Therion flüchtete sich in die Finsternis des Zimmers. Er schrie nach den Dienerinnen, die herbeigeeilt kamen, um die Vorhänge zuzuziehen, und den letzten Rest des Raumes in Dunkelheit zu kleiden. Sie wussten genau, dass ihre Herrin neuerdings kein Tageslicht schätzte, launisch und unbeliebt war. Dass sie sich verändert hatte, und in vielen Dingen nicht mehr eins mit sich war. Aber sie stellten keine Fragen. Das taten sie nie.
Nacheinander wurden Kerzenlichter entfacht. Das sanfte, meditative Glimmen unzähliger Flammen trug die Leichtigkeit der Nacht zu ihm zurück. Erst, als es still geworden war, als alle Diener wieder fort waren, und ihn die Schwärze wie einen Freund willkommen hieß, nahm er langsam die Hände vom Gesicht und wagte es, in seiner Ecke aufzublicken. Eingepfercht zwischen den wallenden, schweren Vorhängen, der beklemmenden Zimmerwand und dem davor geschobenen Bett, war er allein in seinem kleinen Reich, unverletzt und frei von Schuld. Er verharrte dort, Stunde um Stunde. Der zweite Geist in ihm, das Bewusstsein der aufbrausenden Rabenhexe, überflutete seine Reize mit Wut, mit Zorn und Erschrecken. Er hatte sich verschätzt. Er war in seinem Leichtsinn davon ausgegangen, Karon wäre bereit, alles aufzugeben. Sogar sich.
Und doch hatte er Syra opfern wollen, auf dem Altar einer lebenswerten Zukunft. Für Frieden und Freiheit. Für ein höheres Ziel.
Die gestaltlose Macht in seinem Fleisch hatte gesprochen und ihm diese Entscheidung abgenommen. Von einem auf den anderen Moment, war es kalt um Therion herum geworden. Der Geist des Whyndrirs war wie ein Sturm über ihn hinweggefegt und hatte alle Feindseligkeit und jeden Konflikt zwischen ihnen ausgelöscht. Whyndrir.
Therion kniff die Augen zusammen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal einer so hemmungslosen Wucht der Zerstörung ausgesetzt gewesen zu sein. Nicht einmal damals, als dieses Untier in Karons Eingeweiden erwacht war, und das Echo seines ersten Augenaufschlages Therions Körper getroffen und mit voller Wucht in tausend Scherben zerbrochen hatte.
Er erinnerte sich ungern an den dunkelsten Tag seines Seins zurück. Selbst wenn es die Wut über diesen einen Augenblick war, dem er sein Überleben verdankte.
Von Karon war nichts mehr zu spüren gewesen. Es war nicht mehr er gewesen, der den Kampf führte, sondern der naturverbundene Wächter Theremals. Die Kreatur, die Karon eingeladen hatte, in ihm und mit ihm zu leben, im Gegenzug für einen Hauch von Freiheit. Das Wesen, das keine Freunde besaß, und keinen Regeln gehorchte. Kein Zauber, kein Fluch und keine sterbliche Gewalt konnten die Macht eines Whyndrirs dauerhaft brechen. Sie waren mit dem Erdkern verbunden und trugen eines oder mehrere der vier Elemente in ihren Herzen. Karon hatte sich im Beisein der Erde geheilt. Er schien auf mysteriöse Weise mit ihr eins zu sein. Verbunden durch seinen Herzschlag und die Unendlichkeit aller Dinge, die in ihr wuchsen. Sein Element war zweifelsohne die Erde, die ihren Samen in sein Herz gepflanzt hatte.
Angespannt drehte Therion in Syras Körper den Kopf, bis sein Blick auf das Licht einer flackernden Kerze traf und er sich im Anblick ihres tanzenden Scheins verlor.
Er hatte Stursinn und Eigensinnigkeit dieser Kreatur unterschätzt - und ihre Macht.
Jede Schwäche, die Karon besaß, kompensierte der Geist des Schattenschamanen mit seiner eigenen Stärke. Sie bildeten eine unbezwingbare Symbiose aus Magie und Leidenschaft. Gebunden an eine Energiequelle, sie so tief und endlos, wie das große weite Meer erschien.
Therion konzentrierte sich auf den goldenen Schein, der das Gemach flackern ließ. Mit diesem Zimmer verband Syra tiefe Gefühle und Sehnsüchte. Durch ihre Augen blickend, sah Therion sie und Karon friedlich auf dem Bett liegen, in inniger Umarmung. Bruchstücke von Erinnerungen zeichneten feine Konturen auf seine Netzhaut. Er verlor die Oberhand. Er verlor schleichend die Kontrolle über diesen Körper, während Syra immer mehr Zeit bekam, um Widerstand zu leisten. Er empfand ein Echo der Liebe, die sie umgab. Ein Abbild großer Gefühle und wilder Emotionen. Liebe. Die große Macht, der Menschen so viel Gewalt zusagten. Liebe. Sollte sie nun sein Untergang sein? Hier in diesem Zimmer waren sie den schönsten und grausamsten Stunden ihrer Liebe erlegen: dem Aufkommen zarter Leidenschaft, dem Entstehen von Vertrauen und dem gnadenlosen Hinterhalt, der zu Karons Unterwerfung führte. Alles war hier geschehen.
Jeder Stein, jede Wand, jeder Gegenstand, selbst das Ächzen des hölzernen Bodenbelags, alles war mit Erinnerungen verbunden. Der Raum war in Energien gekleidet, die die Vergangenheit zweier Liebender erfüllte.
Schleppend richtete sich Therion auf. Er klammerte sich am Rahmen des Bettes fest, um es zu umrunden. Seine Bewegungen waren noch immer schwach und ziellos. Der Angriff des Whyndrirs setzte ihm zu. Er kostete ihn nach wie vor Kraft, die er eigentlich brauchte, um diesen Körper halten zu können. Nun fühlte ersich kränklich, blass und müde. Er brauchte dringend Ruhe, um die Nachbeben des Zaubers aus seinem Blut zu spülen.
Wie war Karon ein so gewaltiger Zauber gelungen, ohne selbst verletzt zu werden? Wieso war er seiner eigenen Kraft nicht selbst zum Opfer gefallen?
Die Tür knarrte. Sie öffnete sich einen Spalt weit. Ein Auge erschien darin, gefolgt von einer Gesichtshälfte und einer zweiten.
Schwer ließ sich Therion auf den perlenbestickten Schemel vor der Spiegelkommode sinken. Hinter dem Abbild seines Leihkörpers wurde die Tür aufgestoßen. Der Krieger, der mit demütig gesenktem Haupt hereingeschlichen kam, schaute sie nicht an. Und dennoch verriet ihn jeder Schritt, jede Geste. Er himmelte sie an. Er war Syra erlegen, seit er sie das erste Mal gesehen hatte.
Armer Trottel.
»Was?«, fragte Therion gereizt. Er kniff angespannt die Augen zusammen.
»Als ich hörte, dass Ihr zurück seid, dachte ich, Ihr könntet hungrig sein.«
»Falsch gedacht«, murmelte Therion ungerührt. »Alles, was ich brauche, ist ein Dämon.«
»Ein Dämon?« Der Krieger, Markos, schürzte die Lippen.
»Bring mir irgendeinen der Dämonen, aus der eisigen Ebene. Ich bin hungrig, aber ich brauche mehr als ein paar gekochte Kartoffeln und ein Nackenstück. Bring sie mir!« Markos nickte, wollte sich abwenden, doch etwas hielt ihn zurück. »Markos«, setzte Therion deshalb sanft nach. »Ich weiß, du besitzt Kontakte, die bis in die höchsten Kreise reichen, und auch vor den Mauern des Königshauses nicht Halt machen.«
»Ja. Ich kenne jemanden, in den Diensten des Königs.«
Des falschen Königs. Des Scharlatans, der an Stelle des richtigen Erben auf dem Thron Oaras saß. Aber nichts von alledem sprach Therion laut aus. Er ließ Syras Gesicht zuckersüß lächeln. »Bring mir alles, wirklich alles, was sich dort über den Whyndrir-Fluch finden lässt. Durchkämme jede Bibliothek, bring jeden Mann und jede Frau zu mir, die jemals von einem dieser Wesen gehört haben. Offenbar weiß ich nicht genug über meinen Liebsten, um ihn aus eigener Kraft zurückzuholen. Und ich glaube, es ist wahrlich an der Zeit, dass Karon endlich nach Hause kommt.«
Der Ausdruck auf den Lippen des Kriegers wurde bitter. Seine Miene wurde ernst. »Zu Befehl«, säuselte er und verschwand.
Lächelnd widmete sich Therion dem Abbild der schwarzhaarigen Schönheit im gerahmten Spiegelglas vor sich. Anders als es gewöhnliche Spiegelbilder taten, verhielt sich seines autonom. Es zeigte kein Abbild des Körpers, in dem er steckte, sondern spiegelte auf bizarre Weise das Empfinden der Seele darin wieder. Syra hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Blick sprühte Funken. Ihre Augen waren zusammengekniffen. Es zeigte Syras Gesicht. Ihr wahres Ich.
»Sieh mich nicht so hasserfüllt an«, tadelte er sie spöttisch. »Ich bin der Leidtragende in diesem Augenblick. Dein Liebster hat mir den Hintern versohlt und mich davongejagt. War das nicht genau das, was du wolltest?«
›Es war das, wovor ich dich gewarnt habe‹, drängte sich ihre Stimme in seinen Kopf. Ihre Seele pulsierte. Sie wurde stärker. ›Der nächste Versuch tötet uns vielleicht beide. Oder nur dich.‹
»Und das wollen wir natürlich nicht.« Therions Lippen zuckten amüsiert. »Ich verspreche dir, Fehler wie dieser unterlaufen mir nur ein einziges Mal.«
Sie rollte mit den Augen. ›Hast du wirklich gedacht, Karon würde mich dem Schicksal jeder anderen Kreatur Thermals vorziehen? Du kennst ihn schlecht, wenn du glaubst, ich bedeute ihm nach all den Jahren noch immer genauso viel wie damals. Der Bann hat viele Brücken zwischen uns zerstört. Er hasst mich. Ich habe tagelang mit ihm gerungen, nur um ein einzelnes Wort aus ihm herauszubekommen.‹
»Und trotzdem hat es einen ganzen Whyndrir gebraucht, um ihn zu bezwingen. Ich weiß, dass du lügst.«
›Ich lüge nicht.‹
»Dann musst du blind oder dumm sein.«
›Du kannst den Whyndrir nicht töten. Wenn du ihn angreifst, zerstört er dich. Egal, was aus mir wird. Für Theremal habe ich keinen Wert.‹
Therion lehnte sich zurück. Er bettete die Ellenbogen auf die hölzerne Oberfläche des Spiegeltischs und stützte das Kinn auf die übereinandergelegten Hände. »Niemand sprach von seinem Tod. Es gibt andere, viel größere Dinge, die man mit dieser Macht tun kann. Dinge, die kein Anderer jemals tun kann. Dinge, die unvorstellbar und nahezu unmöglich sind. Ich brauche ihn lebendig und gesund.«
Ihre Blicke begegneten sich. Syras Abbild biss sich auf die Unterlippe. Sie versuchte fortzusehen, aber sie konnte die Augen nicht von ihrem fleischgewordenen Widersachers lassen. Eine sich furchtbar anfühlende Wahrheit schwelte langsam in ihren Venen. ›Karon kann dich nicht ins Leben zurückholen. Er kann dir nicht helfen, wieder der zu sein, der du vor deinem Tode warst. Durch das Bündnis mit dem Dämon, der in dir steckt, hast du jede Chance darauf verwirkt, gerettet zu werden.‹
»Ein Wesen, das aus der Erde kam, sich mit seinen eigenen Fingern aus dem Boden einer ganz und gar magischen Welt freischaufeln musste, und nun durch einen Schicksalswink an genau dieses Element gebunden ist, besitzt mit Sicherheit die Gabe der Schöpfung. Und wenn er es nicht tut, der Whyndrir schon. Ich weiß, dass ein Gedanke, ein Hauch, ein Funke ausreicht, damit sich ein neugeborener Schattengeist aus der Erde erhebt. Ich weiß, dass die Magie eines Whyndrirs keinen Gesetzen unserer Welt unterliegt. Und ich denke, wenn ein Wesen die Macht besitzt, Leben so leicht zu nehmen, wie er es kann, Körper in Asche zu verwandeln und nur durch Gedanken im Stande ist, Körper zu zerfetzen, dann kann es auch den Funken wirken, der Dämonenkinder in der Erde wecken kann. Und mich wieder zu dem machen, der ich einst war.«
›Du suchst einen neuen Körper. Einen, der wieder dir gehört. Jede andere Hülle wird dich irgendwann abstoßen und sterben. Auch ich.‹ Selbst in Therions Ohren klangen Syras Worte bedauernd, tragisch und unsicher. ›Denkst du wirklich, er würde das für dich tun? Du hast gesehen, wie stark der Whyndrir-Geist ist. Karon kann ihn nicht besiegen.‹
»Jedes Wesen«, winkte Therion ab, »hat eine Belastungsgrenze. Wenn man sie kennt, besitzt man Macht. Ich weiß, für Karon bist du diese Grenze. Er bricht an dir entzwei. Weshalb sonst wäre er zurückgekommen zu dir? Ich muss nur herausfinden, woran dem Whyndrir liegt, und schon beherrsche ich ihn. Mit diesem Schlüssel lässt sich jedes Schloss der Welt öffnen und jegliche Einzigartigkeit zerstören. Manchmal ist der größte Zauber nur ein Messer im Herzen der richtigen Person.« Belustigt betrachtete Therion Syras Entsetzen. Sie zu zerbrechen bedeutete ihm viel. Sie war eine von wenigen Brücken, die Karon mit der irdischen Welt einten. Kappte man sie, entzog man dem emotionalen Teil seines Whyndrir-Wesens Kraft. »Ich werde herausfinden, was ihm mehr bedeutet, als du.«
›Tu, was du nicht lassen kannst. Aber versprich dir nicht zu viel davon.‹
»Sei nicht traurig, Liebste! Du wirst als Sieger das Schlachtfeld verlassen. Alles, was du verlierst, sind ein paar bedeutungslose Augenblicke an meiner Seite und den Gefährten, den du schon lange verloren hast.«
›Wenn du damit meinst, dass ich Karon ziehen ließ, damit er sich von meinem Fluch befreien konnte, würde ich diesen Weg immer wieder gehen.‹
»Und wieder und wieder verdammst du euch beide mit deinem Verrat an mir zu leerer Einsamkeit.«