»Dein Bruder?«, echote ich wie ein Schwachsinniger seine Worte. Ich fühlte mich seltsam. »Ich habe dich aus einer Höhle befreit. Ich ergründe seit Wochen dein ganzes Leben und versuche zu verstehen, wer oder was du bist, aber du hast es nie für nötig gehalten, mir zu erzählen, dass du einen Bruder hast, und dass er so ein.. Ungeheuer ist?« Für die letzten Worte kam ich näher und flüsterte sie fast, aber die zuckenden Ohren Lyrhs offenbarten mir, dass er es dennoch gehört hatte.
Karons Grinsen verärgerte mich, aber ich wollte es nicht zugeben. »Nimm einem Mann all seine Geheimnisse, und er wird langweilig. Ich habe Lyrh seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen. Ich wusste nicht einmal, ob er kommen würde, wenn ich ihn rufe.«
»Hat funktioniert«, murmelte ich mürrisch. »Sind da noch mehr Verwandte, von denen ich wissen müsste? Ein paar mehrköpfige Drachen oder achtarmige Meeresungeheuer? Vielleicht eine dreiköpfige, feuerspeiende Seeschlange? Ein fleischfressender Greif oder ein paar wildgewordene Hexen?«
»Nein, nur Lyrh.«
»Und wieso ist er so..« Ich nahm meine Unterlippe zwischen die Zähne. »Was ist mit ihm?«
»Lyrh hat sich entschieden, in seiner Ursprungsform zu verbleiben. Das ist alles. Er ist ein Dämon. Manche von uns beschließen, nicht so zu tun als wären sie etwas anderes. Lyrh ist, was er ist.«
»Und du? Dieser schwarze Wolf war deine Dämonengestalt?«
»Meine Talente sind vielseitig gestrickt. Ich habe viele Gestalten. Lyrh hat nur diese eine. Er hat seine sterbliche Seite niemals angenommen. Seine dämonischen Instinkte sind viel ausgeprägter, als meine. Ich habe mich dieser Gestalt angepasst. Ich bin viel menschlicher, als er.«
»Wenn er wollte, könnte er also ganz normal aussehen?«
»Normal für dich«, entgegnete der Whyndrir sanft. »Nicht für ihn. Er empfindet den anderen Teil seines Selbst als unnatürlich, als fremd und bedrohlich. Menschen haben ihm schlimme Dinge angetan. Er will nicht sein, wie sie.«
»Und du?«
»Ich wollte immer sein, wie sie.« Karon flüchtete sich in ein Lächeln. »Ein einziges Leben führen, voller Träume und Wünsche, Glück und Leid. Ein Mensch zu sein, sterben zu können, und die Momente zu schätzen lernen, die besonders sind. Wenn man nie stirbt, plätschert das Leben ewig vor sich hin. Zeit verliert ihre Bedeutung, Menschen kommen und gehen. Irgendwann entscheidet der eigene Kopf, dass es Zeit ist, sie auszublenden, ehe der Tod sie holen kommt. Unsterblichkeit ist ein hoher Preis für immerwährendes Glück.«
»Was wird aus euch, wenn ihr euch für eine Gestalt entscheidet? Ich meine, ist er noch ein Dämon?«
»Ja, und von reinstem Blut und großer Macht, genau wie ich. Ihm wohnt bloß keine Magie mehr inne. Und die braucht er auch nicht.«
»Das heißt, wenn du irgendwann beschließt, deinen Körper aufzugeben, wirst du deine Magie verlieren und so werden, wie er?«
Karon schüttelte den Kopf. »Ich könnte nie wie er sein. Ich habe geliebt, ich habe gehasst, ich empfinde Trauer und Leid. Ich bin für die Schattenwelt verdorben.«
Er berührte mich sanft an der Schulter und auf einen Schlag waren all meine Kleider wieder trocken.
»Oh, danke. Es wurde langsam kalt. Und er wird uns helfen? Ich meine, können wir ihm vertrauen?«
»Er ist mein Bruder.« Karon verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Er wird uns zu Selinia und Eerin bringen. Deine Zweifel sind unbegründet. In tausend Jahren wird es niemanden außer uns mehr geben. Wir wären verrückt, einander nicht zu vertrauen.«
In eintausend Jahren. Wer wusste, ob es Theremal dann überhaupt noch gab?
»Also gut.« Ich drehte mich um und blickte zurück zu dem gelangweilten Ungeheuer. Karon hatte mich zur Seite genommen. Er wollte nicht, dass sein Bruder Zeuge meiner Zweifel wurde. So direkt hatte er mir das nicht sagen wollen, aber ich spürte seine verborgene Unsicherheit ganz tief in ihm. »Wieso höre ich seine Stimme in meinem Kopf?«
»Er spricht nicht. Das hat er nie. In dieser Gestalt sind seine Stimmbänder verkümmert.«
»Also spricht er durch meine Gedanken mit mir?«
»Ja«, erwiderte der Whyndrir, »und nein. Du kannst seine Gedanken hören, weil du eine Gabe besitzt. Ihr teilt einer sehr ausgeprägte Fähigkeit. Für gewöhnliche Sterbliche, ist Lyrh stumm.«
Ich nickte ihm zu. »Und du denkst, er kann uns zu Selinia bringen?«
»Ich weiß es.«
Mit diesen Worten wandte er sich so abrupt von mir ab, dass ich dieses Gespräch unmissverständlich als beendet ansehen musste. Ich drehte mich um, schaute ihm nach und sah ihn sich seinem Bruder nähern. Lyrh hob sein Haupt und folgte jeder Geste seines Bruders mit den Augen. Dass sie vom selben Blut waren, konnte ich nur glauben, weil ich wusste, dass Karon mich nicht wegen solcher Nichtigkeiten belügen würde. Es gab nichts, in dem sie sich ähnlich waren.
»Danke, dass du mich gefunden hast«, sagte er, hob die Hand und strich beiläufig durch das schwarze Fell des Ungeheuers. »Es ist so lange her.«
»Zu lange. Du hast dich sehr verändert. Ich hätte dich fast nicht erkannt.« Lyrh senkte den Kopf. Er schloss die Augen, als würde ihm Karons Berührung irgendetwas geben, nach dem er sich verzehrte. Seine Stimme war noch immer in meinem Kopf aber nun, da er sich direkt an seinen Bruder wandte, musste ich mich konzentrieren, um ihn zu verstehen. Was von ihrem Gespräch zu mir drang, war ein Echo seiner empathischen Fähigkeiten. »Da ist etwas Seltsames in deinem Blut. Etwas Neues.«
»Etwas Altes«, sagte Karon sanft. »Der Whyndrir-Fluch.«
»Und ich dachte schon, die hinterhältige Hexe hätte dich gehenlassen.«
»Ein wenig hat sie das sogar.« Er drohte in Gedanken zu versinken. In diesem Moment nahm ich all meinen Mut zusammen und kam zu ihm. Karon registrierte mein Erscheinen und lachte auf. »Mein Begleiter ist Inadettes Sohn. Erias. Er ist der rechtmäßige Thronerbe Oaras.«
»Königskind.« Lyrh seufzte geradewegs in meine Gedanken hinein. Es fühlte sich eigenwillig an, auf diese Weise von einem Dämon berührt zu werden, aber es tat nicht weh, und es störte mich nicht, und so ließ ich es geschehen, ohne mich gegen sein Bewusstsein aufzulehnen. Wenn Karon ihm vertraute, gab es für mich keinen Grund, an ihm zu zweifeln. Ich zögerte noch, doch als plötzlich Lyrhs Kopf in meine Richtung fuhr, hob ich die Hand und ließ meine Finger durch sein weiches Fell fahren. Jedes Haar war widererwartend hart und borstig. In ihrer Gesamtheit jedoch strichen sie wie Seide über meine Haut. »Was weiß der Junge?«
»Alles.« Karons Blick folgte mir. Er tat nichts, um mich aufzuhalten, und ich glaubte, dass es in Ordnung war. »Erias hat mich nach dem Ritual befreit.« Er wandte sich blinzelnd seinem Bruder zu. »Ist dir nicht aufgefallen, dass ich mehr als zehn Jahre lang verschwunden war?«
»Ich dachte, die Hexe hat dich versteckt. Was sind schon zehn Jahre für uns?«
»Ein Wimpernschlag«, murmelte der Whyndrir. »Erias, es wird Zeit, Abschied zu nehmen. Wir sollten keine Zeit verlieren. Vielleicht hat Therion unsere Spur bereits aufgenommen.«
Ich dachte an Felida und ihren Bruder, an die Hilfe, die sie uns gewesen waren, und nickte den Dämonen langsam zu. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte ich mich um und lief durch den Wald zurück. Selinia lebte. Ich wusste, wir würden sie finden. Karons Spürsinn begründete sich auf die mentalen Verbindungen zwischen ihm und denen, die ihm wichtig waren. Und wenn er nicht weiter wusste, würde Theremal ihm helfen. Schon bald würde ich Selinia wiedersehen und diesmal nicht mehr gehenlassen.