Es dauerte, bis Jo das Airboard endlich wieder unter Kontrolle bringen konnte. Sie blinzelte sich die Tränen aus den Augen und sah auf den Horizont. Die Fabrik war so grade eben noch zu erkennen, ebenso der Hubschrauber, der sich jetzt in die Luft erhob. Jo zitterte am ganzen Leib. Nicht nur, weil sie grade knapp der Gefangennahme entkommen war, und weil sie auf dem Airboard trotz ihrer Höhenangst viele Meter in der Luft schwebte. Sondern, weil Camilla entführt war, und ihre eigene Hilflosigkeit sie wütend machte.
Ihr Herz schlug wie wild, als wollte es aus ihrer Brust springen und hinter Camilla her. Jo klammerte sich an dem Board fest und lehnte sich versuchsweise nach vorne. Sofort machte das Airboard einen Satz nach hinten und stieg dann plötzlich in die Luft. Jo gab einen Angstschrei von sich und richtete sich auf. Mit ein bisschen probieren konnte sie das Airboard davon abhalten, wie ein bockendes Pferd durch die Luft zu tanzen. Sie keuchte noch immer vor Schreck und spürte Tränen auf ihren Wangen, die der kalte Wind trocknete.
Sie war oft genug mit Camilla auf dem Airboard gewesen, um wenigstens ein leichtes Gespür für die Steuerung zu erhalten, und als sie sich ein wenig mutiger nach vorne lehnte, glitt das Board in die richtige Richtung vorwärts. Jo zitterte vor Angst und bemühte sich, nicht nach unten zu sehen. Sie war irgendwo über einem kleinen Wäldchen und redete sich ein, die kahlen Bäume würden ihren Sturz abfangen. Sie versuchte, sich mit ruhigem Atmen zu beruhigen, doch ein tief sitzendes Zittern machte ihr Vorhaben unmöglich. Trotzdem trieb sie das Airboard weiter vorwärts, zurück auf die Fabrik zu.
Für die Polizisten war sie unwichtig, kein bekannter Störenfried oder etwas in der Art. Man hatte sie also nicht erkannt. Ungeschickt, aber wild entschlossen, näherte sich Jo dem Gelände, wo jetzt schließlich der Silentkopter geräuschlos aufstieg. Das schlanke, silberne Gerät glitzerte in der Morgensonne. Jo spürte, wie sich ihre Atmung wieder beschleunigte. Wie sollte sie den Silentkopter einholen? War das Airboard überhaupt schnell genug? Und könnte sie es so schnell lenken?
Die sechs Rotorblätter des Fluggerätes richteten sich den Luftgegebenheiten entsprechend aus. Jo erkannte die Bewegung, sie hatte sie oft genug studiert. Der Silentkopter flog nur langsam, also achteten die Polizisten besonders auf dessen Stabilität. Jo war sich ziemlich sicher, dass ihr Weg sie zum Meer führen würde, und zu den unberechenbaren Winden, die an der Klippe herrschten. Sie biss sich auf die Unterlippe und lehnte sich nach links, um das Airboard in eine Kurve zu kriegen.
Sie musste Camilla um jeden Preis retten! So schnell ihr Herz auch schlug, sie beschleunigte und nahm die Abkürzung in Richtung Meer, während der Silentkopter noch das schwierige Wendemanöver flog.
Jos Gedanken kreisten um Camilla.
Sie hatte die Augen geöffnet und konnte ab und zu blinzeln. Die Betäubungspfeile machten fast jede andere Bewegung unmöglich. Trotzdem nahm sie alles wahr, was um sie herum geschah.
Besonders die schmutzigen Witze der Polizisten, die ihren bewegungsunfähigen Körper im Silentkopter bewachten. Ihr Rock war ein wenig hochgerutscht, als man sie in den Laderaum verfrachtet hatte, und jetzt wünschte sie sich nicht mehr, als wenigstens eine Hand bewegen zu können.
Aber sie konnte nur auf dem Boden liegen, sich von den schaukelnden Bewegungen des Silentkopter hin- und herwerfen lassen und den Polizisten zuhören.
Sie verfluchte sich dafür, so dumm gewesen zu sein. Natürlich hatte man die Fabriken in der Nähe überwacht, und natürlich würden die Polizisten sie sofort erkennen. Immerhin war ihre Flamme als Symbol der Revolution überall bekannt, und ebenfalls auf dem Airboard abgebildet.
Was sie zu Jo brachte. Wenigstens das Mädchen hatte sie retten können. An diese Hoffnung musste sie sich klammern, obwohl sie ihr viel zu viele Bilder in den Kopf drängten, wie Jo von dem Airboard fiel, oder doch von den Polizisten eingeholt wurde.
Camilla war nicht sonderlich religiös (damit hatte sie schlechte Erfahrungen gesammelt), aber sie war wirklich versucht, für Jos Sicherheit zu beten.
Jemand kam mit Handschellen und befestigte einen Ring an Camillas, einen an seinem Arm.
„Lasst unsere Gefangene in Ruhe!“, befahl er den anderen Männern. „Sie wird ihre gerechte Strafe schon noch erhalten.“
Camilla fand es ziemlich übertrieben, jetzt schon an einen Polizisten gefesselt zu werden. Andererseits schien es sich um einen ziemlich auf Regeln bedachten Illusionisten zu handeln. Sie konnte das Gesicht ihres Beschützers nicht erkennen, weil sie den Kopf nicht drehen konnte. Aber der Stimme nach war er viel zu jung für das Eliteteam.
In diesem Moment durchfuhr ein harter Stoß den Silentkopter und der Pilot fluchte ausgiebig. Entsetzt spürte Camilla, wie sich das Fluggerät zur Seite neigte und sie – unfähig, sie irgendwo festzuhalten – auf die Luke zu rutschte. Nur die Handschellen hielten sie noch davon ab, auf die dünne Metallwand und eventuell dort hindurch in die Tiefe zu stürzen.
Ihr Herzschlag blieb durch das Beruhigungsmittel gleichmäßig langsam, aber eigentlich hatte sie furchtbare Angst. Sie waren irgendwo über dem Meer. Ein Sturz wäre ihr sicherer Tod!
Und schon wieder gab es einen Ruck. Anscheinend blockierte etwas die einzelnen Rotoren des Silentkopters.
Schade, dass sie Jo nicht wiedersehen würde.