt.«
»Karon und ich sind im selben Augenblick zur Welt gekommen. Der Hauch, der ihn aufgeweckt hat, hat uns beide wachgerütteklt. So etwas ist selten, und es verbindet. Wir gruben uns aus der Erde frei und saßen lange schweigend da. Ich denke, nur weil wir sind, was wir sind, fühlt er sich zu dieser Welt hingezogen, und ich zur anderen. Whyndrir.. Was denkst du, Junge. Bekommt er diesen Fluch in den Griff? Der Letzte war ein heilloses Durcheinander. Ich erkannte ihn kaum wieder.«
»Ja. Ich glaube, diesmal ist es etwas anderes.«
»Etwas Großes, mh? Ich habe von diesem Ritual gehört. Kann mich nicht wirklich erinnern, aber es war eine ziemlich große Sache.«
»Eine ziemlich große«, pflichtete ich ihm bei und dachte an Karons unvorstellbare Heilkraft und seine Verbindung zu jedem Ort und jedem Wesen Theremals. Das zu fühlen, was er fühlen konnte, musste schier unglaublich sein.
Über uns hörte ich den Raben krächzen, hob ihm das Gesicht entgegen und sah zu, wie der Wind durch sein Federkleid tanzte. Ich beneidete ihn ein wenig, auch wenn es vieles gab, das ich ihm voraushatte. Karon konnte immer und überall frei sein. Er brauchte sich lediglich in sein Federkleid zu werfen, und schon konnte ihn nichts und niemand mehr halten. Mit einem tiefen, sehnsuchtsvollen Seufzen neigte ich mich zu Lyrh vor. »Du hast recht«, murmelte ich. »Er ist ein furchtbarer Angeber.«