Ich hatte mir geschworen, ihm den Anhänger zurückzugeben und niemals mehr Gebrauch von der Verbindung zu machen, die zwischen uns existierte. Und dann, kaum ein paar Stunden später, war mein Wille bereits gebrochen, mein Entschluss ins Wanken geraten. Ja, ich hatte den kleinen silbernen Rabenschädel noch vor Sonnenuntergang wieder um den Hals gelegt, Karon auf die Beine geholfen und war mit ihm losgelaufen. Wir hatten kein Ziel vor Augen. Wir mussten uns nur bewegen, um nicht zu erfrieren.
Er war geschwächt. Das Gift brodelte wie ein ungeheuer mächtiger Zaubertrank in seinen Adern. Aber anders als beim letzten Mal, begann die Wunde diesmal schnell und sauber abzuheilen. Ich hatte seine ungeheuren Selbstheilungskräfte in Verdacht, aber Karon glaubte, es läge am Einfluss Nejdras. An den vielen kleinen magischen Partikeln seiner Welt, die er durch die Luft aufgenommen hatte. Was auch immer es war, diesmal plätscherte sich seine Genesung wie ein Wasserfall vor sich hin.
Ich war dankbar dafür, dass er so klar in seinen Gedanken war, und sich nicht vollständig von Schuldgefühlen herunterziehen ließ. Natürlich nagte das, was geschehen war an seinem Stolz und seiner Ehre. Er hatte sich für sehr viel stärker gehalten, als er war, und seinen Irrtum beinahe bitter bezahlen müssen. Aber Karon machte nicht den Anschein, als würde es ihn zerreißen. Er erschien mir gefasst, fast schon verräterisch ruhig. Er akzeptierte, was geschehen war - nein, er begann sich langsam mit seinem Schicksal anzufreunden, und das Wesen in seinem Inneren nicht mehr von sich zu stoßen. Sie verschmolzen, wurden eins, und glichen ihre Schwächen mit den Stärken des anderen aus. Ja, ich glaubte fast sehen zu können, wie ein Teil seines Bewusstseins unbemerkt neugieriger Augen Frieden mit dem uralten Wesen schloss, das in seinem Herzen wohnte. Aber noch wusste ich nicht, ob ich das gut oder schlecht fand.
Wir suchten Unterschlupf in einer Höhle am Berg. Karon sagte mir, dass wir nicht weit von dem Ort entfernt waren, in dem wir auf Selinia und Eerin getroffen waren. Er lag direkt auf der anderen Seite des Berges.
»Hier«, sagte ich zu ihm. »Setz dich.«
Ich half ihm, auf dem kühlen Boden Platz zu nehmen und ließ mich anschließend an seine Seite fallen. »Wie viel Magie ist noch in dem Anhänger übrig? Reicht es aus, um uns zu den Zhian-Ag zu bringen?« Er selbst schien noch nicht in der Verfassung für einen großen Zauber zu sein.
Karon griff in meine Richtung, zog den Anhänger unter meinem Hemd hervor und wiegte ihn in der Hand. »Ja, vielleicht.«
»Du wirst es nicht schaffen, oder?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. »Nein, eher nicht. Wir werden die Nacht hier verbringen und morgen früh sieht alles ganz anders aus.«
»Und der Zauber? Wird er jetzt immer in dir sein?«
»So lange, bis er rausgelassen wird, ja.«
»Kannst du damit leben?«
»In mir sind ganz andere Zauber zu Hause«, versuchte er mich zu beruhigen. Dann seufzte er. »Ich bin wirklich hundemüde. Mir tut alles weh, und ich brauche ein paar Stunden, um mich zu erholen. Ich denke, wir sollten hier eine Weile sicher sein. Also leg dich hin, mach die Augen zu und versuch ein wenig zu schlafen. All deine Sorgen sind morgen auch noch da.«
Ich gehorchte ihm prompt. Auf einen Schlag fielen mir die Augenlider zu. Meine Atmung wurde leichter, alles fühlte sich einfacher an, und ich war beinahe versucht, anzunehmen, dass Karon Magie benutzt hatte, um mir diesen tiefen, traumschweren Schlaf zu schenken. Ich sollte Frieden finden. Aber ich fand etwas anderes.
Die Welt sickerte durch die letzten Fetzen meiner Gedanken in bodenlose Tiefe. Ich fiel. Unendlich tief, ungebremst und haltlos. Mit rudernden Armen stürzte ich in ein Meer aus Dunkelheit. Und als ich endlich nicht mehr strauchelte, sah ich Theremals Antlitz verändert vor mir. Es war ein durch und durch finsteres Abbild der Welt, die ich kannte. Der große, mächtige Wald der Zhian-Ag glich einem feurigen Inferno. Flammen leckten nach dem Himmel. Wolken türmten sich zur aschegrauen Bergen auf. Die Wiesen dampften unter den Flammen, die sie verwüstet hatten. Ich sah den See vor mir, in den ich gefallen war, nachdem Lyrh mich erschreckt hatte und das Gebirge, in dem ich aufgewachsen war. Mein Auge schweifte aus der Vogelperspektive über das Land. Es erstreckte sich unter mir. Tote Bäume ohne Blattwerk reckten mir die Äste wie Klauen entgegen. Sie schrien ungehört um Hilfe.
War das die Zukunft? Eine Schreckensvision all dessen, was Therion Theremal antun würde, nur um Karon in die Finger zu bekommen? Besaß er so viel Macht, dass er selbst so viel Unheil anrichten konnte? Wieso war es ihm dann nicht gelungen, den Whyndrir zu bezwingen? Wieso war er so töricht gewesen, Karon anzugreifen, wenn er wusste, dass er diesen Kampf nur verlieren konnte?
Ich warf mein sehendes Auge auf die Welt und erblickte das Verdorbene Gesicht, das sie eines Tages tragen würde, wenn diese bittere Vision Wahrheit werden würde. Ein Maul, finster und aufgerissen, voller schiefer, rasiermesserscharfer Zähne klaffte im Herzen Theremals, dort, wo einst saftiges Grün und hohe Bäume die Herrschaft hatten. Alles war anders. Alles war verändert und kalt.
Ich schlug die Augen auf und wusste, ich würde niemals mehr ruhig schlafen können. Doch als ich aufsah, war es vor der Höhle Tag geworden. Was in meinem Kopf nur einen Augenaufschlag gedauert hatte, füllte jenseits meines Traums die ganze Nacht. Das Dunkel war vom Himmel verschwunden. Die Wolken waren noch immer da, schwer, und voller Schneeflocken, aber sie waren von einem helleren Grau, das erahnen ließ, dass sich hinter ihnen die Sonne zeigte.
Ich setzte mich auf. Karon lag nicht mehr neben mir. Erschrocken fuhr ich hoch. Ich starrte wie gebannt auf die Stelle, an der er eingeschlafen war. Er war fort.
Meine Gedanken begannen, Kreise zu ziehen. War er tatsächlich so töricht, in seinem Zustand wegzulaufen, nur um nicht noch einmal zur todbringenden Gefahr für mich zu werden? Ein stechender Schmerz pochte in meinen Schläfen. Ich hob die Hand an die Stirn, kniff die Augen zusammen, raunte in die Stille des jungen Morgens.
War ich tatsächlich so dumm gewesen anzunehmen, dass er meinen Entschluss stillschweigend hinnehmen würde, nachdem er sich so sehr gewehrt hatte, anzuerkennen, dass auch ich ihn immer retten würde, wenn ich es konnte? Hatte ich tatsächlich geglaubt, der Streit zwischen uns würde ausbleiben und er einfach tun, was ich von ihm verlangte?
Ich schlug die Augen auf. Noch einmal starrte ich dorthin, wo er zuletzt gelegen hatte, ließ den Blick durch die Höhle schweifen. Das mulmige Gefühl in meiner Magengrube, schwoll an. Wäre er dumm genug, einen fatalen Fehler zu begehen? Wohin würde ich an seiner Stelle gehen? An wen würde ich mich wenden? Wen aufsuchen? War er ohne mich zu den Zhian-Ag aufgebrochen?
Ich hob die Hand, umschloss mit ihr den kleinen, silbernen Rabenschädel. Ich musste ihn finden. Ich..
Urplötzlich brach der Schreckenszauber über mir zusammen. Ein eiskalter Hauch vom Höhleneingang her blies mir die Gegenwart seiner Gedanken entgegen. Ich folgte diesem Impuls und tatsächlich, da saß er, wortlos, schweigend, im Eingangsbereich der Höhle, und starrte hinaus.
Seine Hand war vorgestreckt, und während die zarten Strahlen der Morgensonne seinen Körper nicht berührten, umfingen sie seine Finger wie einen goldenen Schein. Er sah genauso aus, wie damals bei den Zhian-Ag, als er nach meinem Erwachen am Eingang der Höhle gesessen und mit dem Licht gespielt hatte.
Ich kämpfte mich auf die Füße hoch, machte zwei Schritte und wusste, dass er das Aufflammen meines Bewusstseins wie einen Blitz auf der Netzhaut wahrnehmen konnte. Mein Herz raste noch immer wie nach einem Dauerlauf. Ruckartig drehte er den Kopf. Sein Blick streifte mich. Es war nicht der Blick eines Mannes, der entschlossen und stolz seinen Weg gehen würde, es war der Ausdruck eines Wesens, das nicht recht wusste, was es fühlen sollte. Ich hatte mich in ihm geirrt.
»Du bist hier!«, stieß ich hervor.
»Ja.«
Ich holte tief Luft. »Als ich aufgewacht bin, konnte ich dich nicht finden. Ich dachte schon, du wärst fortgelaufen.«
»Das wollte ich auch«, erwiderte Karon kurz angebunden. Er drehte den Kopf, deutete ein Nicken auf die schneeverhangenen Wiesen an und ich erblickte dort unzählige, durcheinandergehende Fußspuren. Jemand ohne Socken und Schuhwerk war dort ziellos auf und abgelaufen, wie ein eingesperrtes Tier.
»Aber du bist es nicht.«
Karon schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Nein.«
»Wieso nicht?«
Aus irgendeinem Grund konnte ich die Hoffnung, die in meinen Worten mitschwang, nicht verbergen. Ich war erleichtert, dass er hiergeblieben war. Ein Beweis für sein Vertrauen, das unsere Bindung nur umso weiter stärken und sichern konnte.
Seufzend zuckte er die Achseln, lehnte sich zurück und ließ sich von der kalten Höhlenwand stützen. »Ich weiß nicht«, sagte er ruhig. »Vielleicht, weil sich seit gestern doch so etwas die Hoffnung in mir regt.«
»Verstehe.« Er glaubte! Er glaubte wirklich! »Wie fühlst du dich?«
Er holte tief Luft. »Besser«, entgegnete er ruhig. »Diesmal ist es nicht so schlimm.«
Ich setzte mich neben ihn, folgte seinem Blick in die Ferne und tastete mit ihm über die Gipfel der Berge, die in den dichten Wolkengebirgen nur schwer zu erahnen waren. Nach dieser grauenhaften Nacht und den entsetzlichen Albträumen wirkte das, was sich mir hier bot fast schon zu friedlich, zu sanft, zu zart. »Woran denkst du?«, fragte ich ihn.
»An Syra.«
Ich schmunzelte. »Als wir das letzte Mal in einer Höhle wie dieser gesessen haben, hättest du alles dafür getan, nicht an sie denken zu müssen.«
»Ich bin alt, aber nicht frei von Fehlern. Manchmal kann sogar ein steinalter Knochen wie ich noch etwas lernen.«
»Du warst unendlich wütend auf dieser Lichtung. Was hat sich verändert?«
Er lächelte sanft. »Das war noch bevor ich verstanden habe, dass meine Flucht aus ihren Fängen damals nicht nur mein Verdienst war. Sie hat mich gehenlassen. Und seit ich das weiß, vermisse ich sie umso mehr. Wir sind gemeinsam geflogen. Wenn wir die Bürde der Menschlichkeit abwerfen, vergehen viele Fragen und Sorgen in Schall und Rauch. Gedanken werden klarer, Instinkte erwachen und Gefühle entpuppen sich manchmal als sehr viel einfacher, als wir angenommen haben. In dieser Form gibt es keine Geheimnisse zwischen uns. Und keinen Abgrund, den irgendein Zauber je gerissen hat.« Seine Augen berührten mich, tasteten über mein Gesicht. »Was ist mit dir? Bist du bereit?«
»Einen Whyndrir zu suchen?« Ich zuckte die Achseln. »Wieso nicht? Du wirst ja nicht zweimal innerhalb weniger Stunden versuchen, mich umzubringen, oder?« Es war als Witz gedacht, aber selbst ich bemerkte die bittere Wahrheit, die in meinen Worten steckte. »Ich meine..«
»Nein«, erwiderte der Dämon gelassen. Er überhörte meine unachtsam ausgesprochenen Worte geduldig. »Ich glaube, fürs Erste reicht mir ein Versuch.« Er zwinkerte, wurde dann jedoch so abrupt ernst, dass ich erschrak. »Das Ganze ist nicht ausgestanden, hörst du? Finden wir nicht die Antworten, die wir suchen, kehre ich nicht mit dir zurück. Du wirst akzeptieren müssen, dass wir diese Angelegenheit von nun an aus der Hand geben. Willst du wirklich mitkommen? Erias, ich wäre wirklich nicht enttäuscht, wenn du umkehren würdest, um bei Sel zu sein.«
»Sie wird auch noch da sein, wenn wir wiederkommen.« Und außerdem war Eerin bei ihr. Jetzt und für immer. »Ich möchte ihr lieber noch eine Weile aus dem Weg gehen.« Beschämt rieb ich mir den Oberarm und versuchte nicht an die Welle der Wut zu denken, die mich bei unserer nächsten Begegnung erwarten würde. »Verstehst du?«
Diesmal brach Karons Eismaske endgültig auf. Ein hinterlistiges Grinsen verzerrte sein Gesicht. »Natürlich. Welcher Mann hat nicht ab und an ein wenig Angst vor einer zornigen Frau?«