»Wird hier niemals Nacht?«, fragte ich leise. »Niemals Winter oder Sommer? Gibt es hier keinen Regen, keine endlosen Weiten, keinen funkelnden Sternenhimmel und keine Sonne? Gibt es keine Tiere oder Feinde hier? Keine Gefahren oder Sorgen?«
»Nein.«
»Wieso«, fuhr ich fort, »bist du dann nicht hier geblieben? Ich weiß, du hast gesagt, wer ewig hier bleibt, wird wieder Teil dieser Welt. Aber hast du nie gedacht, es wäre besser, wieder in weicher Erde zu liegen, als dich von Flüchen knechten und von Menschen verscheuchen zu lassen?«
»Eigentlich nicht.«
Seine Stimme war zu einem rauen Flüstern mutiert. Friedfertigkeit lag wie ein goldener Schein über dieser Welt. Alles, was ich über Dämonen wusste, wollte nicht in diese wilde Schönheit passen. Ja, ich wusste nicht, wie ich Lyrh an diesem Ort einordnen sollte. Woher stammten die Monster, an die ich dachte, wenn ich mir einen Dämon vorstellen wollte? Lagen auch sie um uns herum in der weichen Erde und warteten auf den Tag, an dem ihr Erwachen nahte?
Hier an diesem Ort war das, was uns einte, viel stärker als in der Realität. Auch wenn ich es nicht wollte, drangen Karons Gedanken in mein Bewusstsein. Er lauschte den vielen Fragen, die mich nachdenklich machten, ohne mir auch nur eine Antwort zu geben.
»Erias.« Karon rieb sich mit zwei Fingern die Schläfen, als würden sie plötzlich schmerzen. Er hob den Kopf, um mich anzusehen, und ich wartete vergeblich auf seine Antwort. Ich sah ihn langsam aufstehen und spürte, im Bruchteil einer Sekunde, wie sich sein Innenleben massiv veränderte. Die Fassade, hinter der er sich versteckte, bröckelte. Das Fundament seiner Beherrschung stürzte ein, und dann erst bemerkte ich, dass er gar nicht mehr mich ansah, sondern geradewegs an mir vorüber. Ich folgte seiner Regung, drehte mich um und erspähte eine fremde Gestalt, schattenhaft zwischen den Stämmen mächtiger Bäume.
Auf einen Schlag fiel alle Anspannung von Karon ab. Seine Beherrschung reduzierte sich auf ein Minimum und er versuchte rasch, mich aus seinem Kopf zu verbannen. Er drängte mich zurück, wollte meinen Geist mit aller Macht aus seinem Bewusstsein jagen, und versagte, als der übergeordnete Whyndrirgeist entschied, dass er mich jetzt brauchte, um die Kontrolle zu behalten.
Dort, am Rand des Waldes, unter einzelnen Bäumen, die bis in den Himmel ragten, stand Syra in ihrer zierlichen Menschengestalt. Sie trug ein blutrotes trägerloses Kleid. Glattgekämmte, schwarze Haare flossen wie Seide über ihre schneeweißen Schultern. Ihr Gesicht war von einer eigenartigen Leere erfüllt. Als wäre sie eben erst aufgewacht, und fand sich nun in einer bizarren, fremdartigen Welt wieder, von der sie nichts wusste.
Sie schaute auf, und als sie ihn erblickte, wandelte sich ihre Verwirrung in ein kleines, farbloses Lächeln. Ihre rechte Hand hob sich, streckte sich ihm entgegen, und sie flüsterte seinen Namen. Hören konnte ich ihre Stimme nicht. Ich sah nur, wie ihre Lippen Worte formten. Karon hörte sie.
Ich riss den Blick zur Seite, als Emotionen in Form einer gewaltigen Supernova auf meiner Netzhaut explodierten. Das erschrockene Keuchen meines Freundes ließ die Starre von mir abfallen. Seine Gefühle explodierten wie ein Sturm und übertrumpften alles, was ich je durch sein Herz empfunden hatte. Seine Seele befreite sich aus dem Kerker, in dem sie seit unserer Flucht weggesperrt war, glomm auf wie ein Nachtfalter mit aufgespreizten Flügeln und schwebte dem Himmel entgegen.
Ihr Anblick riss die Mauern der Vernunft entzwei und entfesselte den Dämon, der sich tief in ihm versteckte. Instinkte brodelten hinauf an die Oberfläche und jedes einzelne Haar seines Körpers stand plötzlich zu Berge.
Er kam auf die Füße, machte einen einzelnen Schritt in ihre Richtung und blieb stehen. Ich überbrückte den Abstand zwischen uns und umfasste mit aller Macht sein Handgelenk. Nur weil er zögerte, kam ich nahe genug an ihn heran, um ihn zurückzuhalten. Verwirrt wandte er mir den Blick zu und ich sah in seinen Augen, dass er noch immer bei mir war.
»Karon«, murmelte ich beschwörend. »Das ist eine Falle. Du weißt, dass es Therion ist.« Er sah mich an, und ich erschrak. Plötzlich verklärte sich seine dunkelgrünen Seelenspiegel. Auf seiner Netzhaut war ihr Gesicht eingebrannt, wie ein finsteres, dunkles Omen. Syra.
Er wollte sich losreißen, aber ich packte beherzt zu, und hielt ihn fest. Normalerweise hasste ich es, grob zu sein, aber mit lieben Worten und Gebeten, kam ich nicht mehr an ihn heran. »Bitte!«, fuhr ich fort. »Wieso sollte er sie dir plötzlich wiedergeben?«
Und dann war auch schon Selinia zu uns geeilt. Ich sah sie nicht kommen, aber plötzlich stand sie da, hob die Finger und bettete sie auf das Gesicht des Dämons. »Karon!«, murmelte sie eisig. »Erias hat Recht! Denk doch mal nach!«
Aber seine Instinkte herrschten bereits über seinen Verstand. Ganz tief in ihm war ein Hebel umgelegt worden, der sein rationales Denken außer Kraft setzte, und animalischen Urinstinkten die Führung überließ. Plötzlich war der Mann, den ich kannte, fort, und etwas Uraltes und Gefährliches, an seine Stelle getreten. Die Wandlung zeigte sich mehr und mehr auf seiner Aura. Sie pulsierte, blitzte, wie eine Wolkenwand bei Gewitter. In ihr loderten Lichter und Farben, hell und dunkel, und symbolisierten den Zwiespalt in seiner wunden Seele.
Er schlug eine Schlacht in seinem Inneren, bei der ihm niemand beistehen konnte.
»Karon!«, rief Syra seinen Namen. Ihre Stimme hallte zwischen den Bäumen wieder.
Der Whyndrir schnaubte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Unter meiner Hand spürte ich seine Muskeln und Sehnen heiß und fest werden. Die Starre, in die sein Körper verfallen war, wirkte trügerisch friedlich. Sein ganzes Sein verwandelte sich in eine Waffe, scharf, und gefährlich. Wenn er entschied, sich losreißen zu wollen, würden Selinia und ich nicht ausreichen, um ihn zurückzuhalten.
Wir hatten Recht. Karon ahnte, wie fatal es wäre, seinen Trieben nachzugeben. Aber sein Herz kämpfte noch mit seinem Bewusstsein um die uneingeschränkte Macht über seine Entscheidungen.
Ich streckte meine Fühler aus, und obwohl er mir so nah war, war er selten weiter entfernt gewesen. Hinter einer unüberwindbaren Mauer kauerte all das, was ihn ausmachte, und versuchte, sich von den Ketten der Vernunft zu befreien. Nur der Whyndrir in ihm hielt ihn fest und ließ ihn irgendwo am Rande des Wahnsinns sein Bewusstsein behalten.
Karon wusste um die Macht, die seine dunkle Seite über ihn ausüben konnte. Dass es gefährlich war, den Stimmen und Instinkten zu vertrauen, die ihn zu einer Dummheit drängen wollten. Er stemmte sich gegen den Drang nach Befreiung, atmete durch, und begann sich zu entspannen. Langsam ließ der Druck in seinen Venen nach. Er schloss die Augen, atmete tief und kontrolliert. Er wartete auf den Impuls, mit dem der Whyndrir-Geist die Kontrolle übernehmen würde, aber nichts geschah.
Der große Erdgeist ließ ihn in seinem Elend allein.
»Ich bin in Ordnung«, murmelte er schließlich und ruckte noch einmal an meiner Hand. Ich hielt ihn fest und seine Wut kehrte wie ein schwelender Waldbrand zurück. »Was erwartest du denn von mir?«, zischte er. »Dass ich zusehe, wie Therion mit mir spielt? Ich werde dem ein Ende setzen.«
»Das ist eine Falle«, wiederholte ich.
»Ich wollte Therion finden und zur Strecke bringen. Hier ist er! Das ist meine Chance, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.«
Aus dem Nichts schoss eine dritte Hand hervor. Sie legte sich auf Karons Schulter und drängte sowohl Selinia als auch mich zurück. Als ich dem Arm mit den Augen zu seinem Ursprung folgte, stand Eerin neben mir. Mit entschlossener Miene sah er Karon an. Alle Freundlichkeit schwand aus seinem Gesicht. Es verwandelte sich in eine Maske aus Härte. »Ich werde dich nicht losstürmen lassen«, warnte der Zer mit fester Stimme. Er stand aus eigener Kraft, aber er stützte sich schwer auf den Stab, den er mitgebracht hatte. »Ich weiß, dein Kopf sagt dir, wenn du jetzt handelst, bekommst du sie zurück, und findest den Frieden, nach dem du gesucht hast. Aber deine Gefühle sind durch den Schmerz getrübt, der dich heimsucht. Und der dich nach wie vor heimsuchen wird, wenn du erkennst, dass das dort nicht Syra ist.« Er ließ seine Hand zurückschnellen, doch er machte keine Anstalten, aus dem Weg zu gehen. »Komm zur Vernunft. Du weißt, dass ich recht habe.«
»Karon!«, rief Syra erneut. Der hilflose Klang ihrer sanften Stimme verspottete Karons Gefühle. »Sag mir, wo ich bin! Was für ein seltsamer Ort ist das hier?« Sie drehte sich. Ihr Blick floh dem Himmel entgegen. Er schweifte über den Boden, über die Essenz der Schattenwelt. »Ich habe Angst.« Sie wandte sich uns hilfesuchend zu. Ich fühlte, wie sie nach Karons Gedanken tastete. Und dann wich der leere Ausdruck ihres Gesichtes plötzlich einem hinterhältigen Grinsen. »Freust du dich denn nicht ein kleines bisschen, mich zu sehen, Liebster?« Ihr Schuh scharrte über den Boden und wischte zwei herabgefallene Blätter zur Seite. Sie schielte keck von unten zu Karon hinauf, verhöhnte seine Qual mit einem verzückten Ausdruck auf den Lippen.
»Konzentrier dich!«, fauchte Eerin. »Er greift dich nicht an, weil er weiß, dass er dich nicht besiegen kann! Wenn du klug bist, können wir von hier verschwinden, ohne Blut zu vergießen.«
Zu meiner Verwunderung nickte Karon nur. Sein Inneres war längst zerbrochen. Dass Therion Syras Körper und ihre Seele besaß, kränkte ihn nicht nur, es fraß ihn langsam auf. Ohne sie war er unvollständig. Aber dass Therion die Dreistigkeit besaß, hierher zu kommen, und ihn offen anzugreifen und zu verspotten, weckte den animalischen Trieb in Karon, einen Feind zu jagen, zu reißen und zu töten. Blutgier pochte hinter seiner Stirn, wie ein Ungeheuer, das um Einlass bat. Ich fühlte den tiefen Schmerz bis in sein Inneres wurzeln, und verstand kaum, woher Karon die Kraft nahm, stark zu sein.
»Wie bist du hierher gekommen?«, fragte mein Freund ruhig. Leere spiegelte sich in seiner Stimme wieder. Die stürmische Einsamkeit seines Winterherzens.
»Eine Freundin hat mich mitgenommen.« Therion zuckte in Syras Körper die Achseln. »Eine Shelkii. Du erinnerst dich bestimmt an sie. Ihr Gift fließt in diesem Augenblick durch deine Adern. Du kannst dich einmal davon reinwaschen, aber ich habe noch viel, viel mehr davon.«
»Nicht genug, um es zu Ende zu bringen.«
»Weil es viel zu wenig war. Aber ich besitze noch sehr viel mehr davon. Schlangengift aus der alten Welt.«
»Wenn du mit mir kämpfst, dann töte ich dich.«
Wenn Therion diese Warnung nicht ernstnahm, musste er wahnsinnig sein.
»Auch, wenn das bedeutet, die Liebe deines Lebens zu verlieren?« Geschmeidig tänzelte Therion zwischen den Bäumen hervor. Er kam näher, neigte den Kopf zur Seite und lächelt Karon verräterisch zu. »Ich bin nur zu Gast in diesem Körper. Was du ihm antust, tust du deiner Liebsten an, und ich springe einfach in den Nächsten deiner Freunde und zwinge dich dazu, einen nach dem anderen zu töten. Ist es wirklich das, was du willst?«
Karon zitterte mit jedem Atemzug. »Was willst du?«
»Das, was ich immer wollte.« Erheitert rieb Therion seine Handflächen aneinander. »Ich will, dass du einen Einblick bekommst, auf all das, was du mir weggenommen hast. Dir sind so viele Dinge zugeflogen, für die Menschen wie ich töten würden. Und du wusstest nie irgendetwas davon zu schätzen. Ich beobachtete dich. Und für eine Weil war mir damit genug gedient, dass die Frau, die du mehr als alles andere liebst, dich an einen Fluch gebunden und all dessen beraubt hat, was dir immer wichtig war.« Er rollte mit den Augen und kam noch einen Schritt näher. Wie ein Raubtier musterte er seine Beute und wusste genau, wie tief er Karon mit seinen Worten verletzen konnte. »Je tiefer du in deinem Fluch verloren gegangen bist, desto besser hat es sich für mich angefühlt. Jedes Mal, wenn du dich gequält hast, bin ich wieder aufgeblüht. Ich habe so sehr genossen, was sie dir angetan hat.«
An meiner Seite wurde Karons Körper steif. Therions Worte glichen Dolchen, die Karons Seele zerfetzten.
»Du denkst«, fuhr Therion fort, »du hast diesen Fluch überwunden und dich befreit. Aber ich kann dich sehen. Ich sehe die unsichtbaren Fesseln, die du trägst, und immer tragen wirst. Ich sehe, wie du einen Fluch gegen den anderen getauscht hast, und noch immer an Freiheit glaubst. Nur der Tod löst deine Ketten. Dafür hast du selbst gesorgt.«
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Als Seelenanker war es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Therions Worte Karon nicht verletzen konnten. Irgendwie musste ich ihn beschützen, sein Dunkel mit meinem Licht erhellen, aber wie konnte ich das tun, wenn Therion so geschickt mit der Wahrheit spielte? Einer Wahrheit, die ich gar nicht kannte?
Mit flinken Fingern zog Therion einen kleinen Dolch aus den Falten des wallenden Kleides. »Ich habe eine alte Freundin ausfindig gemacht. Ihr Name ist Khaithalin, aber du kennst sie wohl nur als das Mädchen, das vor vielen Jahren einen Pfeil auf deine Liebste abgeschossen hat. Besagter Pfeil führte dazu, dass ihr einander kennengelernt habt. Erinnerst du dich? Dieser Pfeil trieb dich in ihre Arme und verband eure Schicksale für immer. Sie ist ein Schattenblut, genau wie du. Ein Schlangengeist. Sie stammt von den Shelkhu ab. Ihr Blut ist für Dämonen tödlich. Es sicherte ihrem Volk Jahrtausende lang das Überleben. Und es zeigt auch bei dir erstaunliche Wirkung. Du hast schon einmal Bekanntschaft damit gemacht. Es funktioniert. Es frisst sich wie Feuer durch deinen Körper, verzehrt alle Magie und lähmt deinen Geist. Und ich habe eine unerschöpfliche Quelle davon. Ich kann dir ein Leben in Qual bescheren, wenn ich will.«
»Ich werde einfach heilen.«
»Du heilst vielleicht«, murmelte Therion und wies mit der Hand an sich herab. »Aber Syra? Wenn ich das Messer in deinen Körper stoße, wird Theremal dich genesen lassen. Aber diese Welt hat nur Verwendung für deine Stärke. Es ist ihr egal, ob dein Herz bricht, oder nicht.«
Urplötzlich stürzte Karon los, und nur weil Eerin und ich uns ihm gleichzeitig entgegenwarfen, gelang es ihm nicht, Therion anzufallen. Er fletschte die Zähne, wie ein hungriger Wolf. Seine Aura nahm die Farbe von moderigem Waldboden an. Ein Orkan aus Finsternis fegte durch seinen Kopf und wischte jede Güte fort. Ich spürte das Erwachen des Whyndrirs. Er unterwarf Karons Geist innerhalb eines Atemzuges. Er verdrängte all das, was ich an Karon so sehr mochte, und brannte ein tiefes Loch in sein Bewusstsein. Mein Freund ging verloren, in einem Strudel aus Zorn und Gewalt. Mit heftigen Hammerschlägen zerstörte Therion seinen Stolz, seine Würde und seinen letzten Funken Selbstkontrolle. Er zermalmte die Seele des Dämons so mühelos, wie ein paar uralte Knochen. Karons Schmerz wurde unerträglich. Ich konnte nicht atmen, wusste nicht, was ich tun sollte, um uns beide zu retten.
»Karon!«, fauchte Eerin. »Hör auf! Er spielt mit dir! Siehst du das denn nicht?«
Er sah es, aber Eerins Worte bedeuteten nichts. In Karon beschwor ein uraltes Wesen all die Kräfte herauf, die es brauchen würde, um Therion zu vernichten. Karons Bewusstsein ging in Flammen auf. In grellen, leuchtenden, apokalyptischen Feuern, die alles verzehrten.
»Lass mich los!«, fauchte er. Er stieß mit dem Ellenbogen zu, traf meine Schulter. Sein Hieb presste schlagartig die Luft aus meiner Lunge. Ich stolperte zurück - und ließ ihn los. Er entwand sich meinen fingern wie ein glitschiger Fisch.
Meine Sinne bebten. Einen Moment lang raubte mir die plötzliche Abwesenheit von Sauerstoff das Bewusstsein. Ich taumelte geradewegs in Selinias Arme. Ihr Blick verriet mir, dass sie besorgt war, Angst hatte, und sich machtlos fühlte. Ich stützte mich ab, drehte mich um und wollte Karon aufhalten, als Eerin bereits mit ihm rang.
»Verdammt!«, fauchte der Zer, »beruhige dich endlich!«
»Wenn du mir Syra wegnimmst!«, zischte der Whyndrir Therion entgegen, »dann wirst du in ganz Theremal an keinem Ort mehr sicher vor mir sein! Ich werde dich jagen, ich werde dich finden, und ich töte dich! Ich beschere dir die qualvollsten Stunden deines Lebens, und jedes Leid, das du jemals empfunden hast, wird nur ein Vorgeschmack auf das gewesen sein, was ich dir antun werde, wenn du es wagst, sie anzurühren!«
Therion schmunzelte. »Lassen wir es darauf ankommen.« Er drehte das Messer in der Hand, bis die Spitze der Klinge knapp über Syras Brustbein schwebte. Sein geliehener Torso hob sich der Schneide entgegen. »Zeit, Abschied zu nehmen«, flüsterte er und Karon kam frei.
Mit einem Ruck stieß der Whyndrir Eerin von sich.
Mein Leib setzte sich autonom in Bewegung. Eine höhere Macht zog mich zu Karon hin. Ich musste bei ihm sein.
Er bewegte sich schnell. Ich sah ihn verschwinden und dann unmittelbar vor Therion wieder erscheinen. Fauchend schlug er dessen Hand zur Seite. Das Messer wirbelte durch die Luft. Seine Klinge funkelte, als Licht darauf traf. Wie im Zeitraffer sah ich das Messer fallen. Die Schneide grub sich dicht hinter Karon in den Boden und blieb stecken.
Um mich herum begann sich die ganze Welt zu drehen. Übelkeit stieg durch meine Eingeweide und füllte meinen Magen mit einem eisigen Hauch. Ich rannte, musste zu ihm! Verhindern, dass etwas Grauenvolles geschehen konnte.
Doch plötzlich packte Karon zu. Mit einer Hand bekam er Syras schmale Handgelenke zu fassen und hielt sie unten, damit Therion nicht nach ihm schlagen oder sich an einem rettenden Zauber versuchen konnte. Therion fauchte. Er versuchte, zu fliehen, Karon seine Hände zu entwinden. Aber Karon hob die zweite Hand und bettete zwei Finger auf Syras Stirn. Ein Zauber floss aus seinem Arm in ihren Körper hinein, fesselte Therions Wesen an diesen zerbrechlichen Leib und machte jede Flucht seines Geistes unmöglich.
Mit gefletschten Zähnen riss Therion den Kopf herum und versuchte abermals, sich aus dem Griff des Whyndrirs zu flüchten. Schrecken weitete seine Augen.Mit welcher Reaktion er auch immer gerechnet haben mochte, diese überrumpelte ihn. Der allumfassende Zorn, der Karon zu dieser Verzweiflungstat trieb, verwandelte ihn in eine ungezügelte Naturgewalt.
»Nicht, wenn ich dich zuerst töte«, wisperte Karon in das Gesicht der Frau, die er liebte.
Seine Finger sanken herab. Er öffnete die Handfläche und ließ etwas Flammendes darauf erscheinen. Als ich ihn erreichte, fuhr er herum und warf mir einen Zauber entgegen. Magie breitete sich wie eine Druckwelle um ihn aus. Siedurchdrang meinen Körper, durchschlug meine Eingeweide wie eine Kanonenkugel und warf mich rücklings in den Staub. Ich konnte mich nicht bewegen. Muskeln und Sehnen gehorchten mir nicht mehr. Meine Glieder fühlten sich bleiern an, mein Kopf wie mit Watte ausgefüllt. Karons Zauber zog eine unsichtbare Wand zwischen uns beiden in die Höhe. Er machte es mir unmöglich, ihn zu erreichen.
»Du hast mir dein verdammtes Ehrenwort gegeben«, brüllte ich ihn an, als ich erkannte, was er zwischen den Fingern hielt.
Ein zusammengerolltes Stück Pergament. Den Zauber, den er von Eerin zurückerhalten hatte. Ich erkannte ihn sofort. Etwas tief Dunkles, etwas Böses und Unberechenbares wohnte diesem Zettel inne und breitete sich wie ein schwelendes Feuer über den Geist meines Freundes aus. Er sah mich noch immer an, als sein Blick finster wurde, und sich die rabenschwarze Pupille in seinen Augen ausweitete, bis es pechschwarzer Seehaut glich. »Du hast mir geschworen, das nicht zu tun!«, rief ich ihm zu, ballte die Hände zu Fäusten. Wut mischte sich mit Verzweiflung, Schrecken mit Zorn. Mein Körper wurde zum Schlachtfeld, ich selbst zum Kriegsopfer. Ohnmacht und Handlungsdrang rebellierten in meinen Eingeweiden. Ich musste etwas tun, aber ich konnte mich kaum rühren. Ein eiskalter Sturm fegte über meinen Körper hinweg und lähmte meine Gedanken mit unfassbarer Härte.
»Es tut mir leid«, sagte Karon schlicht. Seine Worte waren leer. Sie klirrten wie Glas in meinem Gehörgang. Keine Reue, keine Schuld, keine Trauer und kein Schmerz lagen mehr in ihnen. Das war nicht Karon, der da vor mir stand.
Ich sprach nicht mehr mit dem Dämon, den ich kannte. An seinen Platz war etwas Anderes getreten. Der Whyndrir. Ein gefährliches Ding, das alles tun würde, um Karon zu schützen. Selbst wenn es die große Liebe seines Lebens zerstören musste.
Die rätselhafte Schattenmacht, die hinter alledem steckte.
Auge in Auge stand ich diesem formlosen Gegner das erste Mal gegenüber.
Die Wahrheit traf mich mit der Wucht eines Fausthiebes.
Karon war fort.
Der Kampf mit der Bestie war im entscheidenden Augenblick verloren. Ich sah die Zukunft vor meinem inneren Auge ablaufen. Erst Syras Tod, laut und gellend. Ein Aufschrei im Gefüge des Universums und dann seinen, ganz still und unbedeutend. Syra getötet zu haben, würde er nicht überleben.
Noch einmal suchte ich unter dem überlegenen Whyndrir-Geist die Nähe meines Freundes. Es war Zeit. Jetzt musste ich der Anker sein, um Karon er mich gebeten hatte. In ihm herrschte ein unerklärlicher Verlust. All seine Gefühle waren gedämpft, sein Geist weit entfernt. Wie ein Echo in der Unendlichkeit des Universums. Ich spürte ihn hinter einer Wand aus Eis und Schnee. Seine geschundene Seele erfror. Irgendwie musste ich ihn vor dem Ungeheuer bewahren, das in seinen Därmen rumorte, bevor er Syra oder sich etwas antun konnte.
›Hör auf!‹, fuhr ich ihn an. ›Wenn du Syra etwas tust, wird Karon sich nicht davon erholen!‹
Aber der Dämonenschamane fegte meinen Einwand einfach fort. Seine Hand - Karons Hand! - schloss sich fest um die Pergamentrolle. Seine Finger zitterten, als der Zauber mit seiner Haut in Berührung kam. Dort, wo er das Papier berührte, begann es von innen nach außen zu leuchten. Licht flutete die feinen Fasern, aus denen der Zauberspruch bestand. Die vergilbten Ränder rollten sich ein, als würden sie brennen. Stück für Stück verwandelte sich der Fluch in Asche. Einzelne Partikel lösten sich ab und segelten in die Luft hinauf, den letzten Fetzen Licht entgegen. Die geschriebenen Worte gingen verloren, während der Zauber langsam in den Geist des Whyndrirs floss. Auf Karons Arm begannen die Adern zu leuchten. Ein goldener Schimmer erfüllte sie, wanderte vor, bis in seine Körpermitte und verblasste dort schleichend.
Karon schloss die Augen und Syras Lider flackerten und reflektierten seine Handlung. Mit einem Schlag brach ihr Bewusstsein. Ihre Glieder wurden schlaff. Sie stürzte in die ausgestreckten Arme des Schattenschamanen. Behutsam bettete Karon ihren Leib zu Boden und sank an ihre Seite.
Ich schrie seinen Namen. Mit aller Macht arbeitete ich daran, den Zauber zu zerbrechen, den er auf mich gelegt hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich Selinia und Eerin hinter mich treten. »Du hast mir dein Wort gegeben, mich zu beschützen!«
Ein Lodern erfüllte die Luft. Hitze griff um sich. Ein magischer Windhauch erfasste Karon und Syra, blies dem Dämon die Haare ins Gesicht. Er fuhr herum. Sein Blick richtete sich auf mich. Ich fühlte, wie sein animalisches Selbst nach meinem Bewusstsein griff.
»Das war ein Fehler«, hauchte er mir zu.
»Was ist mit unserem Schwur?«
»Bedeutungslos.«
Dann entfesselte er die verheerende Macht des Zaubers.
Ich war gelähmt, wie nie zuvor. Ich fühlte mich, als läge ich in einem Grab und über mir türmte sich Erde zu einem Haufen auf. Jeder Atemzug wurde zur Qual, jeder Herzschlag schwerer. In meinen Adern kochte das Blut. Die Gefäße in meinem Kopf pochten protestierend. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Er entfernte sich von meinem Geist. Die Verbindung zwischen Knochen, Organen und Wissen ging verloren. Ein Teil meines Verstandes weigerte sich, anzuerkennen, was Karon tun würde. Und dann tat es plötzlich weh.
Alles an mir schmerzte. Meine Haut brannte. Meine Knochen schienen zu brechen. Das Knirschen hämmerte in meinen Ohren. Ich wollte zerfallen, schreien und in Dunkelheit versinken. Karons Bewusstsein verschwand. Der letzte Rest dessen, was ich beschützen und erhalten wollte, ging im Sturm der Endlosigkeit verloren, mit der der Whyndrir über sein Leben hinwegfegte.
Er würde nicht nur Syra töten, sondern auch mich. Alle, die zwischen dem uralten Schattengeist und dem Überleben des Dämons standen. Und ich konnte nichts davon ertragen. Meine Hände hoben sich an meine Schläfen, wollten den Schmerz unter sich ersticken, und konnten es nicht.
Der Zauber zog eine Spur der Vernichtung hinter sich her. Ich sah aus zusammengekniffenen Augen hindurch, wie der Wald ein bizarres Eigenleben entwickelte. Überall dort, wo der Zauber auf irgendetwas Lebendes traf, verabschiedete sich die Magie daraus. Äste wurden trocken, der Boden verstarb dort, und niemals wieder würde hier auch nur ein einzelner Grashalm wachsen.
Vergebens suchte in höchster Not nach Karons geistiger Nähe. Wenn ich ihn nicht retten konnte, dann wollte ich doch im letzten Augenblick meines Lebens eins mit ihm sein, seine Verbundenheit und Wärme spüren. Er brauchte mich jetzt ebenso sehr, wie ich ihn, und ich fand keinen Weg durch die Finsternis hindurch. Wieso war ich so schwach? Wieso konnte ich die, die ich liebte, nicht schützen?
Mein Versagen tötete seine Geliebte und mich, und damit auch ihn selbst. Ein Ausweg existierte nicht. Unter all seiner Macht war er hilflos, wenn es darum ging, sich selbst aus dem Würgegriff der Bestie zu lösen, die ihn heimsuchte. Waren das die unsichtbaren Fesseln, von denen Therion gesprochen hatte? Die Macht, die Karon fester einschnürte als Syras Fluch zuvor? Ich rief mir seine Seele in Erinnerung. All die kleinen Splitter, die seit unserer ersten Begegnung von ihr abgebrochen waren. Wieso war ich nicht fähig dazu, die Essenz seines Lebens zusammenzuhalten?
Ich schloss die Augen, als die Qual übermächtig wurde. Selinia packte und schüttelte mich. Ich fühlte sie durch eine Wand aus grauem Dunst in meiner Nähe, wollte mich strecken und nach ihr greifen. Ich wollte ihr sagen, wie leid es mir tat, dass ich nicht helfen konnte, obwohl ich musste. Aber mein Körper gehörte nicht mehr zu mir.
»Halte durch!«, wisperte sie mir ins Ohr.
Ihre Stimme entsprang am anderen Ende des Sturms. Tröstend lullte sie mich ein, wie ein schützendes Licht.
Ein letztes Mal sah ich auf. Sie löste sich von Eerin und mir, packte das Messer und trieb es bis zum Schaft zwischen Karons Schulterblätter. Der magische Sturm fiel in einem Schrei zusammen. Mein Schmerz erlosch. Ich konnte atmen, frei nach Luft schnappen, den Kopf drehen und zwei Dinge beobachten: Therion erwachte mit einem Schlag aus seiner Starre, riss sich fauchend los und löste sich einfach auf. Er verschwand in einer Handvoll aufgewirbeltem Sand und ließ nichts zurück, außer einer blassen Ahnung an das, was hier geschehen war. Tod und Vernichtung zogen ihre Kreise durch das verbrannte Blattwerk und die ausgezehrte Erde.
Dann Karon. Der Whyndrir bäumte sich vor Schmerz brüllend auf, riss die Arme in die Höhe und versuchte, nach der Klinge in seinem Fleisch zu greifen, als die verheerende Wirkung des Giftes bereits einsetzte. Das übermächtige Dunkel verschwand aus seinen Augen. Dort, wo eben noch Schwärze vorherrschte, breitete sich nun das leuchtende Grün seiner Iris aus und machte seinen Blick wieder zu etwas Vertrautem. Zu etwas, in dem ich Frieden fand. Seine Hände sanken herab. Das Gift lähmte seinen Willen, den Körper zu beherrschen und beraubte ihn der Entscheidungsgewalt. Sein Kopf drehte sich. Mühsam suchte er meinen Blick, fand ihn und entspannte sich sichtlich.
Ich sah ihn stürzen, warf mich vor und konnte ihn fangen, ehe er rücklings auf dem Boden aufschlug und den Dolch noch fester in sein Fleisch rammte. Behutsam hielt ich ihn umklammert. Keine Magie und kein Zauber hätte mich davon abhalten können, ihn festzuhalten.
»Es tut mir so leid«, murmelte er, ehe das Gift sein Bewusstsein verzehrte.
Seine Finger krallten sich in meinen Umhang. Sein Blick flehte mich um Vergebung an, aber ich war niemals wütend auf ihn gewesen. Meine Unfähigkeit, zu handeln, nicht nur jetzt, auch Minuten zuvor, lähmte die Worte auf meine Zunge. Ich nickte ihm zu. Meine Kehle war wie ausgedörrt.
»Irgendjemand muss etwas tun«, murmelte ich. Ich wollte weinen, aber meine Tränen waren ausgetrocknet. Hilflos hob ich den Kopf, schaute zu Selinia hin. »Wieso hast du das getan?«
»Er hätte dich getötet«, erwiderte sie dumpf. Hilflos schaute sie Eerin an. »Uns alle. Wir.. wir müssen reden.«