Die Bürde des Königs lastete nicht auf mir, und Gorla, mein Onkel, erwartete auch nicht, dass ich mich für sein Tun und Lassen interessierte. Er machte niemals Bemerkungen und ließ mir Zeit. Er stellte Fragen, aber wenn ich die Antworten nicht wusste, lachte er nur und verzieh mir schnell meine jugendliche Unwissenheit. Wir harmonierten. Er war ein lieber Mann und besaß ein großes Herz, in dem, wie ich nach drei Tagen feststellen konnte, noch jede Menge Platz für mich übrig war. Unsere Familie war klein. Mein Onkel besaß einen Sohn namens Thom, der gerade erst sieben geworden war. Seine Frau war fort. Das Gehabe am Hofe und die Blicke der neidischen Mägde waren ihr zu viel geworden und sie war ausgezogen, auf ein kleines Landschloss, nicht weit von hier. Seither sahen der König und sie sich nur noch selten, aber sie beide waren mit dieser Art der Eheführung einverstanden und schätzten ihre Freiheiten.
Mein Leben hatte eine sehr unerwartete Wendung genommen, und obwohl meine Zweifel groß gewesen waren, und noch immer nicht ganz verschwunden, fühlte ich mich hier schon binnen weniger Tage fast mehr zu Hause, als im Kloster Jahre zuvor. Ich hatte mir einreden wollen, dass mir die Mönche und Feen eine Familie waren, dass wir voneinander lernen und gemeinsam wachsen konnten, aber eigentlich waren sie anders gewesen. Zu anders. Ihre Lebenseinstellung harmonierte nur bedingt mit alledem, was ich als richtig empfand. Dennoch liebte ich sie und setzte gleich am ersten Abend am Hofe ein Schreiben auf, das ein Bote bis ins Gebirge und zu den Mönchen bringen sollte.
Nach all den Jahren, die wir Seite an Seite gelebt hatten, empfand ich es als nötig, ihnen zu erzählen, wie es mir ergangen war. Dabei ließ ich nicht aus, dass Karon mich gerettet hatte und mir Schutz vor einer dunklen Macht bot. Ich warnte die Feen vor Syra, selbst wenn ihr Heer weit entfernt war und noch keine Bedrohung für sie darstellte. Eines Tages würde sich das vielleicht ändern.
Gorla ließ Selinia und mich in benachbarten Zimmern unterbringen. Wir verbrachten die Tage zusammen und abends, wenn sich unsere Wege trennten, konnte ich sie manchmal in ihrem Gemach weinen hören. Ich wusste, dass sie nicht glücklich damit war, hier zu bleiben. Umso mehr schätzte ich sie für das Opfer, das sie meinetwegen brachte. Jeder von uns bekam eine Bedienstete zur Seite gestellt, die rund um die Uhr dafür zuständig war, uns zu unterstützen, unsere Wünsche zu erfüllen und uns, wenn nötig, die Langeweile zu vertreiben. Doch Langeweile gab es selten.
Meria, eine schöne Frau, Anfang dreißig mit wallendem rotblonden Haar und einer zierlichen, fast zerbrechlichen Gestalt, kam morgens um mich zu wecken. Ich mochte sie, auch wenn sie ein seltsames Geheimnis umgab. Sie war freundlich und lachte viel. Ihre großen, blauen Augen strahlten, wann immer ich einen Wunsch hatte, und wann immer sie hereinkam, spürte ich, wie ihre Gefühle mich zuversichtlich stimmten.
Ich hatte seit drei Tagen nichts mehr von Karon gehört. Anfangs, an den ersten Abenden, hatte ich auf dem Bett gesessen, den Anhänger in meine Hände genommen und wieder und wieder seinen Namen geflüstert, als würde ihn mir dieser Hilferuf zurückbringen. Am dritten Tag versuchte ich es nicht mehr. Am vierten Tag legte ich den Anhänger ab und ließ ihn tagsüber auf dem Nachttisch liegen. Aus irgendeinem Grund wollte Karon nicht, dass ich ihn ausfindig machte und ich redete mir ein, dass er besser wusste, was zu tun war, als ich. Dass es nicht daran lag, dass es ihm schlecht ging, sondern an etwas anderem. Obwohl ich ihn gern um mich gehabt hätte.
Eine Woche zog ins Land und jeden Tag erwachte ich ein wenig glücklicher. Mein Onkel wusste viele Geschichten von meinem Vater aus Kindertagen zu erzählen. Als der ältere von beiden hatte er oftmals für die Schandtaten meines Vaters geradestehen müssen. Nach eigener Aussage hatte ihn dies aber nur selten gestört. Er hatte seinen Bruder geliebt und beteuerte mir wieder und wieder, was für ein wundervoller Mensch er gewesen war. Und ich glaubte ihm. Ich glaubte fest daran, dass er ein guter Mensch und ein liebevoller Vater gewesen war, bis sich das Schicksal gegen ihn wendete und alles veränderte.
Jeder Morgen begann gleich: Die Tür wurde knarrend geöffnet und ein roter Schopf schob sich herein. Kaum, dass Merias Blick mich streifte, setzte sie ein Lächeln auf und kam herein.
Dann umrundete sie das Bett und zog die Vorhänge noch weiter beiseite. Jeden Abend zog ich sie ein Stück auf, damit Karon, sollte er in Rabengestalt vorbeifliegen, sehen konnte, dass es mir gut ging. Und jeden Morgen runzelte sie die Stirn, weil sie sicher war, die Vorhänge zugezogen zu haben. Dann beschloss ich, dass sich etwas ändern musste. Ich.
Als am Morgen des elften Tages die Sonne aufging, lag ein seltsamer Wandel in der Luft. Die frühe Morgensonne strahlte herein und warf einen goldenen Schein auf das Gemälde, vor dem ich seit Stunden hockte. Ich sah sie abwechselnd an: zuerst das Gesicht meiner Mutter, dann das meines Vaters. Sie waren mir vertraut und doch fremd. Unwirklich. Ihre Nähe begann mir etwas zu bedeuten. Seit drei Tagen kam ich nun jeden Morgen vor Sonnenaufgang her. Dann, wenn mich keiner sehen konnte. Um den Kreis des Alltäglichen zu durchbrechen. Um mich zu wandeln.
Ich setzte mich vor das Gemälde und schaute es an. Karons Kette leuchtete nie wieder, aber ich spürte, dass er immer dann bei mir war, wenn ich hierher kam. Vielleicht war dies der heimliche Grund, weshalb ich es tat. Ich wollte ihm nahe sein. Dem Mann, der meine Mutter geliebt hatte, und für den sie gestorben war.
Es kam mir vor wie ein Märchen. Ich war einer Seele begegnet, die zwei Herzen liebte, und beide von ihnen verloren hatte. Sowohl Syra, als auch meine Mutter, waren für Karon unerreichbar geworden. Die einzige Verbindung zwischen ihm und der Gnade, die ihm widerfahren war, war ein Kind, das er kaum kannte und fortschicken musste, um in Sicherheit zu sein. Ich versuchte mir vorzustellen, was in jenem Moment, als ich in seiner Höhle aufgetaucht war, in seinen Gedanken vorgegangen sein mochte. Hatte er mich gleich erkannt? Wusste er, was mein Erscheinen bedeutete? Hatte er Inadette in mir erkannt?
Seit ich wusste, dass er mich angelogen hatte, fühlte es sich befremdlich an, gleichzeitig an ihn und meine Mutter zu denken. Ich hatte gespürt, wie tief und rein seine Liebe für Syra war. Wenn er von ihr sprach, loderte unter dem Hass über ihren Verrat, eine tiefe Sehnsucht in ihm auf. Eine, die unmöglich zu stillen war, denn die einzige Frau, die die Leere in ihm füllen konnte, würde nicht zögern, ihn erneut zu hintergehen.Trotz allem spürte ich, als mein Blick das lächelnde Gesicht meiner Mutter streifte, dass auch sie von seiner Herzlichkeit erfüllt war. Sie waren so viel mehr als Freunde gewesen, durch so viel mehr als Worte und Gedanken verbunden. Ihre Liebe hatte sie im Tode befreit und niemals hätte sie ein Leben voller Glück für einen Dämon gegeben, der ihr nichts bedeutete. Ich ärgerte mich, dass ich es in seiner Gegenwart nicht erkannt hatte. Aber nun war es deutlich zu sehen.
Meine Augen schweiften ab, hefteten sich auf das düstere Gesicht meines Vaters und fanden in diesem eine ähnlich große Wahrheit. Ja, er musste gewusst haben, dass zwischen meiner Mutter und dem Dämon ein Band existierte, das er nicht zerreißen konnte. Es war immer dort gewesen, und blieb, da ihr Tod sie einte, für alle Zeiten bestehen. Karons Leben und seine Freiheit waren das Vermächtnis der einzigen Frau, die mein Vater je geliebt hatte. Diese Entscheidung hatte sie über seinen Kopf hinweg getroffen. Ohne auf sein Leid zu achten, und an seinen Schmerz zu denken. In ihrem Bestreben, das Richtige zu tun, war meine Mutter die wohl egoistischste Person der ganzen Welt gewesen und hatte ihren Mann verkränkt, beleidigt und enttäuscht. Dass er Karon daraufhin, und schon im Vorfeld, Rache geschworen hatte, wunderte mich nicht.
Er war ein impulsiver, herrischer Mann gewesen, sagte Gorla, und er duldete nicht, dass man ihn hinterging.
»Hier steckst du also..«
Ich schloss die Augen. Der Klang dieser ruhigen, warmen Stimme ließ meine Gedanken ganz langsam zurück in die Gegenwart gleiten. Ohne mich umzublicken, wartete ich, bis Selinias Hand meine Schulter berührt und sie langsam an meiner Seite in die Hocke sank. Ich schaute sie an und bemerkte das kleine Lächeln, das auf ihren Lippen lag.
»Hey.«
»Guten Morgen, Sel.« Ich hob die Hand und berührte flüchtig ihre Finger an meiner Schulter. Kurze, flüchtige Gesten und kostbare Augenblicke waren es, an die man sich irgendwann zurückerinnern wurde. Das hatte ich durch Karons Worte gelernt. Nicht große Dinge und schwulstige Worte, sondern Kleinigkeiten, die an Einfachheit kaum zu übertreffen waren.
»Hast du schlecht geschlafen?«
»Nein«, entgegnete ich leise. Ich konnte ihr nicht sagen, dass es mich jede Nacht an diesen Ort zog, ohne dass sie sich Sorgen machen würde. Wie sollte ich ihr meine Gefühle auch glaubhaft verdeutlichen? Wie sollte ich ihr erklären, dass ich einen Dämon vermisste, den ich nur flüchtig kannte, und mich plötzlich davor fürchtete, den Rest seiner Geschichte niemals zu erfahren? Er hatte mich belogen, obwohl er mir mehr als einmal beteuert hatte, es nicht nötig zu haben. Wieso dann diesmal? Wieso hatte er mir etwas so Wichtiges verschwiegen? »Ich war nur schon sehr früh wach und konnte nicht mehr einschlafen. Und da dachte ich..«
»Du kommst hier her und hoffst, dass sie auf diese Weise zu dir zurückkehren.« Selinia seufzte. »Erias, vielleicht solltest du dich nicht allzu sehr an dieses Gemälde klammern. Es ist nur ein Bild, gemalt von jemandem, der damit sein Brot verdiente. Alles, was du in dieses Bild reininterpretierst, ist möglicherweise ganz anders gemeint. Es könnte der Lichteinfall sein, oder..«
Oder eine Botschaft, die jedermann wusste, aber niemand auszusprechen wagte. Karon hatte erzählt, dass die Verbindung zwischen meiner Mutter und ihm bekannt und unliebsam war. Der Maler hatte sie vermutlich gekannt und in seinem Kunstwerk für die Ewigkeit einen Hinweis darauf hinterlassen wollen. Wie konnte die Fee so blind sein, all das nicht sehen zu wollen?
Ich schüttelte den Kopf, wandte ihr dann mein Gesicht zu und hüllte es in ein Lächeln ein. »Kannst du mir versprechen, dass Karon mich nicht angelogen hat? Dass meine Mutter ihm nichts bedeutete? Dass er nicht..«
Was? Mein Vater war? Ich schluckte. Plötzlich war der Gedanke da und es kostete mich alle Kraft, ihn nicht laut hinauszuschreien. Ja, ich sah meinem Vater ähnlich, aber all die kleinen verborgenen Hinweise verwirrten und erschreckten mich. Wenn ich, wie Karon sagte, tatsächlich über dämonische Fähigkeiten verfügte, war ich dann nicht irgendwie auch sein Erbe? Ein Kind, in dem sein Geist und ihrer weiterlebten, auch wenn sie verschwanden? Wer war ich dann? Ein Kind reiner Liebe und einer magischen Verbindung? Ein..
Auf meiner Brust breitete sich Wärme aus. Ich hob die Hand an mein Sternum, hob das Hemd ein wenig an und bemerkte, dass der Anhänger, dem ich die Wärme zugesprochen hatte, überhaupt nicht dort war. Er lag in meinem Zimmer auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett. Ich hatte ihn abgenommen. Nicht, weil ich Karon nicht erreichen konnte, sondern weil ich verletzt und traurig darüber war, dass er mich unvorbereitet hergeschickt hatte. Ich war wütend, weil ich mich betrogen und im Stich gelassen fühle. Und weil ich wollte, dass er verstand, wie entrüstet ich war.
Hatte ich gehofft, er würde zu mir kommen, wenn er meine Verwirrung spürte? Dachte ich wirklich, ich konnte ihm meine Fragen stellen, wenn er auftauchte, und ihn dazu zwingen, mir endlich die Wahrheit zu erzählen?
»Erias..?« Mit gerunzelter Stirn folgte Selinia meinem Blick, und als sie sah, dass ich den Anhänger nicht trug, seufzte sie traurig.
»Ich bin wütend«, offenbarte ich ihr. »Er hat mir diese Verbindung verschwiegen, obwohl ich danach gefragt habe. Er hat-«
»Er wollte dich beschützen«, versicherte sie mir. Ihre Hände tasteten nach meinem Arm und schon lag ihr Kopf an meiner Schulter. »Selbst in der Zeit, als Karon sich kaum noch aus Syras Zauber erheben konnte, war er in jedem klaren Moment selbstlos und aufrichtig. Wenn Karon dir nicht die Wahrheit gesagt hat, dann hatte das einen Grund.«
»Er wollte mich beschützen.«
Sie nickte. »Er wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, dass du wütend oder voller Schuldgefühle bist.«
»Und wieso hat er mich dann an diesen Ort geschickt? Wieso hat er mich vor dieses Bild geführt?«
»Weil die Geschichte nun einmal so ist«, flüsterte sie. Ihr Gesicht wandte sich mir zu und ich ertrank beinahe in ihren großen, blauen Augen, die wie Meerwasser strahlten. »Auch, wenn sie nicht schön ist, sie ist wahr.«
»Also weißt du es«, vermutete ich bitter. »Du hast gewusst, dass Karon neben Syra auch meine Mutter liebte?«
»Ich..« Sie zögerte. »Ich habe vor vielen Jahren eine Unterhaltung vor dem Gemach deiner Mutter belauscht. Noch vor ihrer Hochzeit. Sie war ängstlich und wusste nicht, ob ein Leben mit deinem Vater jemals das sein würde, wonach ihr Herz lechzte. Sie war jung und aufgeweckt, sie wollte das Leben genießen und nicht hinter Mauern und Pflichten eingesperrt sein. Aber sie liebte deinen Vater mehr als ihr eigenes Leben. Ich hörte, wie sie Karon von ihren Zweifeln erzählte, und dann..« Selinias Blick began zu flackern.
»Dann was?«
»Dann hat er ihr das größte Geschenk von allen gemacht. Karon hat deiner Mutter geschworen, ihr auch dann für immer nahe zu sein, auch wenn sie Königin und Mutter werden würde. Er gebot ihr, ihrem Herzen zu folgen.«
»Er hat sie dazu gebracht, meinen Vater zu heiraten, obwohl er etwas für sie empfand?«
Nickend sagte die Fee: »Vielleicht. An diesem Abend verkündete dein Vater bei einem Bankett, dass er um die Hand deiner Mutter anhalten würde, und sie gewährte sie ihm. Ich saß am Ende des Raumes und sah, wie sie Karon einen Blick zuwarf, der ihn um Verzeihung bat. Aber dies war die Nacht, in der Karon zu Syra zurückkehrte.« Sie schluckte einen Kloß hinunter, der in ihrer Kehle steckte. »Er ist nicht dein Vater, und deine Mutter hat ihn nie genug geliebt, um deinen Vater aufzugeben. So, wie Karon niemals ausreichend für Inadette empfunden hätte, um sich von Syra zu lösen. Was auch immer sie einander bedeuten, es war nicht genug, aber mehr, als es brauchte, um unvergessen zu sein.«
»Genug, um für ihn zu sterben.«
»Genug, um sich für sie zu ändern.«
Sie hatte Recht. Ich wusste es, spürte es, aber die Wahrheit trocknete meinen Verstand aus. Es tat weh, unsagbar weh, und fühlte sich doch so richtig an. Ich musste die Wahrheit kennen.
»Ich bin sicher, dass er dich hergeführt hat, damit du die Wahrheit erkennst. Er wollte dich sicher nicht kränken.«
»Natürlich nicht.« Ich schüttelte den Kopf und zwang mich langsam zur Besinnung. »Du hast recht.«
»Selbstverständlich habe ich recht!«, begehrte die Fee auf, zwinkerte mir zu und stand stöhnend auf. »Und jetzt denke ich, du solltest dir etwas anderes anziehen. Gorla will mit dir frühstücken, und hat Meria gebeten, dich danach in die Bibliothek zu bringen. Ich komme mit, wenn du möchtest. Es gibt ein paar sehr spannende Werke, die man nur hier einsehen kann. Deine Mutter hat in der Vergangenheit Zaubersprüche und dergleichen gesammelt. Einiges davon könnte interessant sein.«
»Etwas wie.. den Whyndrir-Fluch?«
Sie zwinkerte. »Möglicherweise.«
»Tagebücher«, entgegnete ich. »Ich weiß, dass es Tagebücher meiner Mutter gibt.« Und wenn ich ein paar von ihnen lesen könnte, würde mich das dieser großen, gesichterlosen Frau vielleicht näher bringen, als jede zerrüttete Erinnerung. Mürrisch kämpfte ich mich hoch, stützte mich ab und kam auf die Füße. »Also gut. Ich kann ja nicht ewig hier herumsitzen und auf Antworten warten. Es scheint, als müsste ich sie mir selbst beschaffen.«
»Und in irgendeinem dieser Bücher wirst du sie vielleicht finden.«
Ich stimmte ihr mit einem Nicken zu. »Eine Frage allerdings habe ich noch«, gestand ich. »Und sie betrifft dich.« Bislang hatte sich Selinia stets still und schweigend verhalten, wenig von sich und ihrem Leben erzählt. Ich kannte sie, und doch war sie mir fremd.
»Über mich?«, fragte sie überrascht und schien wenig begeistert. Ihre Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie, aber sie hob die Hand und vollführte eine einladende Geste »Bitte«, murmelte sie. »Frag ruhig.«
»Karons Leben ist groß und aufregend gewesen. Wieso gehörst du dazu? Wieso bist du ihm aufgefallen? Wieso hast du ihm geglaubt?«
»Denkst du, ich wäre nicht aufregend genug, um die Blicke fremder Männer auf mich zu ziehen?«, erwiderte sie mit hochgezogener Augenbraue.
»Nein! Ich meine nur, ich habe deine Blicke gesehen, wenn du über Dämonen sprichst. Ich bin nicht ganz unwissend. Ich weiß, Feen und Schattenwesen meiden einander, wenn sie können. Wieso du nicht?«
»Ich habe das zweite Gesicht.« Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und taxierte mich mit wachsamen Blicken. »Das, was ich im Kloster getan habe, ist echte Magie. Kartenlegen ist für mich mehr als ein einfacher Trick. Ich sehe dann und wann eine von vielen möglichen Einblicken in die Zukunft. Als ich Karon zum ersten Mal gegenüberstand, kannte ich ihn bereits. Meine Karten und Visionen hatten mir einen Mann prophezeit, der kommen und Theremal vernichten oder retten würde. Als ich ihm begegnete, wusste ich sofort, dass er derjenige ist, von dem meine Karten gesprochen haben. Ich freundete mich mit ihm an, um in Erfahrung zu bringen, was er wohl sein würde, Retter oder Sünder. Und ich fand vieles in ihm, das gut und ehrfürchtig war.«
»Hat er davon gewusst?«
»Karon kann Gedanken und Gefühle lesen. Als er das erste Mal vor mir stand, wusste er, was ich in ihm sehen konnte, und tat alles dafür, um das Abbild von sich in meinem Kopf zu verbessern. Er kämpfte dafür, ein reineres Herz und eine bessere Seele zu sein. Ich denke, er wusste, was er zu tun hatte, um mich für sich zu gewinnen.«
»Hat er um dein Herz geworben?«, hakte ich nach, und spürte erstmals, wie meine Kehle eng wurde. Wieso kümmerte es mich, wer um ihre Hand anhielt und sie umwarb? Sie gehörte mir nicht und hatte mir gegenüber keine Rechenschaft abzulegen.
»Nein. Das hat er nie.«
»Hat es nie irgendjemand versucht?«
Plötzlich flammte ein Grinsen in ihrem liebreizenden Antlitz auf. »Erias, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich denken, dass du mich nicht ohne Hintergedanken ausfragst!«
Wärme und Röte schossen mir ins Gesicht. Ich wollte mich umdrehen, aber ohne ihre Neugier zu wecken, wäre das wohl nicht möglich gewesen. »Ich spreche so viel über Gefühle«, versuchte ich mich herauszuwinden, »und ich habe nie gefragt, ob ich dich damit kränke. Ob du vielleicht auch jemanden verloren hast, den..«
Plötzlich schien die Fee ernst zu werden. Ihr Lächeln blieb, aber ihr Blick wurde nostalgisch, tief und unüberwindbar. »Ob ich je verliebt war, meinst du?« Ich nickte. »Es gab mal einen Mann in meinem Leben«, entgegnete sie daraufhin beiläufig. »Aber er entschied sich gegen mich und folgte einem Pfad, von dem er sich Freiheit und Gerechtigkeit für jedermann erhoffte. Ich ließ ihn gehen, und er kam nie wieder. Seither denke ich, es ist besser, allein zu sein, als mehr als einmal durch diese Hölle zu gehen.«
»War er sterblich?« War er wie ich?
»Nein«, sagte sie kurz angebunden. »War er nicht.«
Dann trat sie wortlos an mir vorbei und schlenderte den Gang hinab. Ich schaute ihr nach. Hatte ich sie verletzt? Waren diese Erinnerungen so schmerzhaft für sie, dass sie besser verschlossen und ungesagt blieben?
Ich schaute ihr nach, bis sie stehenblieb und sich umdrehte. »Kommst du?«, rief sie mir zu und ich setzte mich in Bewegung.