Khaitalin, selbsternannte Tochter der Eisigen Ebenen, lümmelte gelangweilt auf dem Holzstuhl herum. Sie kippte ihn nach hinten, sodass er nur noch auf zwei Beinen stehend wackelig an der Wand lehnte und musterte im Halbdunkel ihren namenlosen Ehrengast.
Ihre Finger spielten an dem Fuchsschwanz herum, der das Fell zierte, das sie sich als Schutz gegen die bittere Kälte über die Schultern geworfen hatte.
»Du bist ein großes Risiko eingegangen, um ein klein wenig Gold zu verlieren«, sagte sie zu dem Krieger, den ihre beiden jüngeren Brüder Vetor und Ammar vor ihr zu Boden geworfen hatten. Ihr Blick streifte den schweren Goldbeutel, der dem Knienden aus der Hand gefallen war. Unzählige schimmernde Goldmünzen lagen über den Boden verteilt.
»Ich komme in Syras Auftrag«, offenbarte der Krieger zähneknirschend.
Khaithalin beugte sich vor. Knarrend fiel der Stuhl auf alle vier Holzbeine zurück.
»Was will sie schon wieder von mir? Ich habe meine Schuld schon lange abbezahlt. Wir waren uns einig, es wäre besser, friedlich auseinanderzugehen und einander nie wieder zu sehen.«
»Syra ist da anderer Meinung. Sie wünscht, dass du ihr einen Gefallen tust.«
Die dicken, verfilzten Strähnen ihres Haares fielen ihr auf die Brust. Mit katzenhafter Anmut schlug die Kriegerin die Beine übereinander und musterte die Spitzen ihrer abgenutzten Lederstiefel. »Ich mache keine derartigen Geschäfte mehr. Sie haben mich in diese Lage gebracht. Ich bin durch damit. Sag Syra, dass ich ihr nicht helfen kann.«
Der Krieger räusperte sich. »Sie gibt dir dieses Gold als Zeichen ihres guten Willens.«
»Gold«, griff Khaithalin seine Worte auf, »interessiert mich nicht. Schau dich um, Markos. Was soll ich hier mit Gold und Reichtum anfangen?«
Sie befanden sich in einer schäbigen Holzhütte. Sie war alles, was Syra ihrer Familie gelassen hatte, nachdem sie in die Eisigen Ebenen verbannt worden waren. Einem gnadenlosen, harten Landstrich, der von Schnee überzogen und vereisten Bergen eingeschlossen war.
Ein diabolisches Grinsen fuhr über ihre blutroten Lippen. »Was hätte sie mir noch zu bieten?«
»Syra ist bereit, dir den beinahe tödlichen Pfeilschuss auf sie zu verzeihen, und dich zu begnadigen. Dich und deine ganze Familie.«
Abrupt wich das Grinsen aus dem Gesicht der goldblonden Kriegerin. Sie hob die Hand und ihre Brüder zogen sich respektvoll zurück, so weit es die kleine Hütte zuließ. »Verstehe ich das richtig?«, hakte sie nach. »Nach all den Jahren würde sie mir Vergebung schenken?«
»Und Frieden«, fügte der Krieger hinzu. Es war unübersehbar, dass er Khathalins Aufmerksamkeit erregt hatte. Sein kleiner Triumph gab ihm die Kraft, sich zu erheben, und schlug sich augenblicklich in seinem breiten Grinsen nieder. »Keine Forderungen und kein Exil mehr«, stimmte er nickend zu. »Du und deine Brüder könnt die Eisigen Ebenen verlassen.«
Den Ort, an den Syra sie verbannt hatte, nachdem sie mächtig genug war, sich Diener und Sklaven zu schaffen, die ihren Willen durchsetzten.
»Sie würde mir den Schuss vergeben?«
In ihren Ohren klangen diese Worte absurd. Eine halbe Ewigkeit lang hatte sie Syra wieder und wieder um Vergebung angefleht, für eine Tat, die sie in kindlichem Übermut begangen und ihr Leben lang bereut hatte. Dass Syra sie nicht getötet hatte, schien in den Augen der Rabenhexe eine Gnade gewesen zu sein, für Khaithalin und ihre Familie jedoch, war es das Ende gewesen. Krieger waren gekommen, hatten sie und ihre Familie festgenommen und zu jener winzigen Holzhütte eskortiert, in der sie noch immer lebten. Leben war ein großes Wort, für das bescheidene Dasein, das sie seitdem fristeten. Ihre Eltern waren wenige Jahre darauf Krankheit und Kälte zum Opfer gefallen, und nur Khait und ihre jüngeren Brüder waren dem Tode entkommen. Sie hatte damals alles versucht, um die Gnade der Hexe zu erwirken. Opfergaben, Geschenke, auf Knien hatte sie diese angefleht, aber nichts hatte Syra milde stimmen können. Der unbedachte Augenblick, in dem sie damals Pfeil und Bogen des Vaters genommen und im Wald einen einzelnen Schuss abgegeben hatte, beherrschte seit jeher ihr ganzes Leben.
Mit einem weiteren Nicken bekräftigte Markos ihre Worte.
»Und was verlangt sie für diese großzügige Gnade?«
»Nicht viel, und es sollte dir leichtfallen, diesem Wunsch nachzugehen, Shelkhii. Syra wünscht lediglich ein wenig mehr von dem Gift, mit dem damals der Pfeil bestrichen war. Sie hat Verwendung dafür gefunden.«
»Das ist alles? Unser aller Freiheit ist nicht mehr wert, als ein paar Tropfen Gift?«
Sie schloss die Augen und sinnierte über die Worte des Kriegers. Damals den verheißungsvollen Schuss auf Syra in Rabengestalt abgegeben zu haben, der die Hexe nicht nur beinahe das Leben gekostet, sondern auch in die Arme ihres Geliebten getrieben hatte, veränderte ihr Leben nachhaltig. Nicht nur ihr Denken, auch ihr Blick in die Zukunft hatte darunter leiden müssen. Sie war zur Gejagten, zur Beute geworden. Und kehrten sie oder ihre Brüder je ins Herz Theremals zurück, waren sie des Todes.
Sie hob die Lider langsam und blickte zu den am Boden liegenden Münzen zurück. »Dieses Gift ist absolut tödlich. Mein Vorfahre, der Shelkhu, hat es meinem Volk geschenkt und uns Schutz versprochen. Es tötet nahezu alles, was lebt. Ich brauche Syras Wort, dass diese Waffe nie gegen meine Brüder und mich eingesetzt wird, oder unser Pakt ist nichtig.«
»Das ist fast alles. Es ist für ihren Geliebten bestimmt.«
»Für den Formwandler, mit dessen Hilfe sie uns an diesen trostlosen Ort bringen konnte?«
Nur allzu gut konnte sie sich an den schrecklichen Mann an Syras Seite erinnern, der sie und ihre Familie im Dienste der Rabenhexe an diesen furchtbaren Ort verbannt hatte. Mit Magie scherzte man nicht. Das hatte Khaithalin schon früh lernen müssen.
Diese wilden grünen Augen waren ihr manche Nacht bis in ihre Albträume gefolgt.
»Ja.«
»Dann«, setzte Khaithalin mit einem strahlenden Lächeln an, »fällt mir die Entscheidung doch beinahe noch ein wenig leichter. Richte Syra aus, sie wird ihr Gift bekommen, und unsere Loyalität ist ihr sicher, bis zum bitteren Ende.«
»Deine Entscheidung wird sie freuen, aber ich werde sie ihr nicht überbringen. Sondern du. Syra will, dass du dich nach Ni’ek begibst und dort auf sie wartest. Dein Gift hat sich in der Vergangenheit als äußerst effektiv gegen Karons Kräfte erwiesen.«
Ein kleines Lächeln erhellte Khaithalins Züge. Ihre Lippen glitten auseinander und entblößten zwei rasiermesserscharfe Reißzähne, die sich aus ihrem Oberkiefer bohrten und immer länger und spitzer wurden. »Es ist mir eine Ehre, der zukünftigen Herrscherin von ganz Theremal dienen zu dürfen.«