Die Saphire waren noch immer da. Wie zwei leuchtende Sterne schwebten sie über meinem Gesicht.
Ich blinzelte ihnen zu. Sie zwinkerten zurück.
»Er wacht auf!«, sagte eine weit entfernt klingende Stimme aufgeregt.
Jemand berührte mich am Arm. Die Saphire verschwanden. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete sie wieder. Sie blieben verschollen. An ihre Stelle war ein seltsames, zotteliges Tier getreten, das an einem abgebrochenen Ast hängend, ganz langsam über mir hinweg schlich. Große, schaufelartige Klauen halfen ihm dabei, träge eine Hand vor die andere zu schieben und sich dabei festen Halt zu verschaffen. Moos zog sich durch das verfilzte Fell. Das Gesicht zeigte ein Grinsen. Meine Augen fielen wieder zu.
Langsam drehte ich mich zur Seite. Der Geruch von brennendem Holz und Feuer stieg mir in die Nase.
»Hallo, du!«, sagte jemand. Eine Hand rüttelte an meiner Schulter. »Ist er tot?«
»Nein, du Idiot!«, fauchte eine zweite, eindeutlich weibliche Stimme. Etwas raschelte an meiner Seite. »Der Andere ist doch auch nicht tot. Er hat gesagt, der Junge wacht bald auf.«
Der Andere? Wieder blinzelte ich. Der Schlaf verschwand langsam sowohl aus meinen Augen, als auch aus meinen Gedanken. Die Erinnerungen an die Geschehnisse im Schloss kehrten nur langsam zurück.
»Karon?«, murmelte ich.
Mein müder Geist tastete um sich. Da waren zwei Geschöpfe. Eine Frau und ein Mann. Sie waren keine Menschen, aber in ihren Gedanken lag keine Feindseligkeit. Ganz im Gegenteil.
Langsam hob ich den Blick und musterte die Kreatur vor mir. Ihre Umrisse waren verwischt. Mal deutlicher, mal verworren wie im Traum.
»Bin ich..?«
»Tot?«, fragte das Wesen. Es kam näher. Eine kalte feuchte Nase berührte meine Hand, schnupperte an mir. »Ich denke nicht. Du siehst lebendig aus.« Etwas Feuchtes fuhr über meine Wange. Eine raue Zunge. »Du schmeckst auch sehr lebendig.«
Langsam stemmte ich mich hoch. Die Kreatur vor mir war nicht größer als ein Kind. Ihre Augen waren strahlend blau. Die Saphire! Sie besaß eine menschenähnliche Statur. Ihre Haut war gebräunt, und schimmerte im Fackellicht wie Bronze. Lange, feine Wimpern in der Farbe von trockenem Laub, ließen mich vermuten, dass ich das Weibchen vor mir hatte. Dann fielen mir ein paar Absonderlichkeiten auf. Das Wesen besaß langes, fuchsrotes Haar und hohe, markante Wangenknochen. Es war dünn, grazil, und in Lumpen gekleidet. Es trug Fetzen aus Fell. Aus Fuchsfell. Als es lächelte, entblößte es vier ausgeprägte Reißzähne. Und außerdem besaß es einen buschigen, zuckenden Schwanz, in dem sich Blätter verfangen hatten und kleine Fellbüschel, die ihm um die Ohren herum wuchsen. Das seltsame, langsame Tier über unseren Köpfen hatte das Ende des Astes erreicht, griff nach einem höhergelegenen und verschwand daraufhin raschelnd im Gehölz.
»Wo ist mein Freund?«, flüsterte ich verwirrt. »Ich war nicht alleine. Er ist möglicherweise verletzt.«
»Der Andere?« Das Wesen blinzelte. Dann hob es seine Hand und wies auf einen Punkt hinter mir, den ich erst sehen konnte, als ich den Kopf drehte, und mich umschaute. »Sitzt da hinten. Er wollte sich nicht helfen lassen.« Sie musterte mich aufgeregt, beugte sich dann herunter und flüsterte verheißungsvoll: »Der Wald hat uns zu euch geführt. Naja, eigentlich war es das Faultier.« Sie gluckste. »Das ist auch der Grund, weshalb wir so lange gebraucht haben, um euch zu finden.«
Ich drehte mich um. Nur wenige Meter hinter mir saß Karon aufrecht mit der Schulter an einen Baum gelehnt. Seine Haltung war verkrümmt. Er hatte Schmerzen, aber sein Bewusstsein war wach und klar. Ich berührte es, ließ ihn wissen, dass ich aufgewacht war und tatsächlich warf er einen Blick über die Schulter zurück, in meine Richtung.
Ich sprintete los, jagte das zweite, das männliche Wesen, das dem Anderen sehr ähnlich sah, aus dem Weg und stürzte zu dem Whyndrir hin. Er saß am Abgrund. Seine Beine baumelten über den grasbewachsenen Abhang. Unter ihm erstreckte sich eine Kluft. Theremals karge, wilde Berglandschaft lag dort unten und verspottete ihn.
»Karon!«, rief ich seinen Namen und ließ mich an seiner Seite in die Hocke sinken.
Er reckte mir das Gesicht entgegen. Es dauerte einen Augenblick, aber als er mich erkannte, hellte sich seine Miene ein wenig auf. Seine Haut war blass, und dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, aber er wirkte gefasst und ruhig. Vielleicht zu ruhig.
»Hey«, raunte er mir zu. Seine Stimme war leise. In ihr schwangen all die Emotionen und Verlustgefühle mit, die in seinen Augen unauffindbar waren.
Ich streckte die Hand aus, und wollte seinen Umhang ein wenig zur Seite schieben, um mir die Wunde anzusehen, als er erschrocken zusammenfuhr. »Nicht«, bat er mich und wehrte meine Hand mit seinem Arm ab. »Ich könnte dir wehtun.«
In Sorge rutschte ich respektvoll ein Stück von ihm fort und machte es mir an seiner Seite bequem. Mein Blick glitt über den Abgrund. In der Tiefe reckten sich pfeilspitze Felsen in die Höhe. »Unsere beiden Retter hätten dir gern geholfen. Aber sie sagten, du hast sie nicht gelassen. Ich spüre, dass du Schmerzen hast. Ich möchte helfen.«
Er antwortete mir nicht. Sein leerer Geist entzog sich mir. Er wanderte in die Ferne. Ein kleiner Blick in seine Gedanken und Gefühle offenbarte mir ein breites Spektrum an Sorgen und Vorwürfen, mit denen er sich das Hirn zermarterte. Ich wusste, er gab sich die Schuld an alledem. Er hatte uns schließlich in Syras Hände getrieben und nicht erkannt, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Aber ich gab ihm keine Schuld daran. Ich folgte seinen Gedanken ins Dunkel. Selinia und Eerin waren nach unserer Flucht zurückgeblieben. Karon war durch diesen Verlust und sein Versagen beschämt. Aus freien Stücken, und wenn es einen anderen Weg gegeben hätte, wäre er nie bereit dazu gewesen, Freunde im Stich zu lassen. Das allein, und eine schwache Erinnerung an die Verzweiflung, die ich bei unserer Flucht aus seiner Richtung verspürt hatte, erstickten jedes Bedürfnis in mir, ihn anzuschreien, weil ich Selinia vielleicht für immer verloren hatte.
Ich vertiefte mich in seinen Geist und bemerkte kaum, wie er seinerseits nach meinen Gefühlen suchte. Erst, als er seufzend die blutverkrusteten Hände von der Wunde nahm, damit ich sehen konnte, dass sein Umhang noch immer feucht und schwer von Blut war, bemerkte ich seine Gegenwart. »Wenn sie mich anfassen«, murmelte er, »werde ich sie verletzen. Mein Körper heilt nicht richtig, was ich wohl dem Shelkii-Gift schulde, in dem der Dolch getränkt war. Aber für den Whyndrir in mir spielt das keine Rolle. Er wird versuchen, sich zu heilen, und wenn es sein muss, mit der Lebenskraft eines Anderen.«
»Oh«, machte ich. Was hätte ich auch sagen können? Alles, was ich tun konnte, um ihm das Gefühl zu geben, nicht völlig einsam auf der Welt zu sein, schadete mir möglicherweise. Und auch das würde ihm nicht helfen. »Was ist ein Shelkii? Hast du Schmerzen?«
»Ein Schlangendämon.«
Er nickte müde, hob den Kopf und warf einen Blick über die Schultern zurück, zu unseren neuen Freunden, die keine hundert Schritte hinter uns saßen, zu uns schauten und die Köpfe zusammensteckten.
»Denkst du, sie sind gefährlich?«, fragte ich ihn. »Hast du solche Wesen schon einmal gesehen?«
»Chendris. Ihr nennt sie Fuchsherzen«, erwiderte Karon. »Manchmal, wenn ein Fuchs in einem besonderen Augenblick auf einen kranken Menschen trifft, ereignet sich ein Wunder, ihre Seelen verschmelzen und der Mensch wird von der Aura des Tieres geheilt. Zum Dank an den stummen Retter sind die ersten menschlichen Nachkommen des Menschen fortan von der Seele des Fuchses gezeichnet. Ein Leben lang. Auch Bären, Dachse und Steinmarder verfügen über diese Gabe. Aber es braucht immer ein wenig Magie und einen kleinen Zufall. Ich glaube nicht, dass sie uns Böses wollen. Hast du mit ihnen gesprochen?«
»Ja, sie sagten, der Wald hätte ihnen ein Faultier geschickt, das sie zu uns geführt hat.« Mein Gott, das klang selbst für mich wahnsinnig dämlich. Aber Karon nickte verstehend. »Das warst du, nicht wahr? Sie glauben, der Wald selbst wollte, dass sie uns finden.«
»Nicht wissentlich«, erwiderte er.
»Hast du ihnen gesagt, wer du bist?«
»Nein. Besser, wir verraten nichts.«
Während ich sein Profil betrachtete, sickerte eine Niedergeschlagenheit von unfassbarem Ausmaß in seine Gedanken. Ich spürte, wie seine Seele zitterte, wie sich etwas Dunkles in ihm ausbreitete und der Funken, den ich stets in ihm wahrgenommen hatte, langsam verloren ging. Was ich dort, in der Halle gesehen hatte, den ersten Sieg des Whyndrirs über Karons Seele, drängte sich in meine Erinnerungen.
»Kannst du mir erklären, was im Schloss passiert ist?«, fragte ich ihn sanft. Der Drang danach, die Hand auszustrecken und symbolisch auf seine Schulter zu legen wuchs, aber ich tat es nicht. »Was ist mit Syra geschehen?«
»Das war nicht Syra«, erwiderte Karon hart. Seine Stimme verwandelte sich in schneidenden Stahl. Seine Hände, auf denen das Blut getrocknet war, ballten sich zu Fäusten. »Therion hat sie in seine Gewalt gebracht. Irgendwie hat er es geschafft, sich ihres Körpers zu bemächtigen. Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmt. Es hat sich falsch angefühlt. Ich hätte auf meine Instinkte vertrauen müssen.«
»Jeder darf einmal Fehler machen.«
»Dieser Fehler hat die Frau, die ich liebe, in die Hände meines Feindes geführt, und ihm obendrein noch zwei andere unschuldige Seelen zum Geschenk gemacht, die mir mehr bedeuten, als ich mit Worten ausdrücken kann.« Plötzlich wandte er mir wieder das Gesicht zu. Er maß mich von Kopf bis Fuß. »Und dich hätte ich auch beinahe verloren.«
»Nichts davon ist deine Schuld.«
»Und wem, wenn nicht mir, soll ich die Schuld daran geben, dass sie alle fort sind und wir nur knapp dem Schlimmsten entkommen konnten?« Er zog die Augenbrauen hoch und verlor sich in einem tiefen Seufzen. »Spar dir den Atem, Erias. Ich weiß genau, an welchem Punkt ich angefangen habe, Fehler zu machen.«
»Wenn du jetzt sagst, dass uns helfen zu wollen, einer dieser Fehler war, dann untersteh dich, es auszusprechen!«, herrschte ich ihn an. »Du hast nicht immer die besten Entscheidungen getroffen. Aber seit du dieser Höhle entkommen bist und sich unsere Wege kreuzten, seither hast du immer alles richtig gemacht. Was Syra geschehen ist, hättest du nicht verhindern können. Und wenn du versucht hättest, Selinia zu retten, wären wir jetzt nicht hier. Dann hätte Therion längst gewonnen. So aber sind wir frei! Wir wissen nicht, was mit Eerin und Selinia geschehen ist. Aber ich bin sicher, dass Therion seine Rache, auf die er so lange hingearbeitet hat, nicht vergeuden wird, indem er irgendein Wesen, das du liebst, in deiner Abwesenheit aus dem Weg räumt. Er wird ihnen nichts tun. Schließlich will er dich haben. Wer ist er? Und was hast du ihm getan, um so viel Hass in ihm zu säen?«
»Therion ist ein Teil der Vergangenheit, die ich längst vergessen glaubte.« Er blinzelte, suchte meinen Blick, und sagte dann leise: »Ich habe ihn getötet.«
»Wie kann er dann hier sein?«
»Ich weiß es nicht. Wir haben uns nie besonders gut verstanden. Ich habe ihm etwas weggenommen, unter dessen Verlust er sehr gelitten hat. Und als der Whyndrir in mir erwachte, hat er ihn auf der Stelle beseitigt. Ich dachte, er wär tot. Aber scheinbar ist das Ende nicht immer von Dauer.«
»Und jetzt hat er beschlossen, dir etwas wegzunehmen, an dem dein Herz hängt.«
Karon nickte. Seine Hand senkte sich. Er berührte die Wunde, und als er auf seine Finger sah, klebte kein Blut mehr an ihnen. »Ich heile. Langsam, aber ich heile. Das Gift hat mich geschwächt.«
»Ich würde mir dennoch wünschen, dass du unsere beiden Retter einen Blick darauf werfen lässt.«
»Einverstanden.«
Ich neigte den Kopf zur Seite, musterte ihn eindringlich und schnappte ein Gefühl auf, das eindeutig nicht für mich bestimmt war. »Sie fehlt dir«, sprach ich dennoch aus. Solange wir miteinander sprachen, schien sich das Leben nicht weiter aus seinem Körper zu verabschieden. Ich hatte das Gefühl, meine Nähe wirkte sich positiv auf seine Genesung aus. »Was ist zwischen euch vorgefallen, während du fort warst?«
»Gar nichts.«
»Etwas muss sich verändert haben. Als du Syra auf der Lichtung begegnet bist, hättest du alles gegeben, um nicht mit ihr gehen zu müssen, und jetzt vermisst du sie?«
»Zehn Jahre stille Einsamkeit, Sehnsucht und Trauer können ein Herz verändern.«
»Auch ihres?«
»Ganz besonders ihres.« Karons Blick traf mich wieder. Diesmal lag etwas Entschlossenes darin, etwas Dunkles. »Wenn wir diese Welt verlassen, uns verwandeln und fliegen, gibt es nichts, was uns trennt. Ich habe in ihrem Kopf die Wahrheit gelesen. Ich weiß, dass sie mich an jenem Abend, als ich auf der Lichtung stand und verzweifelt versuchte, dem Bann zu entkommen, hätte aufhalten können. Sie würde es abstreiten, aber ich weiß, dass sie mich gehenließ. Sie machte den Zauber erst möglich, der mein Leben gerettet und mich von allen Zwängen freigewaschen hat. Sie gab mir die Freiheit wieder, die sie mir genommen hat.«
»Liebst du sie?« Ich stellte die Frage, und war mir bewusst, dass ich selbst noch niemals geliebt hatte, oder geliebt worden war. Im Grunde wusste ich nichts von der Liebe. Alles, was ich von ihr kannte, war die Trauer und der Schmerz, den sie hinterließ, wenn sie zerbrach. Aber Karon wusste es. In jedem Blick sah ich, dass er tiefer geliebt hatte und sehnlicher geliebt worden war, als viele andere Wesen Theremals, die nur ein einziges Leben besaßen. »Und liebt sie dich auch?«
»Als ich damals den Raben fand«, setzte der Dämon an, »und ihm in die Augen sah, wusste ich, dass es Schicksal war, ihm begegnet zu sein. An einem Ort, an dem ich nichts zu suchen hatte, und an den ich gar nicht gehen wollte - dort traf ich Syra zum ersten Mal. Ich pflegte sie gesund und vertraute darauf, dass sie wieder fliegen zu sehen, mir Frieden bringen würde.« Ein verträumter Ausdruck formte ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel. »Ich vergesse nie den Tag, an dem sie sich mir zu erkennen gab und zum ersten Mal in ihre sterbliche Form überging. Ich schloss sie in die Arme und wusste, sie war dazu bestimmt, die Frau zu sein, mit der ich die Ewigkeit verbringen würde. Und daran hat sich bis heute nichts verändert. Von allen Frauen, denen je mein Herz gehört hat, ist sie die Einzige, die es auch halten und besitzen konnte. Würde sie mich nicht lieben, hätte sie mich nicht gehenlassen, und nicht versucht, mich zurückzuholen. Ich habe es nicht gleich erkannt, aber als wir in diesen toten Wald flogen, und ich ihren Blick sah, wusste ich, weshalb sie mich zurückgeholt hatte.«
»Um dich zu beschützen..«
»Um uns zu bewahren. Wenn ich sie nicht retten kann, gibt es keinen Grund für mich, meinen Kampf fortzusetzen.«
»So darfst du nicht sprechen! Ich verbiete dir, so zu denken.«
Ein düsteres, kaltes Lachen, das mehr einem Knurren als tatsächlichem Gelächter ähnelte, entwich Karons Lippen. »Du verbietest es mir«, spottete er. »Ich bin eines der wenigen Wesen Theremals, das durch keinen Zauber zerstört werden kann, aber du verbietest mir, über ein Ende zu sprechen, das unausweichlich ist, wenn Therion siegt?«
»Aber er siegt nicht. Du kommst wieder auf die Beine, dann retten wir Syra und die Anderen. Und du wirst der Sieger sein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil er Syra nicht ohne Grund ausgewählt hat, um dir ein Messer in die Brust zu treiben!« Meine Finger zitterten plötzlich. Zum ersten Mal schien Karon etwas, das mir völlig klar war, einfach nicht zu sehen. Seine Schuldgefühle und die Überreste des Giftes in seinen Venen, vernebelten seinen Geist. Er sah den Wald vor lauter Bäumen nicht. »Er hat sich das einzige Wesen genommen, gegen das du nie die Hand erheben würdest. Und das bedeutet, er fürchtet dich. Therion ist dir in einem fairen Kampf nicht gewachsen. Ganz gleich, welche Macht du ihm zuschreibst, er weiß, dass er dir unterlegen ist. Wieso siehst du das denn nicht?«
Mein Kinn bebte. Ein Sturm aus Verzweiflung machte sich in meinen Gedanken breit. Ich wollte nach seinen Gefühlen tasten, ihn an meiner Zuversicht teilhaben lassen, aber Karon verschloss sich gänzlich vor mir. Nie zuvor war die Mauer um seine Gedanken herum so hoch und so stabil gewesen. Niemals hatte er mich dort weniger haben wollen, als jetzt. Er wollte aufgeben. Therion gewinnen lassen. Und offenbar hatte dieser gewusst, wie er Karon hart und effektiv treffen konnte. Nicht der Dolch oder das Gift hatten Karon in die Knie gezwungen, sondern die Menschen verloren zu haben, die ihm alles bedeuteten. Nun gab es nur mich. Nur den Trostpreis für meine tote Mutter.
»Du willst aufgeben?«, schlussfolgerte ich aus seinem Schweigen. Zäh wie Teer zogen sich die Worte. Ich wollte sie nicht sagen. Jedes Einzelne fühlte sich falsch an.
»Ich verblute«, entgegnete der Whyndrir ernst. »Jeder Krieger findet irgendwann einen, den er nicht besiegen kann. Was für ein Whyndrir wäre ich, wenn ich meinen Gefühlen nicht vertrauen würde?«
»Ich glaube nach wie vor an dich.« Aber meine Hoffnung schwand mit jedem seiner Worte. »Bitte, lass deine Wunde versorgen und dann schlaf etwas. Ich bin sicher, wenn du aufwachst, hat sich die Welt zum Besseren verändert.«
»Ja«, murmelte er und ließ die Barrikade in seinem Kopf ein Stück weit zusammenfallen. »Vielleicht hast du Recht.«
»Natürlich habe ich das. Du bist krank. Alles wird anders sein, wenn du dich besser fühlst. Und ich bleibe hier. Du kannst ohne Sorgen schlafen, und wenn du aufwachst und sie nicht verschwunden sind, helfe ich dir, sie fortzujagen.« Auch wenn er es nicht wollte, auch wenn er um seine Seele und meine Sicherheit fürchtete, hob ich die Hand und berührte seine kurz. »Aber unter gar keinen Umständen sehe ich dabei zu, wie du dir die Schuld an Therions erfolgreichem Hinterhalt oder dem Zurückbleiben unserer Freunde gibst. Wir stehen das durch. Zusammen. Versprich es mir.«
Obwohl sich nichts verändert hatte, war plötzlich alles anders. Karon ließ langsam aber bestimmt die Mauer zerschellen, die zwischen uns lag. Seine Finger schlossen sich um meine. Es kümmerte ihn nicht mehr, dass der Whyndrir danach lechzte, sich an mir zu laben, um seine eigene Schwäche auszugleichen. Für den Moment war er stark genug, um das finstere Wesen zu bändigen.
»Hier in diesem Wald«, sagte Karon schwer, »haben Anvarni und Letia, die alten Götter von Licht und Dunkel ihren Pakt besiegelt, Theremal im Gleichgewicht zu halten.« Seine Finger strichen über ein paar hochgewachsene Grashalme hinweg. »Ich spüre ihre Füße, die vor tausenden von Jahren über diesen Boden gelaufen sind. Wir befinden uns an einem heiligen Ort.«
»Hast du uns deshalb hergebracht?«
»Vielleicht«, überlegte der Whyndrir laut. »Es war keine bewusste Entscheidung. Ich wollte nur fort von Therion. In Sicherheit sein. Um ein Haar hätte ich uns nach Nejdra, in meine dämonische Heimat gebracht. Aber dieser Ort war näher.«
»Du kannst Orte aufspüren, an denen Götter waren?«
Ein kleines, aufbauendes Zucken deutete ein Lächeln auf den Lippen meines Gegenübers an. Er versuchte es, aber es reichte noch nicht aus. Und doch war unter all dieser Verwirrung und hinter dem Kummer erstmals wieder der Mann zu erkennen, als den ich Karon stets empfunden hatte: ein Kind des Lichts, gefangen in einer dämonischen Hülle. Seine Stärke ruhte in seiner Ruhe, seinem Humor, seiner unendlichen Geduld und dem Vertrauen in all die kleinen Dinge, die nur er fühlen konnte. Seine Zuversicht hatte uns an diesen Ort und in Sicherheit gebracht.
»Ich denke schon«, entgegnete er. »Ich kann sie vor mir sehen. Sie waren barfuß. Auch wenn sie ausgesehen haben, wie Mann und Frau, waren sie so viel mehr. Tag und Nacht. Licht und Dunkel. Sonnenschein zwischen den Zweigen. Sonne und Mond.« Gedankenverloren schloss er die Augen und reckte das Gesicht dem silbernen Mondlicht entgegen. »Ich kann Götter fühlen«, murmelte er, mehr zu sich selbst, als zu mir.
Ihm beim Entdecken seiner neuen Whyndrir-Fähigkeiten zuzusehen, erinnerte mich an ein Kind, das laufen lernte. Die Geheimnisse seines Lebens nach Syras Fluch waren gewaltig. Sie warteten ungeduldig darauf, von ihm gelüftet zu werden.
»Ich bin sicher, dass Therion niemandem etwas tun wird, solange du in Freiheit bist. Und ich weiß, du findest einen Weg, um ihm Einhalt zu gebieten. Ich würde das nicht sagen, wenn ich nicht überzeugt davon wäre.« Ich nutzte seinen Stimmungswandel für einen letzten Versuch, etwas Licht in sein Dunkel zu bringen und diesmal fruchteten meine Bemühungen.
Mit einem Nicken bekräftigte der Dämon alle meine Aussagen und lehnte sich langsam an den Baumstamm zurück. »Du hast Recht. Bitte verzeih mir. Ich bin müde und ausgelaugt. Und offenbar ist es manchmal nötig, mich in die Schranken zu weisen. Du hast viel mehr von deiner Mutter in dir, als ich anfangs erkennen wollte. Als ich damals am dunkelsten Punkt meines Lebens angelangt war, hat sie mich mit ähnlich bedeutsamen Worten, auf den richtigen Pfad zurückgeführt.«
»Und sie hatte Recht.«
»Ja, das hatte sie wohl. Sie war eine wunderbare Frau, und sie wäre dir eine wundervolle Mutter gewesen. Und jetzt fühlt es sich beinahe an, als wäre sie durch dich noch bei mir. Immer da, um im entscheidenden Augenblick die richtigen Worte zu finden. Das ist eine Gabe, Erias.«
Seine Worte erfüllten mich mit Ehrfurcht. »Danke. Möchtest du jetzt alleine sein?«
»Nein«, erwiderte Karon ernst. »Bleib. Wider meine Vernunft habe ich das Gefühl, es hilft mir, von dir verstanden zu werden.«
»Der Whyndrir mag es nicht«, vermutete ich.
»Ja. Sag den beiden Füchsen bescheid. Ich werde mich verbinden lassen, wenn sie behutsam vorgehen.«