Auf dem Flur und über dem Schloss war es dunkel geworden. Ich passierte unzählige Fenster, vor denen sich schwere, schwarze Wolken zusammengeballt hatten, und ein Unwetter ankündigten, in dem sich die Wärme der letzten Tage entladen wollte. Es passte zu meiner Stimmung. Irgendwie fühlte ich mich erhitzt, aufgeladen, bereit dazu, in einem Donnerwetter unterzugehen. Unterbewusst musste ich gespürt haben, dass Karons uns meine Bindung mehr, als ein bloßer Zufall war. Aber hatte er mich tatsächlich auserwählt, oder war es ganz anders geschehen? Hatte er vielleicht keine Wahl und mich deshalb abgeschoben, weil er sich nicht zusätzlich mit meinen Sorgen befassen wollte?
Hatte er mich fortgeschickt, um eben diese Bindung auf die Probe zu stellen, oder steckte tatsächlich Sorge dahinter? Ich versuchte, an dem festzuhalten, was ich deutlich hatte spüren können: Er mochte mich, und mein Leben bedeutete ihm etwas. Ganz egal, wie es geschehen war, und was dieser Zauber nach sich ziehen würde, ich war mir seiner Freundschaft gewiss. Und ich vertraute ihm.
Ein erstes Grollen erschien am Abendhimmel. Zwischen den zusammengeballten Wolken schimmerte es bläulich hindurch. Die Gewalt dieses Unwetters lud die Luft mit bittersüßer Erregung auf.
Ich konnte das Kribbeln in meinen Fingerspitzen fühlen. Es intensivierte sich.
Selinia war in der Bibliothek geblieben. Sie wollte alleine sein und ihren Gedanken nachgehen, und ich war dankbar, dass sie mich nicht in ein Gespräch verwickeln wollte. Mein müder Kopf lechzte nach Stille.
Als ich den Korridor erreichte, auf dem mein Gemach lag, stand meine Zimmertür offen. Ich näherte mich ihr und ertappte Meria dabei, wie sie ein großes Laken über mein Bett spannte und es in die Ecken zu stopfen begann.
»Erias!«, rief sie aus, als sie mich erblickte. Aus ihrem strammen Zopf waren ein paar Strähnen vorgefallen und hingen ihr verschwitzt ins Gesicht. »Hast du den Tag genossen?« Sie blies ein paar Haare fort, neigte sich vor und strich die letzten Falten aus dem straffgezogenen Betttuch.
Ich nickte wortlos.
»Das hat vor deiner Tür gelegen, als ich hereinkam. Dein Name steht darauf.« Sie zupfte ihr Kleid zurecht, streckte sich meinem Nachttisch entgegen und reichte mir einen Umschlag. Ich inspizierte die feine, geschwungene Handschrift, die eindeutig zu einer Frauenhand gehörte genau, ehe ich ihn auf das Bett warf und mich daneben gleiten ließ. »Ich glaube, du hast eine Verehrerin innerhalb des Schlosses.« Verschmitzt zwinkerte sie mir zu und verschwand auf dem Gang. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht..«
Sie zog die Tür zu und ich ließ mich mit ausgebreiteten Armen zurücksinken. Eine Verehrerin? Ich? Wohl kaum. Es sei denn, die jungen Damen des Hauses mochten melancholische, junge Männer, die viel öfter mit dem Kopf in den Wolken, als auf der Erde verweilten. Dennoch nahm ich den Umschlag in meine Hand und zog ein zweimal gefaltetes Papier hervor. Als ich es auseinanderfächern wollte, fiel etwas heraus und landete neben meinem Kopf auf dem frischen Laken.
Ich rollte mich herum, und erstarrte, als ich die große, rabenschwarze Feder erblickte, sie dort niedergesunken war. Ein seltsames Gefühl, ein Gemisch aus Beklemmung und Atemnot, machte sich in mir breit und versagte mir den nächsten Atemzug. In meiner Brust begann das Herz, schneller zu schlagen. Jeder Ton wie das Trommeln mächtiger Hufe auf Asphalt. Meine Finger zitterten. Ich hob sie auf, berührte sie, und wusste ohne Zweifel, von welchem Vogel sie stammte.
Sofort war die Schwere des Tages wie weggeblasen. Ich stemmte mich hoch, setzte mich auf, und während ich die Feder noch immer krampfhaft mit zwei Fingern umklammerte, entfaltete ich das Schreiben. Es war in der selben geschwungenen Schrift verfasst, wie mein Name auf der Außenseite des Umschlages.
Liebster Königssohn, stand dort in der spöttisch gleichmäßigen Schrift, und schon wurde meine Kehle eng. Ich wusste es noch nicht, aber dieser Tag sollte eine furchtbare Wendung nehmen und alles übertreffen, was ich beim Lesen dieses Buches für möglich gehalten hatte. Wir sind uns bisher nicht vorgestellt worden, aber uns beide eint eine tiefe Verbundenheit mit ein und derselben Kreatur. Wenn Euch am Wohl Eures Freundes liegt, verlasst nach Anbruch der Dunkelheit das Schloss, geht in den Garten hinaus und steigt über die Mauer ins Freie. Ich werde auf der großen Lichtung auf Euch warten. Erscheint, und keinem von euch wird Leid widerfahren.
In Liebe,
Syra
Sie hatte ihn. Ich wusste es. Meine Finger krallten sich in die Feder, bis diese knirschend zu zerbersten drohte. Das Unmögliche, das Unvorstellbare war eingetreten: Er war bei ihr. Sie hatte ihn sich zurückgeholt und einverleibt. Sie war der Grund für das Schweigen zwischen uns. Für die seltsamen, leeren Gefühle, die mich begleiteten, seit er fortgegangen war. Hatte r mich zum Gemälde meiner Eltern geführt, um noch irgendetwas retten zu können? Wollte er mir etwas sagen?
Instinktiv griff ich neben mich. Auf dem Nachttisch lag das Lederband mit dem Anhänger daran. Ich umschloss ihn mit beiden Händen, presste ihn fest an meine Brust und flüsterte seinen Namen. Wieder und immer wieder, bis er an Bedeutung verlor. Das Kribbeln seiner Magie blieb aus. Die Stille erdrückte mich. Ich atmete, und doch glaubte ich, währenddessen zu ersticken.
Was sollte ich tun?
Karon setzte sein Vertrauen in mich. Er brachte mich nicht in Sicherheit, um nun zu sehen, wie ich diese lichtfertig aufgab für ihn. Er hatte mir wieder und wieder beteuert, dass Syra ihm nichts anhaben konnte, aber stimmte das? Er empfand Schmerz und Kummer. Dass sie keinen Zauber finden würde, mit dem sie ihm schaden konnte, bedeutete nicht automatisch auch, dass es gar keine Möglichkeit gab, ihm etwas anzutun. Und wenn Syra so kalt und verzweifelt war, wie Karon sie beschrieben hatte, dann war sie eine Frau, die zu allem fähig war.
Der Brief fiel mir aus der Hand und segelte zu Boden. Ich konnte ihn nicht mehr halten. Seine Worte schwirrten durch meinen Verstand. Ich wusste, dass wir verloren waren, wenn wir gaben, was sie wollte und auch, wenn wir uns ihrer verweigerten. So oder so, ihr ihren Willen zu lassen, führte in den Abgrund. Und ich war der Weg dorthin.