„Pscht!“ zischte Camilla, die die geübteren Ohren hatte. Jo verharrte regungslos hinter ihr. Langsam ging Camilla in die Knie und zog Jo mit sich in die Deckung eines Busches, der in die Form eines Hirsches geschnitten war.
Beide hielten ängstlich den Atem an. Dann hörte Jo es auch: Schwere Schritte näherten sich, knirschten auf dem weißen Kies. Nur Herzschläge später bogen drei oder vier schwerbewaffnete Polizisten um eine hohe Hecke herum. Hätte Camilla sie nicht rechtzeitig gehört, wären sie beide entdeckt gewesen.
Der grelle Strahl einer Taschenlampe schnitt durch die Nacht und glitt über ihr Versteck hinweg. Das Licht blendete Jo. Sie glaubte schon, man hätte sie entdeckt. Viel zu wenig Schutz boten die dichten Blätter vor den wachsamen Augen!
Doch die vier Polizisten trampelten an ihnen vorbei. Jos Herzschlag ging schnell wie die Flügel eines gefangenen Vogels. Camilla dagegen war vollkommen ruhig und konzentriert, wie ein Tiger auf der Jagd. Sie wartete, bis die Polizisten um eine weitere Ecke außer Sicht gerieten. Dann zog sie Jo leise aus ihrer Deckung und hastete mit ihr durch das Labyrinth aus Hecken.
Sie flohen durch die weitläufige Parkanlage der Villa, in die sie eingebrochen waren. Camilla und Jo trugen jeweils einen gefüllten Sack mit Vorräten über der Schulter wie zwei kleine, dürre Weihnachtsmänner. Es regnete leicht und der Rasen war rutschig. In jeder Kurve drohte Jo, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie rannten beide, so schnell sie konnten.
Überall blitzen Taschenlampen auf oder ertönten Rufe. Irgendjemand hatte ihren Einbruch bemerkt, oder einer der Eingeweihten sie sogar verraten. Camilla fluchte unablässig, so unachtsam gewesen zu sein. Sie hatten die Polizisten erst bemerkt, als diese die Villa bereits umzingelt hatten. Jetzt schlichen sie sich durch die weitläufigen Reihen der Suchtrupps.
Auf der Flucht.
Die Worte, die für Jo immer so glorreich geklungen hatten, für sie als einzige aus ihrem Freundeskreis. Jetzt keuchte sie, rutschte durch den Schlamm und bangte um ihr Leben. Nicht, was sie sich erträumt hatte.
Camilla jedoch war mehr und mehr in ihrem Element. Sie zog Jo mit sich, sprang über niedrige Hecken oder duckte sich mit ihr unter Trauerweiden her. Sie wurden langsamer, huschten über einen dunklen Platz, durch ein Kräuterbeet und hinter ein Gartenhäuschen. Dann um noch eine Biegung, und vor ihnen lagen die weiten Wiesen, die das Haus umgaben. Doch die Freiheit täuschte. Es war ein groß angelegter Golfplatz, und sie würden erst noch einen hohen Zaun überwinden müssen. Zwischen ihnen und dem letzten Hindernis lagen zwei-, vielleicht dreihundert Meter offenes Gelände.
Camilla hielt in der Deckung an und zog die Fernbedienung für ihr Airboard aus der Tasche. Es wurde von den Polizisten bewacht, sie hatten es gleich als erstes beschlagnahmt, doch Camilla hatte mit einer solchen Situation gerechnet. Irgendwo im Labyrinth entwickelte sich plötzlich eine Stichflamme, Polizisten schrien auf und ließen das brennende Airboard ziehen. Leider zog die Fackel, auch wenn sie fast sofort wieder verlöschte, eine Spur aus Rauch hinter sich her.
Sämtliche Spezialeinheiten folgten dem Board. Von überall her näherten sich Stimmen und Schritte.
„Lauf!“ zischte Camilla und zog Jo vorwärts. Sie gaben ihre Deckung auf und rannten, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her. Was in gewisser Weise auch stimmte. Sollte man sie erwischen, wartete sicherlich die Hölle auf sie beide.
Die beiden jungen Frauen rutschten und schlitterten über den Golfplatz, in einem Tempo, das kein vernünftiger Mensch auf so unsicherem Grund benutzt hätte. Hinter ihnen krachten Schüsse, doch noch waren die Spezialeinheiten nicht in der Lage, ein richtiges Schussfeld aufzubauen.
Trotzdem drohten Jos Beine vor Angst unter ihr nachzugeben. Nur Camillas Hand, die sie eisern vorwärts zog, hielten sie im Rennen.
Der Zaun kam immer näher, hoch und mit engen Maschen, die Jo nie im Leben würde hinauf klettern können. Ganz oben eine Rolle Stacheldraht. Ein unüberwindbares Hindernis.
Camilla warf einen Blick über die Schulter und hetzte Jo, noch schneller zu laufen. Gleich würden die Polizisten also freies Feld haben. Jo fragte sich, warum sie nicht schon längst aufgegeben hatten. Es war doch sinnlos!
Ein Maschinengewehr begann zu rattern. Die Schüsse warfen Erde auf und waren gut zu sehen. Sie näherten sich in einer Linie von der Seite, noch zehn Meter entfernt, fünf, zwei, einen...
Ein Schatten kam aus der gleichen Richtung herbei, flog knapp über dem Boden, sodass Jo ihn fast übersah. Doch Camilla zog sie nach oben, in einen überraschenden Sprung, während die nächsten kugeln dort in den Boden schlugen, wo ihre Füße grade noch gewesen waren.
Nur einen halben Meter über dem Boden trafen Jos Füße auf einen Widerstand. Beinahe wäre sie gefallen, doch Camilla hielt sie im Gleichgewicht. Sie standen auf dem Airboard.
Reflexartig umklammerte Jo ihren Beutel voller Essen, und mit dem Gewicht als Ausgleich konnte sie tatsächlich stehen bleiben – bis das Airboard in eine scharfe Kurve ging und plötzlich nach oben schoss, über den Zaun hinweg und auf die Sterne zu.
Wie immer hielt Camilla das Board, Jo und jetzt auch noch den Beutel irgendwie zusammen. Jo klammerte sich an Camilla und bekam mit jedem Meter mehr Höhenangst. Unter ihnen fluchten die Polizisten, deren Motorräder weit entfernt standen.
Camilla atmete erleichtert aus und begann dann zu lachen.
Jo grinste ebenfalls, obwohl ihr Gesicht langsam grün wurde. „Noch nie was davon gehört, dass man nach dem Essen nicht rennen soll?“ fragte sie grinsend.
„Wieso? Man muss die Kalorien doch loswerden!“ antwortete Camilla.
Der kalte Nachtwind peitschte ihnen Regen ins Gesicht, und sie flogen, so schnell das Airboard konnte, weiter, aus der Reichweite der Polizisten, außer Sicht und außer Gefahr.