Karon stand am Abgrund und blickte in die Tiefe. Unter ihm tobte das Nordmeer. Es peitschte an die Klippen, am äußersten Rand Oaras, dort, wo Syra schon vor Jahren Wurzeln geschlagen hatte. Schaumige Wellen spritzten in die Höhe und der Wind wehte ihm die salzige Seeluft ins Gesicht. Von den Zinnen der Festung aus erschien ihm das Meer schwarz und dunkel. Der Grund war unendlich weit entfernt, still und friedlich, auch wenn auf der Oberfläche der Sturm tobte. Dort unten, verborgen vor aller Augen, fernab aller Konsequenzen und aller Magie, wollte er sein. An einem stillen, einem friedlichen Ort.
Eine steife Böe riss Karon die Haare ins Gesicht. Er öffnete die Augen und blickte dem Horizont entgegen. Sie wegzuwischen - undenkbar. Sein Körper war in eine seltsame Starre verfallen. Resignierend gestand er sich ein, diesmal einen Fehler begangen zu haben, der ihm zum Verhängnis werden konnte. Und doch regte sich erstmals sein verletzter Stolz.
War er wirklich hier, um ein Gefangener zu sein? Oder hatte er sich selbst an diesen Ort verbannt, weil ein Teil von ihm glaubte, nur hier, an ihrer Seite, lag die Lösung für ihre Schwierigkeiten?
Wie ein Blitzschlag fuhr es durch seine Eingeweide. Er spürte eine Schwingung auf und klammerte sich mit wehem Herzen an ihr fest.
Sie war hier.
Aus dem Nichts kam eine Hand, schob sich in seine leblosen Finger und er packte wie in Trance zu, umschloss sie mit seinen und atmete hörbar tief ein. Der Grund des Meeres rückte in weite Ferne. Auch wenn sich sein Herz noch gegen die Wahrheit sträubte: Hier, Hand in Hand mit dieser Frau, wollte er sein, jetzt und auf ewig.
Irgendwann lange nach Sonnenaufgang war er auf den höchsten Turm gestiegen. Seine Rabengestalt lechzte danach, befreit zu werden, aber sein Schwur hielt ihn davon ab, zu fliegen. Das Drängen seiner anderen Gestalt nagte an ihm. Es wäre so leicht.. So unsagbar einfach. Ein Gedanke, ein kleiner Zauber und - ZACK - Freiheit. Wieso sträubte er sich so sehr dagegen, diesen Schritt zu wagen? Weshalb ließ er nicht los. War Erias' Leben mehr wert als das jedes anderen Geschöpfes?
Er drehte den Kopf zur Seite, gerade als Syra mit der freien Hand den Saum ihres Kleides raffte und neben ihm auf die Zinnen stieg. Der Wind zerzauste ihr langes, dunkles Haar. Sie war schön. Von unbeschreiblicher Anmut. Ihr Blick floh sehnsüchtig in die Ferne und erinnerte ihn schmerzhaft an die wunderschöne, stolze Frau, an die er einst sein Herz verloren hatte. Der Erstickungstod kroch seine Kehle hinauf.
»Fürchtest du nicht, ich könnte dich hinabstoßen?«, zischte er, doch er hielt ihre Hand instinktiv fester. Als würde sie verlorengehen, wenn er wagte, auch nur einen Moment loszulassen. War ihre Liebe so flüchtig geworden?
»Nein«, erwiderte sie amüsiert, während sie sich dem Abgrund noch ein Stück weiter näherte. Ihre blanken Zehen umschlossen die scharfe Kante des Felsens. »Du würdest mir doch nachfliegen, nicht wahr?«
Trotz seines schwelenden Zorns würde er sie ohne mit der Wimper zu zucken retten. Und gerade dieses moralische Bedürfnis, das Richtige zu tun, gab Syra die Macht, sein Herz in der Hand zu halten. »Leider ja.«
Syras Blick streifte ihn flüchtig, doch dann schweifte er wieder ab, glitt in die Ferne und heftete sich dort an einen Punkt, unendlich weit entfernt. Karon ließ seine Augen den ihren folgen und erspähte einen Vogelschwarm, der sich am Himmel sammelte und frei durch die Wolkendecke brach. Sehnsucht flackerte wie ein Sonnenstrahl in seinem Herzen auf. Aus den Augenwinkeln sah er sie noch immer grinsen. Ihre hochgezogenen Mundwinkeln, die vor Leben blitzenden Hexenaugen und das vom Wind zerzauste Haar, rührten an verborgene Instinkte, die hinter ihm liegen sollten. Jeder Blick, jede Geste, jede Berührung, erinnerten ihn an das alte Feuer in seinem Herzen, das sie zu Monstern gemacht hatte. Ein Wort von ihr genügte, um alte Wunden aufzureißen und ihn trotz aller Whyndrirmagie hilflos erscheinen zu lassen.
Er musste sein Inneres verleugnen.
»Es ist noch immer da.« Syra seufzte. »Ich habe in dein Herz gesehen. Ich spüre, wie es in deiner Brust zerspringen will, wenn ich dich nur ansehe.« Sie wandte sich ihm zu. Eine Böe verwehte ihre Frisur. Sie wusste genau, Karon mochte, wenn sie ihr Haar offen trug. »Du bist immer noch der Gleiche. Immer noch der Mann, der einen sterbenden Vogel aus reiner Liebe zum Leben auflesen und gesundpflegen würde. Kein Zauber wird dich je in etwas anderes verwandeln.«
»Du hast es beinahe geschafft.«
»Nur beinahe. Und wir kämpften für unser Recht. Für die Freiheit aller Schattenblüter. Für uns. Für sie. Für alle. Wir waren Helden.«
»Wir waren Ungeheuer, Syra. Wir haben Krieg geschaffen, wo keiner war und Schnee mit Blut überzogen. Ich wollte nie dieses Wesen sein. Niemals all diese Dinge tun. Ich wollte immer der sein, der einer Rabenhexe vertraut, auch wenn sie etwas Böses verbirgt. Alles, was ich wollte, war mit dir glücklich sein. Und das will ich noch immer.«
Karon blinzelte ihr zu. Die Seeluft brannte in seinen Augen, aber ihm fehlte die Kraft, sich von ihr abzuwenden. Die Stärke des Whyndrirs brannte unter längst vergangener Leidenschaft.
»Du wärst nicht hier, wenn du dich verändern könntest.«
»Als ich unter deinem Fluch stand, war ich etwas anderes.«
»Das ist sehr lange her..«
Dass sie recht hatte, wusste er besser als jeder Andere. Der Mann unter dem Fluch war schon vor vielen Jahren gestorben. Deshalb schwieg er und blickte weiter auf das Meer hinaus. Über dem Wasser blies der Wind Schaum von der agilen Oberfläche in die Luft. Das Meer roch salzig, herb und nach lebendiger Energie. Einzelne Seevögel kreisten am Horizont. Ihr Schrei war lautlos, aber Karons Herz konnte die Botschaft ihrer Körper lesen. Sie waren hungrig und hatten einen Schwarm Fische erspäht. Bald schon würden sich mehr von ihnen einfinden, um zu jagen und zu fressen.
Syras Hand berührte sein Gesicht und riss den Whyndrir aus seinen Gedanken. »Das Ritual ist nicht rückgängig zu machen«, raunte sie ihm zu. Ihre Stimme vibrierte in seinen Knochen. Sie trafen die eine Tonlage, die seinen ganzen Körper zum Singen brachte. »Einmal Whyndrir, immer Whyndrir.«
»Was ich anfange, bringe ich auch zu Ende.«
»Ich tappe nicht völlig im Dunkeln, wenn es um große Flüche geht, weißt du? Auch dieser ist mir nicht fremd. Auch, wenn du glauben magst, er hätte dich befreit, es ist und bleibt ein Fluch, und er wird dich in seinen Bann schlagen. Vielleicht nicht heute und nicht morgen, aber irgendwann bestimmt.« Sie fuhr ganz zu ihm herum, bettete den Kopf an seine Brust und lauschte dem Pochen seines Herzens. Ein Laut, der ihr vertraut und fremd geworden erschien. Eine lebende Erinnerung an die alten Tage. »Wer ist der Mensch, dem du Zugang zu deiner Seele gestattest? Du kannst es vor mir nicht verheimlichen.«
»Der Junge«, sagte Karon leise. Seine Hand wanderte hinauf zu ihrem Hinterkopf, umfasste ihn, schützte ihn. Er musste die zerbrechliche Gestalt in seinen Armen so lange entbehren, dass er den Impuls, sie an sich zu drücken und für immer festzuhalten, nur mühsam unterdrücken konnte. »Du frierst«, murmelte er. Seine Hand strich über ihren Rücken und fühlte das Beben in ihr. Jedes einzelne Haar stellte sich unter seiner Berührung auf. »Hier«, fuhr er fort, nahm seinen Umhang ab und warf ihn ihr über.
Nicht einmal jetzt konnte das frostige Herz in seiner Brust ihr Elend stumm ertragen.
Syra lächelte milde. Ihre Wange schmiegte sich an seine Brust, dort, wo besagtes Herz gegen seine Fesseln kämpfte. »Ist deine Freundlichkeit Teil deines Plans, dich still und heimlich davonzustehlen? Ich scherze nicht. Ich will, dass du in meiner Nähe bleibst.«
»Irgendwann wirst sogar du verstehen, dass du mir diese Freiheit nicht mehr nehmen kannst.«
»Vielleicht habe ich das längst erkannt.« Die Hexe schaute zu ihm auf. »Komm«, flüsterte sie, senkte die Finger und zog an seiner Hand. Sie sprang von den Zinnen und ruckte fordernd an seinem Arm. »Na los, komm schon. Ich beiße nicht. Mir ist kalt. Ich will rein gehen.«
Karon löste sich vom Anblick des Meeres. Er sprang von den Zinnen und folgte der Hexe langsam und ein wenig betrübt, ins Schloss zurück. Das Kreischen der Möwen erfüllte seine Ohren. Ihre Freiheit verspottete ihn. Wie gern wäre er jetzt ein Teil von ihnen gewesen. Aber er zwang sich, diesen Trieb auszuschalten und folgte der Syra viele hundert Stufen hinab in das Gemach, in dem ihn damals der Fluch getroffen hatte. An allen Wänden hingen verblasste Erinnerungen. Sie lechzten gierig nach seiner Aufmerksamkeit. Unzählige Male hatte er hier am Fenster gesessen und um ein Wunder gefleht. Nie hatten die Götter auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet. Diesem Zimmer haftete der Duft der Entbehrung an. In jeder Ritze steckten verborgene Sehnsüchte. Er liebte und hasste diesen Ort gleichermaßen. Schrecken und Glück reichten sich hier die Hände und lachten über ihn.
Er schaute sich im Zimmer um. Syra hatte nichts verändert, seit er fortgegangen war. Ein großes Himmelbett mit schweren, schwarzen Seidenvorhängen stand unberührt da. Eine scharlachrote Tagesdecke war sorgfältig darüber gefaltet. Er kannte sogar die Bettwäsche von früher. Als hätte sie sich die größte Mühe gegeben, einen Ort zu schaffen, an dem er sich einst wohlgefühlt hatte. Das große Fenster, das einzige der ganzen Festung, das ein Glas besaß, um die Kälte auszusperren, stand offen und salzige Seeluft drängte langsam hinein. Der Teppich auf dem Boden zeigte das Abbild eines aufgestickten Raben - Syras Wappen. Auf dem Arbeitstisch an der Wand, der auch gleichzeitig als Schmink- und Frisiertisch diente, lagen Karten aufgefaltet. Voll mit Markierungen, die dem Dämon bekannt vorkamen. Sie zeigten die Orte auf, an denen er, Erias und Selinia sich aufgehalten hatten.
»Woher wusstest du es?«, fragte er sie ehrfürchtig. »Ich war so vorsichtig, du hättest mich nicht aufspüren können.«
Syras Blick folgte seinem. Rasch lief sie zu dem Tisch hinüber, packte die Karten und zerknüllte sie. Ab jetzt brauchte sie keine mehr von ihnen. Als sie zu Karon zurückkehrte, hatte sich der Ausdruck in ihren Augen verändert. »Ich bin nicht dir gefolgt«, gab sie erstickt zu. Plötzlich wandelte sich ihre Aura. Ihre Finger stützten sich schwer auf die Kante des Tisches. Sie umklammerte diese, bis alle Farbe aus ihren Knöcheln gewichen war. »Versprich mir, dass du nicht danach fragen wirst!« Sie wirkte aufgewühlt, innerlich zerrissen. Karon nickte und Syras kaltes Mienenspiel hellte sich ein wenig auf. »Versprich es mir.«
»Ich verspreche dir, was immer du willst.«
Er meinte es genauso lieblos uns ernst, wie es klang. Er hatte keine Wahl. Auch wenn er sich innerhalb dieser Mauern frei bewegen konnte, verwandelten Syras Drohungen sie in ein Gefängnis. Es gab keinen Grund, so zu tun, als würde es ihm anders ergehen.
»Ich will nicht so von dir angesehen werden«, seufzte ihm die dunkle Schönheit mürrisch zu. »Ich will nicht die Person für dich sein, die dir das Leben zur Hölle macht.«
»Diese Entscheidung hättest du treffen müssen, bevor du mich an die Wand gestellt hast.«
»Du hast mir doch keine andere Wahl gelassen! Ich habe dich gebeten, zurückzukehren.«
»Nein, du hast es verlangt. Das ist ein Unterschied.«
»Nicht für mich. Du wärst nie aus freien Stücken zurückgekommen.«
»Natürlich nicht!«, wehrte Karon frustriert ab. Der nostalgische Anflug von Liebe verschwand aus seinen Gedanken. Er war ein Gefangener. Nicht mehr und nicht weniger. »Ich habe eine halbe Ewigkeit gebraucht, um von dir loszukommen und mein Leben zurückzuerobern! Du weißt ganz genau, dass ich nicht hier sein möchte. Dich hat noch nie interessiert, was ich denke. Deinen Kopf durchzusetzen, nur darum geht es dir. Immer schon.«
»Das wäre nicht nötig gewesen, wenn du mich nicht dazu gedrängt hättest, diesen Zauber auszusprechen!«
Ein unsichtbarer Schalter, irgendwo in Karons Kopf, legte sich um und spuckte so viel Wut aus, dass er vor ihr zurückweichen musste, um sie nicht zu gefährden.
»Womit«, fuhr er auf, »habe ich dich dazu gedrängt, mir etwas so Furchtbares anzutun? Mich an diesen Ort, an dich, an das Dunkelste in mir zu binden?«
Er funkelte sie zornig an, bereit dazu, sie anzuschreien und sich Linderung zu verschaffen, als Syras Maske brach und Klarheit in ihre Augen trat. »Du hast Recht«, entgegnete sie besonnen und trat ihrerseits einen Schritt von ihm fort. »Bitte verzeih mir. Du bist nicht hier, damit wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Ich wollte dich nicht wiedersehen, um mit dir zu streiten.«
Karon hielt den Atem an. »Dann sag mir endlich, wieso ich wieder hier bin. Ich habe dir gefehlt, ist einfach zu wenig.«
Die schwarzhaarige Hexe blinzelte erstaunt. »Ist es so abwegig, dass es nicht mehr als das ist?«
Ihr Blick berührte einen Punkt in seiner Seele, den der Dämon weder namentlich benennen konnte, noch in früheren Zeiten je wahrgenommen hatte. Aber es funktionierte. Ihre großen, strahlenden Augen ließen den Zorn von seiner Seele schmelzen. »Syra«, setzte er hoffnungsvoll an. Ein letztes Mal raffte er seinen Mut zusammen. »Kannst du nicht ein einziges Mal aufrichtig zu mir sein? Keine Tricks, keine Lügen, nur die reine Wahrheit. Wieso bin ich hier?«
»Was ändert das noch?«, fragte sie abweisend. »Du schaust mich heute mit anderen Augen an, als damals. Deine Gefühle für mich haben sich verändert. Ich habe diesen Fluch ausgesprochen und dich im selben Atemzug verloren. Ich kann es jetzt und hier in deinen Augen sehen. Aber nicht nur du hast zehn lange Jahre in Einsamkeit verbracht. Ich habe dich vermisst - jeden Tag. Ich bin furchtbar allein und traurig gewesen, und könnte ich in der Zeit zurückgehen, ich würde niemals wieder einen Zauber auf dich legen. Nur kann ich das nicht. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann deine Gefühle für mich nicht zurückholen. Ich kann nur hoffen und beten, dass du mich eines Tages anschaust, und die Leidenschaft wieder da ist, damit wir eine zweite Chance bekommen. Eine bessere.«
»Meine Gefühle für dich«, unterbrach sie der Dämon mitten im Satz, »haben sich nie verändert. Auch wenn du die rachsüchtigste, niederträchtigste Person Theremals, und die egoistischste Frau der Welt bist, ich habe nie aufgehört, bei dir sein zu wollen. Aber ich habe mich nicht ins Leben zurückgekämpft, um dein Gefangener zu sein. Ich will frei sein, Syra! Ich will fliegen und zaubern, ohne, dass irgendjemand bestimmt, wann Magie über meine Lippen kommt. Wieso verstehst du nur nicht, was ich fühle?«
Für einen Augenblick starrten sie einander nur an. Dann wurde Syras Blick offener. »Ich verstehe sehr gut. Ich will dir die Wahrheit sagen. Vielleicht würdest du mich dann etwas besser verstehen. Du bist sicher hier. Das ist alles, was du wissen musst. Dort draußen bist du in Gefahr, hier nicht. Dieses Schloss war schon immer dein Zuhause. Das kann es wieder sein. Du kannst gehen, wohin du willst, tun, was immer du willst, aber wenn ich dich nicht unentwegt in meiner Nähe spüren kann, hat das Konsequenzen für Theremal und für dich.«
Karon schnaubte verächtlich. »Du hast eigenartige Methoden, um mein Herz zu kämpfen.«
»Ach komm schon!«, spottete die Hexe. Ein zuckersüßes Lächeln überrollte ihr Gesicht. »Wieso kannst du nicht vergessen, dass ich diesmal nicht ganz fair gespielt habe? Lehn dich zurück. Lass mich dein Herz im Sturm erobern. Genau wie damals. Es kann noch einmal funktionieren. Du und ich, wir sind die wunderbarste Verbindung, die die Götter je erschaffen haben.« Sie drückte den Zeigefinger an seine Brust, drängte ihn sanft zurück, in Richtung des Bettes. »Lass uns wieder sein, was wir immer waren. Wild und frei.«
»Du hast dafür gesorgt, dass wir nicht mehr sind, was wir einmal waren.«
»Und du wirst niemals müde, es mir vorzuhalten.«
»Du hast mich meiner Freiheit beraubt.«
»Um bei dir zu sein!«
»Du hast mich benutzt, Syra.«
»Um für uns eine bessere Welt zu schaffen! In der wir keinen Feind fürchten müssen und uns niemand nach dem Leben trachtet. Wir haben uns Schutz und Macht erkämpft. Ich wollte, dass es niemand wagt, sich uns in die Quere zu stellen, dass niemand jemals wieder Jagd auf uns macht. Niemand sollte es wagen, das Schwert gegen uns zu erheben. Du und ich, wir sind-«
Karon seufzte schwer auf. »Du warst nie in Gefahr. Wer hätte sich dir und mir nähern können, ohne aufzufliegen? Wir wären ohne deinen Fluch viel stärker und verbundener gewesen. Du hast etwas Furchtbares aus uns gemacht.«
»Mein Zauber hätte dich zerbrechen können, aber du bist hier. Er hat dich nur stärker gemacht. Du bist der lebende Beweis dafür, wie machtlos meine Versuche waren, dich auszuschalten. Du bist etwas Wunderbares!«, raunte sie ihm zu, und kam ihm so nahe, dass Karon taumelte. Ehe der Dämon rücklings auf das Bett fallen konnte, hüllte er sich in Nebel und verwandelte sich in seine Rabengestalt. Drei Flügelschläge brachten ihn auf die andere Seite des Zimmers, wo er sich umgehend zurückverwandelte und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Syra!«, knurrte er kehlig und tief. Ein wohliger Unterton mischte sich in seine Stimmlage. Diese Spielereien waren es, die er so sehr an ihr geliebt hatte, und sie sein Blut nach wie vor in Wallung brachten. Bestand wirklich die Chance, dass es wie früher sein konnte?
Syra grinste. In ihren Augen funkelte der Schelm. Und obgleich Karon wütend auf sie sein wollte, gefiel ihm dieser widerspenstige Glanz in ihrem Blick. Er war so frisch und lebendig, genau wie damals. Das Feuer, das er in ihr so sehr geliebt und gebraucht hatte, flammte in ihnen auf und wollte seine Standhaftigkeit dahinschmelzen lassen, wie einen Eisberg im Sonnenlicht. »Ich liebe dein schwarzes Gefieder«, gurrte sie. »Hör zu, lass uns fliegen. Nur einmal. Für dein Wort, dass du jeden Zauber von mir abschirmen wirst. Nur einmal.«
»Sag mir erst die Wahrheit«, verlangte er stattdessen. »Wieso bin ich hier?«
»Erst fliegen wir.«
»Erst die Wahrheit, dann fliegen wir vielleicht.«
»Ich sage dir keinen Ton, ehe du nicht mit mir durch die Wolken gezogen bist.«
»Ich werde das Schloss nicht verlassen«, erwiderte er prompt. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht kampflos. »Du weißt nicht, was du willst. Du bist sprunghaft wie eine Kröte.«
»Ich weiß, was ich sagte. Bleib in meiner Nähe. Ach, komm schon! Nur einmal. Eine Erinnerung an damals. An uns. Nenne es, einen Beweis meines guten Willens. Außerdem solltest du wirklich in meiner Nähe bleiben«, wisperte sie zwinkernd. »Das Leben deines Freundes hängt davon ab.«
Mit diesen Worten begann sie sich in Rauch aufzulösen, die Gestalt einer Raben anzunehmen und flog auf den Fenstersims.
›Ich weiß, dass du es willst‹, eroberte ihre Gedankenstimme sein Bewusstsein. ›Komm. Tu ein einziges Mal etwas Verrücktes. Fang mich.‹
Ihre Flügel spreizten sich. Karon schaute ihr zu, und sein ganzer Körper begann zu prickeln. Er wollte es. Frei sein. Freiheit spüren. Fliegen, mit dem Meer unter und dem Himmel über sich. Seine Beherrschung schwand. Er fühlte, wie ein anderer, dunkler Teil seines Wesens, das instinktgesteuerte Ungeheuer, langsam den Schamanen zu verdrängen begann. Seine Seele pulsierte. Er wehrte sich, aber Syras Zauber, der Fluch ihrer Nähe, sorgte dafür, dass sich seine Arme langsam in gewaltige, braune Schwingen verwandelten. Mit einem letzten Aufbäumen seines Widerwillens verlor er sich.
Knochen knirschten, Sehnen rissen, sein Leib fiel auseinander und fand sich langsam wieder zusammen. Die Welt um ihn herum verschwamm in unzähligen Farben. Er verwandelte sich, aber nicht in den Raben, den Syra sehen wollte, sondern in einen Wolkenschneider, einen schneeweißen Vogel mit der Spannweite eines Adlers und dickem Gefieder. Seine Schwanzfedern waren lang und spitz wie Dornen. Eine Vogelart, die nur in den Eisgen Ebenen vorkam. Den Raben wollte er ihr nicht offenbaren. Sie wollte mit ihm spielen, und er war nicht bereit, sie siegen zu lassen.
›Komm‹, flüsterte sie in seinen Kopf und entschwand zum Fenster hinaus. Karon setzte ihr nach. Erst der Luftzug, der durch sein Federkleid strich, ließ die Zweifel von ihm abfallen. ›Zier dich nicht so. Das steht dir nicht.«