Drei Tage lang sprach Selinia kein Wort mit mir. Wir saßen schweigend am Tisch, gingen wortlos auseinander vorüber und ich verbrachte die restliche Zeit in meinem Zimmer damit, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen alle Götter, die mir namentlich bekannt waren, um ein Wunder anzuflehen. Aber keiner von ihnen hörte mir zu. Keiner schenkte mir Beachtung. Ich war allein auf dieser Welt.
Der einsamste Mensch unter Theremals Sonne.
Ich rollte mich auf die Seite, zog die Beine an und umschlang sie mit den Händen. Dann schloss ich die Augen und schlief ungehört ein.
In diesem Traum kehrte ich zum ersten Mal in die Höhle zurück, die Karon und mich zusammengeführt hatte. Ich blickte mich um und erkannte jeden Stein, jeden Felsen, jeden Lichteinfall wieder. Alles erschien mir vertraut. Ich hob den Blick der Decke entgegen und drehte mich einmal um mich selbst. Von hoch oben fielen einzelne Sonnenstrahlen zwischen den Felsen hindurch auf das Wasser darunter. Hier zu sein, hatte etwas Versöhnliches an sich. Und ich wusste genau, dass es einen Grund dafür gab. Nicht ich hatte mich im Traum an diesen Ort gewünscht, nein, ich war zu ihm geführt worden. Jemand - etwas - wollte, dass ich hier war.
»Karon?«, rief ich aus, faltete die Hände um meinen Mund zu einem Trichter. »Karon!«
Immer wieder und wieder rief ich seinen Namen. Meine Füße trugen mich wie von allein durch die Dunkelheit. Ich umrundete den See, hastete durch die Schatten, hinein in ein Gewirr aus Stein und Finsternis. Genau wie das erste Mal, als ich hergekommen war. Meine Füße plätscherten nackt auf dem feuchten Höhlenboden. Ich starrte an mir herab, während ich lief, und erkannte auch ohne Licht, dass ich die Kleider trug, in denen ich mich Schlafen gelegt hatte. Aber es kümmerte mich nicht. Ich war aus einem ganz bestimmten Grund hier.
Und dann, als ich den Teil der Höhle erreicht hatte, in dem ich den Raben vorgefunden hatte, stand er plötzlich da, in seiner menschlichen Form. Er trug Hose und Hemd, darüber einen dunklen Umhang aus fein gewebtem Stoff und abermals keine Schuhe. Seine Haare waren gekämmt, das Gesicht gewaschen, Hände und Nägel sauber.
»Karon..«
Ich kam näher und er verlor sich in einem kleinen Lächeln. »Junge«, feixte der Dämon. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Ich kann nicht glauben, dass du hier bist.« Meine Stimme versiegte. Ich schluckte Spucke hinunter, um meine Kehle zu befeuchten. »Wie ist das möglich?«
»Ich gab Syra zwar mein Wort, keinen Zauber und keinen Bann zu weben, der ihr schaden kann, aber ich habe niemals geschworen, gar keinen auszusprechen.« Er zwinkerte mir verräterisch zu, während er die Arme verschränkte. »Wäre doch gelacht, wenn uns ein paar Meilen auseinanderreißen würden, meinst du nicht? Dieses Wiedersehen mit dir wollte ich mir keinesfalls nehmen lassen. Außerdem habe ich dich gebeten, mir beizustehen. Ohne dich schaffe ich es auch diesmal nicht.«
Ich seufzte. »Du weißt nicht, was du sein wirst, wenn du lange genug bei ihr bist. Du hast keine fünf Minuten bei ihr gestanden und ich habe dich kaum wiedererkannt. Syra macht etwas mit dir, und ich hab Angst davor, dass du es erst erkennst, wenn es zu spät für deine Seele ist.« Ich machte einen Schritt auf ihn zu, hob die Hand, als wollte ich ihn berühren und verlor auf halber Strecke den Mut. »Ich weiß von deiner Seelenvertrauten. Ohne meine Mutter bist du schutzlos. Ich kann nicht so stark für dich sein, wie sie es war. Wieso hast du mich ausgewählt, in ihre Fußstapfen zu treten? Außerdem weiß ich jetzt, dass du mich ihretwegen angelogen hast. Du hast sie geliebt. Ich habe das Gemälde gesehen.«
»Deswegen bin ich hier. Es gibt ein paar Dinge, über die wir reden müssen.«
»Kannst du nicht von hier aus mit mir fliehen? Ich könnte bei Gorla ein gutes Wort für dich einlegen. Wir können deinen Namen reinwaschen. Du wärst sicher im Schloss.«
Ein kleines Grinsen erhellte die Miene des Schattenblutes. »Ich bin überhaupt nicht weit weg. Syras Festung liegt am östlichsten Punkt Oaras, vor den Bergen der Eisigen Ebenen, direkt am Meer. Wenn du auf den Turm steigst und das Wetter klar ist, kannst du die Berge am Horizont sehen. Dort werde ich auf dich warten, bis die Zeit gekommen ist.«
»Die Zeit, wofür? Bitte gib mir nicht noch mehr Rätsel auf.«
»Du brauchst nicht mich, sondern einen Freund. Du hast diesen Freund längst an deiner Seite.«
»Ich habe Selinia enttäuscht. Sie spricht seit Tagen nicht mit mir.«
»Sie ist eben eine Frau mit viel zu vielen Gedanken. Sie ist wütend und gekränkt, aber sie wird dir verzeihen. Sie muss. Vielleicht hilfst du ihr ein wenig auf die Sprünge? Es gibt etwas, das du für mich tun musst, und du wirst sie brauchen, um diesen Weg zu gehen. Ihr müsst euch vertragen, solange ich fort bin.«
In seinen Augen spiegelte sich mein eigenes blasses Abbild. Ich starrte ihn an und konnte kaum glauben, was ich hörte. Nach all den Fehlern, die ich begangen hatte, setzte er noch immer Vertrauen in mich?
»Ich habe Syra mein Wort gegeben, und wie ich dir bereits sagte, ist es bindend für mich. Ich kann nicht einfach einen Zauber sprechen, alle Wachen überwältigen und davonlaufen. Nur solange ich zu meinem Wort stehe, wird sie auch ihres halten.«
»Aber du könntest«, vermutete ich. »Du könntest auf der Stelle gehen, oder? Sie hält dich nicht gefangen? Hat sie dir etwas getan?«
»Die Sache ist kompliziert«, erwiderte der Dämon schmunzelnd. Seine Augen verrieten, wie sehr ihn der Gedanke an sie ablenkte. »Sie ist verliebt in mich. Ich muss bleiben und einen Weg finden, ihr kaltes Herz zu erreichen. Das bin ich und beiden schuldig.«
»Würdest du meine Entschuldigung annehmen?«
Karon nickte. Sein Lächeln wurde breiter, er schien aufrichtig erfreut zu sein, mich zu sehen. »Natürlich.«
»Du hast gesagt, es gibt etwas, das ich für dich tun muss.«
»Ja.« Er maß mich schärfer als zuvor. »Etwas, das nur du tun kannst, solange mir die Hände gebunden sind.« Nickend kam ich näher. Ich ließ zu, dass er seine Hände nach mir ausstreckte, sie auf meine Schultern legte und mich fest und entschlossen ansah. »Es gibt einen Mann«, erklärte er mir, »über den ich furchtbares Leid gebracht habe. Einen Zeren namens Eerin. Er lebt in den Wäldern Khelas und leistet Syra seit vielen Jahren Widerstand. Du musst ihn aufsuchen, und in meinem Namen um Verzeihung bitten. Erias, in Zeiten wie diesen ist es wichtig, seine Verbündeten zu kennen. Ich hoffe, Eerin ist noch immer ein Freund. Zwischen uns sind schlimme Dinge geschehen, aber der Wind dreht sich. Ich brauche jeden Mann, der noch an mich glaubt.«
Ich seufzte. »Ich würde alles tun, um es wieder gut zu machen. Alles, hörst du? Wie kann ich Eerin finden?«
»Selinia zeigt dir den Weg. Wenn du dich bei ihr entschuldigst. Sie aufzugeben, lässt dein Leben ein kleines bisschen weniger strahlen. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Ich nickte. »Und du? Wann sehe ich dich wieder?«
Karons Gesichtsausdruck wandelte sich, wurde ferner und trauriger. »Ich habe schlimme Dinge getan und grauenvolle Fehler begangen. Ich habe eine Frau gerettet, die Theremal vielleicht mit all ihrem Zorn zerstören wird. Dass du dich um mein Wohl sorgst, ehrt dich, aber ich habe deine Sorge überhaupt nicht verdient. Ich bin frei, und es geht mir gut. Eigentlich sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, dich überhaupt in diese Sache verwickelt zu haben.«
»Hör bloß auf mit dem Unsinn. Ich habe Mutters Bücher gefunden. Wenn mich wirklich irgendjemand in diesen Schlamassel hineingezogen hat, dann ja wohl sie. Mit ihrem Seelenankerzeug und diesem undurchsichtigen Ritual. Schlimm genug, dass ich herumsitzen und zusehen muss, während du die Drecksarbeit machst und ich deine Magie verschleuder.«
Mit einem Mal wurde der Blick des Schattenblutes so sanft wie nie zuvor. »Ich wollte dich nicht als Seelenanker, aber ich habe wohl nie eine Wahl gehabt. Ich wollte dich fernhalten von alledem. Ich ließ Selinia und dich gehen, weil ich dachte, du würdest eine Chance auf Normalität bekommen. Aber das Blut in deinen Adern offenbart deine Bestimmung. Du bist der Anker, den ich brauche. Solange du aufrichtig und stark bleibst, wird meine Seele unerschütterlich sein. Die Entfernung spielt dabei keine Rolle. Solange du stark bist, bin ich es auch.«
Seine Aufrichtigkeit kränkte mich nicht. Ich war mir sicher, er hätte es besser treffen können, aber da uns dieser Zauber nun einmal vereinte, war es meine Aufgabe, das Beste daraus zu machen. Und wenn es nur bedeutete, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und jeden schädlichen Einfluss von uns abzuwenden, dann fühlte ich mich dieser Aufgabe im Augenblick gewachsen. Ja, ich wollte stark bleiben, um Karon zu zeigen, dass ich an ihn glaubte.
»Du musst jetzt gehen«, sagte der Dämon plötzlich und riss mich aus den Gedanken zurück. »Die Sonne geht bald auf, und im Schloss wartet eine gekränkte Frau darauf, von dir in den Arm genommen zu werden.« Sein Blick entfernte sich erstmals von mir. »Denk bitte daran, du musst Eerin finden und er muss mir vergeben. Ich hätte ihn selbst aufsuchen wollen, aber immer, wenn ich an ihn dachte, hatte das Schicksal andere Pläne für mich.«
»Und wenn er nicht will? Was ist zwischen euch passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie dir irgendwann erzählen, aber nicht heute. Ich muss gehen, ehe Syra bemerkt, wo ich mit meinen Gedanken bin.« Er klopfte mir auf die Schulter und lächelte milde dabei. »Du wirst es hinkriegen, auch ohne mich.«
»Ich habe noch eine Frage«, ließ ich ihn wissen und versuchte, seinem Blick standzuhalten. »In den letzten Tagen habe ich immer wieder nach dir gerufen. Ich wollte mit dir reden und habe so sehr gehofft, dass du antwortest. Ich habe die Vorhänge nicht vors Fenster gezogen und jede Nacht gefroren, weil ich dachte, du besuchst mich. Aber du bist nicht gekommen. Wieso hast du mich ignoriert und in dem Glauben gelassen, ganz allein zu sein?«
Karons Lächeln verschwand sofort. Er neigte den Kopf zur Seite und musterte mich betreten. »Es mag dir so vorkommen, als hätte ich dein Rufen überhört. Du hast dich ausgestoßen und einsam gefühlt, und es tut mir leid, dass ich dir dabei nicht helfen konnte. Aber du warst nicht in Gefahr. Du musst lernen, deine Schlachten alleine zu schlagen. Ich kann dir dein Leben nicht abnehmen. Aber ich habe nie aufgehört, dir zuzuhören. Ich habe dich niemals ignoriert oder dein Elend auf die leichte Schulter genommen. Und ich weiß, du hast jeden Abend den Vorhang zur Seite gezogen, damit ich zu dir kommen kann. Ich weiß es, weil ich jede Nacht da war und vor Sonnenaufgang wieder verschwunden bin. Auch wenn du mich nicht sehen konntest, ich konnte dich sehen und wäre es nötig gewesen, wäre ich da gewesen für dich.«
Mein Herz machte einen Sprung. Dort, wo sich in den letzten Tagen eine schmerzende Leere aufgebaut hatte, kehrte langsam Frieden ein. »Danke«, raunte ich ihm zu.
Er deutete ein kleines Nicken an. Seine Konturen verschwammen. »Vertrau mir. Jetzt vielleicht mehr denn je, brauche ich die Gewissheit, dass es noch Menschen gibt, die an mich glauben. Sei einer von ihnen, egal wie seltsam dir mein Handeln erscheint. Schluck es runter, wenn du wütend bist, beiß dir auf die Zunge, schrei mich an oder verfluch mich, aber hör nicht auf, an mich zu glauben.«
Vor meinen Augen erfasste ein anmutiges, grünes Schimmern den Leib des Dämons. Er verzog sich, wurde darin eingehüllt, und als sich das Licht langsam legte, teilten zwei große, schwarze Schwingen die Überreste des Zaubers. Ein Kreischen schob sich aus der Kehle des Raben, und ich wachte langsam auf.
Der Traum hing schwer und schleppend über mir. Ich setzte mich auf und erkannte, dass es noch immer dunkel draußen war. Durch das Fenster blies der kalte Wind hinein.
Ich rieb mir den frierenden Oberarm und ein Zettel fiel mir aus den Fingern in den Schoß. Zögerlich griff ich danach, faltete den Schnipsel auseinander und las Wort für Wort die darauf geschriebene Nachricht:
Denk an Eerin.
Meine Mundwinkel zuckten. »Dieser Halunke..« Karons zweifelhafte Art, mich aufzubauen, spülte die dunklen Gedanken, die dem Traum nachhängen wollten, fort. »Keine Sorge«, flüsterte ich in die Stille. »Ich vergesse es nicht.«
Dann stand ich auf, umrundete das Bett und lief zum Fenster hin, um die schweren Vorhänge zuzuziehen. Nun, da ich wusste, ich brauchte sie nicht offenzulassen, gab es keine Grund, weiter zu frieren. Die Kälte schlug mir wild entgegen. Er war dort draußen, und egal wie weit er fort war, ich hatte mich Karon niemals näher gefühlt.