Jo erzählt:
Mein voller Name lautet Joannika Katrabell Tourickson. Ja, ich bin in der Oberstadt aufgewachsen. Ich gehöre zu genau den Leuten, die du eigentlich bekämpfst. Und je mehr ich erfahren habe, desto mehr schäme ich mich für das, was ich bin.
Meine Eltern waren reich, selbst für Oberstadt-Verhältnisse. Wir waren vier Geschwister, zwei Jungen und zwei Mädchen. Ich war die Jüngste. Alle vier haben wir eine gute Schule besucht, zwölf Jahre haben wir in einem Internat zugebracht. In dieser Zeit haben unsere Eltern noch einmal gewaltig Karriere gemacht. Mein Vater war ein einflussreicher Politiker. Meine Mutter eine angesehene Geschäftsfrau.
Wir Kinder durften keinen Fehler machen. Der jüngere Bruder hat einmal, in seiner siebten Klasse, die Hausaufgaben vergessen. Es gab furchtbares Theater. Meine Eltern konnten mit viel Glück verhindern, dass er von der Schule flog. Das alles sagt dir vielleicht nicht viel, aber das war der Tag, von dem an ich mich dort fremd fühlte.
Die Oberstadt, das Leben dort, der beständige Kampf um die besten Noten... das alles begann, mich anzuwidern. Natürlich hielt ich still, ich war dreizehn. Aber trotzdem ließen meine Leistungen nach. Ich wurde zur Nachhilfe geschickt, und dort wartete die nächste Überraschung: Nachhilfe war nicht dazu da, mir den Stoff besser beizubringen. Es war vielmehr eine unauffällige Gehirnwäsche. Die schlechten Schüler sollten wieder „systemkompatibel gemacht“ werden.
Ich brauchte eine Weile, um den Trick zu durchschauen. Den meisten Schülern dort fiel es nicht auf. Ich konnte deutlich sehen, dass sie sich mehr und mehr in Maschinen zu verwandeln drohten. So wollte ich nicht enden.
Ich lernte in dieser Zeit schauspielern. Ich täuschte die Psychologen, und wurde mit guten Noten aus der Nachhilfe entlassen. Ich wusste, das mein Leben davon abhing, dass ich wie eine Musterschülerin auftrat, also arbeitete ich hart für die Schule. Doch wenn mich niemand bewachte – es waren sehr seltene Gelegenheiten, immerhin war ich schon einmal auffällig geworden – studierte ich die Geschichte der Oberstädte. Ich begann, mich für die Ungerechtigkeiten in den Unterstädten zu interessieren. Ich fand Dokumente über frühere Gesellschaftssysteme.
Als meine Schwester, die Älteste von uns Vieren, schließlich die Schule abschloss, begann ich zu schwanken. Ich merkte, dass ich gegen den Staat ermittelte, ich begann, mich in Gefahr zu bringen.
Ich stand kurz davor, meine Notizen zu verbrennen und das alles zu vergessen. Ich gefährdete auch meine Familie!
Doch dann kam es zur Berufswahl meiner Schwester. Es kam ein Brief der Regierung, der ein paar Stellen für sie empfahl. Meine Schwester wollte Ärztin werden und Menschen helfen. Doch die beste Stelle in den Vorschlägen war eine Stelle für Werbeschreiberinnen. Die Frauen und Männer, die uns sagten, wie gerecht und klug unsere Welt ist. In den Oberstädten kann man keine zwei Schritte gehen, ohne deren Lügen ins Gesicht geklatscht zu bekommen.
Meine Eltern wollten diese Stelle, und meine Schwester hatte keine Wahl, als sich zu fügen. Ich sah, wie traurig sie loszog, um fortan bis zur Rente als Werbeschreiberin zu arbeiten. Das machte mich wütend genug, um weiter zu suchen. Ich sah, wie meine älteren Brüder ein ähnliches Schicksal erlitten. Ich wurde hektisch mit der Suche, denn mein eigener Schulabschluss rückte näher, und ich hatte keinen Plan, wie ich meiner eigenen Arbeitsstelle entkommen konnte.
Ich fand nichts, das mir geholfen hätte, ich machte mein Abitur und schließlich kamen die Vorschläge. Es war nur einer, und der hatte es in sich. Ich sollte für die Regierung arbeiten, Abteilung Schutzbehörde. Das sind die Menschen, die uns hier auch jagen, Polizisten, die darauf achten, dass keine Unterstädtler in die Oberstadt kommen.
Ich wusste, als ich den Brief las, dass meine Forschungen aufgeflogen waren. Ich wurde von Polizisten abgeholt, und es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mich in Ketten zu meiner neuen Arbeitsstelle transportiert hätten.
Ich sollte ein spezielles Training erhalten und mich der Elite anschließen. Ich war mir sehr sicher, dass dieses „Training“ eine neue Gehirnwäsche wäre. Eine wirkungsvollere als die erste.
Also ergriff ich die erste Gelegenheit zur Flucht. Ich absolvierte die Gehirnwäsche, ohne auffällig zu werden. Ich wurde zur Spionin ausgebildet und schließlich auf dich angesetzt. Alle dachten, dass ich gebrochen wäre.
Die inszenierte Flucht, bei der ich dich getroffen habe, war beinahe wie ein Geschenk. Mir war es erlaubt, zu fliehen, ja, sogar befohlen worden. Ich sollte deine Pläne in Erfahrung bringen und sie verraten. Ich habe mein Telefon fort geschmissen und mich nie wieder gemeldet.
Ich verdanke dir sehr viel, Camilla. Du hast mich gerettet, und du hast mir bewiesen, dass meine Flucht sinnvoll war.