Während Camilla wie eine leblose Puppe über dem Meer hing, rutschten die Handschellen langsam von dem Handgelenk des Polizisten. Er hatte die Eisenringe absichtlich nicht eng gemacht, und dass würde ihm jetzt das Leben retten.
Camilla verspürte keine Angst. Nicht, weil sie besonders mutig war, sondern weil das Betäubungsmittel sie zu sehr lähmte. Es verhinderte, dass Adrenalin ausgeschüttet wurde, damit sich die Gefangenen nicht wehren konnten. Früher, bevor man die Formel verbessert hatte, war es ein paar Kriminellen gelungen, die betäubende Wirkung abzuschütteln und zu fliehen.
Doch jetzt konnte Camilla nur unbeteiligt im Tod schweben und zu dem Silentkopter hinauf sehen. Die Rotorblätter standen in Flammen, Rauch stieg als dicke Wolke in den klaren Himmel.
Camilla spürte die Hitze auf ihrer Haut. Sie versengte ihr die Augenbrauen und nahm ihr fast den Atem. Aber ihr Herzschlag wurde nicht ein bisschen schneller. Sie blinzelte langsam. Es war wie ein Alptraum.
Jo dagegen hatte sehr wohl Angst, panische Angst. Sie kauerte auf dem Airboard und umkurvte den Silentkopter in halsbrecherischer Geschwindigkeit. Die Doppelläufe von Maschinengewehren waren in den dichten Rauch gerichtet. Hustend und sich eine Hand vor den Mund halten, gab sich Jo alle Mühe, keine Zielscheibe abzugeben.
Eine kurze Gewehrsalve durchfetzte den Nebel. Die Schüsse krachten laut, aber Jo konnte nicht sagen, wie nah ihr die Kugeln gekommen waren. Und ob es Betäubungspfeile oder echte Kugeln waren.
Sie lehnte sich zu weit vor und das Board stürzte in die Tiefe. Jo schaffte es beinahe, sich in dem größten Rotor des Silentkopters zu zerstückeln, doch im letzten Moment konnte sie das Board in eine Rolle bringen, und sich selbst damit außer Gefahr.
Hätte sie längere Haare gehabt, würden jetzt einzelne Strähnen auf das Meer fallen.
Jo keuchte laut vor Angst. Ihr Atem ging flach und schnell, als wäre sie kurz vorm Hyperventilieren. Dunkle Flecken tauchten vor ihren Augen auf und sie hustete durch den Rauch. Doch der Gedanke an Camilla trieb sie zu neuen Höchstleistungen.
Sie warf das letzte Metallrohr von den dreien, die sie unterwegs auf einem weiteren Fabrikgelände aufgesammelt hatte. Auch dieses verkantete sich schnell in dem großen Rotor. Jetzt verlor der Silentkopter seinen letzten Antrieb. Etwas explodierte direkt am Motor und die Druckwelle schleuderte Jo von dem Kopter fort. Sie brachte das Board irgendwie unter Kontrolle und sah einen dunklen Schemen, der aus dem Silentkopter auf das Meer zu fiel.
Der letzte Ruck löste die Handschellen vollständig vom Arm des Polizisten. Camilla spürte kaum, wie sie fiel, doch sie sah das entsetzte Gesicht ihres Beschützers kleiner werden. Erst dann wurde ihr klar, dass sie soeben ihre letzten Atemzüge angetreten hatte. Wie in Zeitlupe nahm sie den Fall wahr. Sie drehte sich leicht in der Luft und erhielt einen wunderbaren Blick auf den Sonnenuntergang über dem stillen Meer. Ein lauter Knall drang gedämpft an ihre Ohren. Die letzte Explosion hatte etwas entzündet und das ganze Silentkopter löste sich in einem Flammenball auf. Die Hitze der Explosion erreichte sie fast, aber sie fiel innerhalb von Sekundenbruchteilen aus der Gefahrenzone.
Langsam fühlte sie, wie sie sich auf den Rücken legte. Sie versuchte, nicht an den Aufprall aus das Meer zu denken. Aus dieser Höhe gab es keinen Unterschied zwischen Wasser und festem Boden. Um sie herum begannen Wrackteile des Silentkopters wie Regen niederzugehen. Einige brannten sogar noch. Immer noch konnte sie nur blinzeln und ihr Schicksal ertragen.
In diesem Moment kam ein Schatten in ihr Blickfeld. Camillas Herz machte einen Satz, als sie Jos vor Konzentration zusammengekniffenes Gesicht erkannte. Die großen, blauen Augen gegen den Rauch zusammengekniffen, die kurzen Haare unter der Mütze angekohlt vom Feuer.
Jo lehnte sich nach vorne, brachte das Airboard in einen Sturzflug und wurde im Fallen noch schneller als Camilla. Im nächsten Moment war das Mädchen neben ihr, umschlang mit einem Arm ihre Hüfte und zerrte sie so gut es ihr möglich war auf das Airboard.
Dann verstärkte sich der Druck des Brettes in Camillas Rücken, und der Horizont lag plötzlich neben ihr. Jo hatte das Board in eine Kurve gebracht. Mit dem Schwung aus dem Sturzflug rasten sie hoch über den Wellen dahin, während der Silentkopter – beziehungsweise seine brennenden Überreste – in das Meer stürzten.
Jo hielt Camilla fest umklammert, obwohl die Ältere von dem Brett zu rutschen drohte. Camilla, die keinen Finger rühren konnte, spürte trotzdem, wie ihr Herz höher zu schlagen begann. Das erste Anzeichen dafür, dass die Betäubungspfeile bald aufhören würden, zu wirken.
Jo biss die Zähne zusammen und lenkte das Board schwankend auf einen Kurs zurück zu den Klippen.
Camilla betrachtete mangels einer Wahlmöglichkeit, den blauen Himmel über sich.