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Kapitel 8
Der Pazifik bei Nacht
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Dass sich zwei Stunden so unendlich lang anfühlen können, hätte ich nie zu denken gewagt. Doch es ist nicht die Zeit, die mich am meisten stresst. Es ist die Nähe zu dem unerreichbaren Ozean, die an meinen Nerven zerrt. Obwohl ich ganz genau spüren kann, dass wir dem Wasser nah sind, merke ich umso deutlicher, dass wir uns gerade wieder davon entfernen. Ich verstehe es nicht. Wir wollten doch zum Strand, wieso fährt der Bus jetzt wieder in eine andere Richtung?
Mit verschränkten Armen sehe ich aus dem Fenster, viel erkenne ich allerdings nicht, es ist zu dunkel draußen. Nervös trommle ich mit den Fingern gegen meinen Oberarm. Vor Anspannung beiße ich leicht auf meine Unterlippe. Meine Nervosität nimmt immer mehr Überhand. Irgendetwas stimmt nicht. Vielleicht fährt der Bus doch nicht zum Meer. Vielleicht fahren wir ganz wo anders hin. Ungewissheit und Nervosität sorgen dafür, dass meine Laune immer weiter sinkt. Alles, was ich wollte, war eine Nacht im Wasser zu verbringen. Wird mir das nun doch verwehrt?
Zu meinem Glück ist Killian sehr aufmerksam. Er bemerkt, dass ich mich nicht wohlfühle. Ich spüre seine warme Hand an meinen Fingern, sie bringt mich dazu, meine Finger wieder stillzuhalten. „Ist alles in Ordnung, Ilaria?“
Ich lächle Killian gequält an. „Die Nähe zum Wasser macht mich nervös. Ich kann an nichts anderes mehr denken.“
„Es wird nicht mehr lange dauern. Halbe Stunde ungefähr.“
„Eine halbe Stunde? Ich verstehe das nicht. Wir waren schon so nah am Wasser, wieso entfernen wir uns jetzt wieder davon?“, frage ich nach. Ich kann deutlich hören, wie flehend meine Stimme klingt. „Erst fahren wir fast schon am Strand entlang und jetzt fahren wir wieder weg, das ergibt keinen Sinn.“ Killian verengt seine Brauen. Er seufzt und legt seinen Arm um meine Schultern, um mich an sich zu drücken.
„Wir fahren die Straße entlang. Die ist so gebaut worden. Ich verspreche dir, dass wir nach wie vor auf dem Weg zum Strand sind, auch wenn es sich vielleicht nicht so anfühlt“, erklärt Killian einfühlsam, doch ich kann mich schwer auf seine ruhige Stimme konzentrieren. Alles, was mich interessiert ist das Wasser. Die zusätzlichen Einflüsse, wie die Stimmen der anderen Menschen und der Lärm der Fahrt erschweren es mir zusätzlich, mich zu fokussieren.
„Wieso können wir nicht stehen bleiben und an diesen Strand gehen?“
„Wir sind bald da, versprochen. Und dann hast du die ganze Nacht Zeit“, verspricht Killian mir. Er streicht über meinen Oberarm. Ich lehne meinen Kopf gegen seine Schulter und atme tief durch. „Du kannst die Nähe zum Meer also spüren?“
„Ja“, stimme ich ihm zu. „Ich spüre generell, wenn ein großes Gewässer in der Nähe ist. Es ist wie eine Art Anziehungskraft. Diese Fähigkeit hilft meinem Volk ein neues Gewässer zu finden, falls wir auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind.“
„Erzähl mir mehr“, bittet Killian mich. „Erzähl mir alles, was dich im Moment beschäftigt.“
„Alles?“, frage ich schmunzelnd. „Du willst alles wissen?“
„So kann ich es am besten verstehen und am besten helfen“, sichert Killian mir zu.
„Im Moment fühle ich mich…“ Es dauert, die richtigen Worte zu finden, also schweige ich einige Sekunden. „Ich habe unendliches Verlangen. Kennst du das Gefühl, wenn etwas, dass du wirklich unbedingt brauchst oder haben möchtest direkt vor deinen Händen liegt, aber du es nicht erreichen kannst? Es quält mich zu wissen, dass das Meer da draußen ist, ich aber nicht darauf zugehen und mein Verlangen stillen kann. Je intensiver ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, desto schwerer fällt es mir, mich zu konzentrieren. Alles, was im Moment zählt, ist das Wasser.“
Killian zögert für einen Moment, wahrscheinlich, falls ich doch noch etwas sagen möchte, doch dann antwortet er: „Das… klingt unangenehm.“
„Ist es. Sehr sogar.“
Der Mensch nickt. Er schweigt einen weiteren Moment, er wirkt als wäre er vollkommen in Gedanken. Seine Hand streicht über meinen Oberarm, doch dann drückt er mich etwas. „Ich würde gerne etwas ausprobieren“, schlägt er vor. „Vielleicht kann ich dich ablenken. Schaden kann der Versuch nicht, oder?“
Ich richte mich auf und sehe ihn an. Killians Blick zeigt mir, dass er zuversichtlich ist. „Was möchtest du denn ausprobieren?“
„Ich würde dir gerne etwas zeigen.“
„Was denn?“, hake ich weiter nach, da mir Killians Antwort nicht klar genug ist.
„Gib mir einen Moment.“
Der Mensch lächelt mich an, er nimmt außerdem seinen Arm von mir. Aus der Tasche seiner Jacke holt er sein Smartphone. Neugierig sehe ich auf Killians Hände. Etwas umständlich, da es in dem Bus doch recht eng ist, wenn man eine Tasche und einen Rucksack bei sich trägt, zieht er noch etwas hervor. Neugierig betrachte ich die schwarze Schnur, die er nun in der Hand hält.
„Was ist das?“, frage ich nach und fasse die Schnur an. Das Material kommt mir sofort bekannt vor. Die schwarzen Seile an Killians Bildschirm, dem Bildschirm, der auf seinem unordentlichen Tisch steht, sind aus demselben Material, nur viel dicker. Bei genauerer Betrachtung stelle ich fest, dass die Schnur drei Enden hat. An zwei dieser Enden sind runde Dinger befestigt.
„Das sind Kopfhörer“, erklärt Killian mir und deutet auf eben diese runden Dinger. Ich nicke. An dem dritten Ende ist ein spitzes, metallisches Ding, das Killian nun in seine Finger nimmt. Durch eben dieses Ding befestigt er diese Kopfhörer an oder besser gesagt in seinem Smartphone. Während er das tut, erklärt er weiter: „Du weißt doch noch, dass man sich mit dem Smartphone Musik anhören und Videos ansehen kann, oder?“
„Mhm“, antworte ich nickend.
„Die Kopfhörer sind dafür eine praktische Sache. Man steckt das Kabel hier rein und dann kann man mit dem Smartphone Musik oder ein Video abspielen. Musik und Ton kommen dann hier aus den Kopfhörern.“ Killian sieht zu mir auf, unsere Blicke treffen sich. Mit einem Lächeln nimmt er einen der Kopfhörer aus meiner Hand und steckt ihn sich ins Ohr. „Du nimmst den anderen.“
Ich sehe den Kopfhörer in meiner Hand an, nicke dann und ahme das nach, was ich gerade bei Killian beobachtet habe. Der Kopfhörer fühlt sich etwas seltsam in meinem Ohr an, doch daran kann ich mich gewöhnen. Neugierig warte ich nun darauf, was Killian mir wohl zeigen möchte.
Killian bedient sein Smartphone mit einigen Berührungen, kurz darauf legt er seinen Arm wieder um mich. „Sag mir, falls es zu laut sein sollte.“
„Das mache ich.“
„Ich hoffe, dass dir das gefällt.“ Irgendwas an Killians Stimme ist gerade seltsam, doch ich lasse mich auf seine Idee ein. Mehr bleibt mir ohnehin nicht übrig, außerdem bin ich zu neugierig, um nein zu sagen.
Auf dem Bildschirm des Smartphones erscheint eine Katze, aus den Kopfhörern ist das Miauen dieser Katze zu hören. Gespannt sehe ich das Tier auf dem Bildschirm an. Die Katze scheint auf einem Bett zu stehen. Ihr Blick ist in die Richtung einer Fensterbank gerichtet. Ein weiteres Miauen erklingt aus meinem Kopfhörer. Es sieht so aus, als würde die Katze sich sprungbereit machen. Natürlich erwarte ich, dass sie auf die Fensterbank springt, doch sie hat zu wenig Kraft, zu wenig Schwung und fällt mitten in der Bewegung zu Boden. Eigentlich sollte man darüber nicht lachen, aber dennoch tue ich es. Die Katze sah zu komisch aus. Auch Killian lacht leise. Ich richte meinen Blick für einige Sekunden zu ihm. Er ist auf das nächste Video konzentriert. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht zeigt, dass auch Killian Spaß daran hat, Katzen zu beobachten.
„Das war eine tolle Idee.“
„Hm?“ Killian dreht sich zu mir.
„Mich abzulenken. Das ist lieb von dir.“
Der Mensch lächelt mich an. „Ich bin froh, dass es funktioniert.“
„Ich auch. Vielen Dank, Killian.“
„Nichts zu danken.“
༄ ♫ ༄
Zu meinem Bedauern hält der Bus nicht direkt am Meer. Mich trennen also immer noch einige Minuten davon, endlich ins Wasser steigen zu können. Killian und ich verlassen den Bus. Wir befinden uns nun zwischen einigen Häusern, dennoch kann ich spüren, dass das Wasser sich ganz in der Nähe befindet.
„Bleib dicht bei mir, okay?“
„Mhm“, antworte ich dem Menschen.
Killian zögert kurz, doch dann nimmt er meine Hand. „Ich will nicht, dass du verloren gehst“, erklärt er und führt mich durch die Gasse. „Der Fußweg ist nicht weit, wir sind gleich beim Strand. Ich verspreche es dir.“
Hinter einigen Büschen dringen die Stimmen vergnügter Menschen hervor. Ich höre Musik und das Lachen von einigen Frauen. Sie scheinen ausgesprochen viel Spaß zu haben. Die Dunkelheit macht es mir nicht möglich, meine Umgebung genau zu betrachten, aber das ist auch nebensächlich. Alles, was im Moment für mich zählt ist das Meer. Ich spüre, dass wir immer näher kommen.
Unser Weg führt uns um eine Ecke. Wir gehen einige Minuten geradeaus und überqueren sogar noch eine Straße. Ich werde immer unruhiger und spüre, dass mein Herz höher schlägt, je näher wir dem Strand kommen. Meine Finger zittern vor Aufregung. Ich kann deutlich fühlen, dass das Wasser nur noch wenige Meter von uns entfernt ist. Wir drängen uns an stillstehenden Autos vorbei. Der schmale Weg neben einem Gebäude führt uns nun zu Treppen, die Richtung Strand führen. Ich kann das Rauschen des Meeres bereits hören, die salzige Luft riechen. Endlich kommen wir an.
„Pass auf, wo du hintrittst“, bittet Killian mich. Mit seinem Smartphone erleuchtet er den Weg. Er hat wohl wirklich nicht gelogen, als er sagte, dass ein Smartphone noch viel mehr kann, als es den Anschein macht. Die Technik der Menschen wird wohl niemals aufhören, mich zu überraschen. „Bist du noch aufnahmefähig oder schwimmst du gedanklich schon?“
„Beides“, antworte ich ihm. Killian lässt meine Hand los. Das Ende der Treppe führt nicht bis zum Sand hinunter. Es sieht so aus, als würden die letzten drei Stufen fehlen.
„Warte einen Moment.“ Killian erhellt mit seinem Smartphone den kleinen Abgrund und wirft dann seine Tasche in den Sand. Er springt hinterher und steckt sein Smartphone in seine Hosentasche. Es steht noch soweit heraus, dass das Licht nicht erlischt. Der Mensch sieht zu mir auf, er streckt seine Arme in meine Richtung. „Komm, lass mich dir helfen.“
„Oh, wie nett, danke.“ Killian streckt sich in meine Richtung und als ich in Reichweite bin, legt er seine Hände an meine Hüfte und hebt mich hinunter, dabei lasse ich mich gegen seinen Körper sinken. Ich umklammere seinen Oberkörper, der Mensch stellt mich ab. „Das hätte ich aber auch alleine geschafft“, erkläre ich schmunzelnd.
„Sicher ist sicher. Ich will nicht, dass du dich verletzt.“
„Du bist viel zu besorgt. Ich bin nicht aus Glas, Killian.“
Er schnaubt, als ich ihn loslasse und mein Kleid glatt streiche. „Wenn du dich verletzt, haben wir ein Problem. Es soll gar nicht so weit kommen, ich will dir Schmerzen ersparen.“
„Ich verstehe. Vielen Dank für deine große Fürsorge.“
Wir gehen noch einige Meter den Strand entlang. Mit dem Smartphone erhellt Killian wieder den Weg. Am liebsten würde ich sofort meine Kleidung ausziehen und auf das Wasser zulaufen, doch Killian hält wieder meine Hand fest. Es fällt mir schwer, mich auf seine Worte zu konzentrieren. Es würde mir leichter fallen, ihm zuzuhören, wenn ich bereits im Wasser wäre, dennoch Killian besteht auf weitere Regeln.
„Wir bleiben wie versprochen die ganze Nacht. Ich lasse die ganze Zeit ein Licht an, damit du mich finden kannst“, erzählt Killian mir. „Es wäre mir Recht, wenn du wieder aus dem Wasser kommst, bevor es zu hell wird. Wenn dich ein Jogger entdeckt, wäre das vielleicht weniger gut.“
„Und was mache ich, wenn ich vorsichtig bin und trotzdem entdeckt werde?“
„Ähm.“ Killian überlegt, während wir weiterhin Hand in Hand über den Strand spazieren. Mein Blick schweift immer wieder Richtung Meer. Das Rauschen der Wellen scheint immer lauter zu werden. „Wahrscheinlich wird niemand glauben, dass du echt bist. Es gibt viele Frauen, die gerne eine Meerjungfrau wären. Sie schlüpfen in Silikonflossen und tun dann einfach so, als wären sie welche.“
Ich werfe Killian einen skeptischen Blick zu. „Warum tun sie das?“
„Weil sie es spannend finden? Sieht auch ganz hübsch aus. Natürlich ist das kein Vergleich zu einer echten Meerjungfrau wie dir. Du bist… authentischer, selbst wenn du nur in meiner Wanne liegst.“
Killian bringt mich zum Lachen. „Ich verstehe. Entschuldige den eiligen Themenwechsel, aber war das alles oder darf ich endlich ins Wasser? Bitte, bitte?“
„Ja, klar. Ein Moment noch, okay?“
Killian und ich finden uns neben einer Felswand ein. Er legt die Tasche ab und stellt ein anderes Licht auf. Sein Smartphone steckt er wieder in seine Hosentasche, dieses Mal ist das Licht jedoch aus. So geduldig, wie möglich warte ich darauf, dass Killian mir sagt, dass ich ins Wasser gehen darf. Ich verschränke meine Arme und trommle mit den Fingern meiner linken Hand gegen meinen rechten Oberarm.
„Wie machen wir das, wenn du aus dem Wasser willst? Du kannst dich ja schwer bis an den Strand schleifen.“
„Naja ich lasse mich an Land spülen und ziehe mich auf dem Wasser ins Trockene“, erkläre ich. „Und dann könntest du zu mir kommen und mir etwas geben, womit ich mich abtrocknen kann.“
Killian brummt. Von der Idee ist er wohl nicht ganz so begeistert. „Du musst dich nicht ins Trockene schleifen. Sobald es dämmert, kommst du so weit aus dem Wasser, wie du kannst und ich hole dich dann.“
„Bin ich dir nicht zu schwer?“, frage ich nach. „Mich über den Strand zu tragen ist doch schon anstrengender, als mich kurz aus der Wanne zu heben.“ Während ich spreche, löse ich meine Arme voneinander und streife mir meine Jacke von den Schultern. Ich lasse sie zu Boden fallen, auch mein Hoodie landet neben meinen Füßen. „Du machst dir viel zu große Umstände.“
Gerade löse ich die Bänder, die mein Kleid zusammen halten, da legt Killian seine Hände auf meine. „Könntest du kurz noch damit warten, dich auszuziehen? Zumindest bis unser Gespräch beendet ist?“
„Bitte, Killian, lass mich ins Wasser gehen. Deswegen hast du mich doch hergebracht. Ich wüsste nicht, was ich noch sagen sollte.“
Der Mensch seufzt. Er lässt meine Hände los und richtet seinen Blick nach oben, er bleibt aber zu mir gewandt. Ich lasse mein Kleid zu meinen anderen Kleidungsstücken auf den Boden fallen. Als nächstes entledige ich mich meinen Schuhen und meinen Strümpfen und zu guter Letzt meiner Unterwäsche.
„Schwimm bitte nicht zu weit raus. Und komm bitte zurück, sobald es dämmert“, spricht Killian ruhig. Sein Blick ist immer noch in den Himmel gerichtet, als würde er krampfhaft versuchen, mich nicht anzusehen.
Ich schüttle belustigt, aber auch verständnislos den Kopf. Er könnte mich auch einfach ansehen. „Sobald es dämmert, komme ich zurück an Land, ich verspreche es dir. Danke, dass du mich hergebracht hast.“
Killian sieht mir nun ins Gesicht. Er streicht durch seinen Bart und räuspert sich, ehe er mir antwortet: „Hab ich gern gemacht. Pass auf dich auf, ja?“
„Mach ich.“ Ich drehe mich kurz Richtung Wasser, sehe aber dann wieder den Menschen an. „Und du willst sicher nicht mitkommen?“
Er schüttelt den Kopf. „Nein, das ist mir zu kalt.“ Killian wirkt, als würde er noch etwas sagen wollen, doch da er es auch nach einigen weiteren Sekunden nicht tut, nicke ich und mache mich auf den Weg zum Wasser.
Schritt für Schritt entferne ich mich von dem Menschen. Ich spüre den Sand unter meinen Füßen. Das Verlangen, ins Wasser zu steigen, klettert in ungeahnte Höhen. Mein gesamter Körper kribbelt vor Vorfreude. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so sehr nach dem Meer gesehnt zu haben wie ich es heute tue. Als meine Füße das kalte Wasser berühren, werde ich schneller. Eilig laufe ich ins Wasser. Als es tief genug wird, um meine Beine zurückzuverwandeln, lasse ich mich ins Wasser fallen. Ich tauche unter und spüre, wie meine Beine sich zusammenschließen. Dass das Meer tatsächlich kalt ist, stört mich nicht mehr. Das Gefühl von Kälte verschwindet mit meinen Beinen. Ich bin vollkommen vom Wasser umgeben. Endlich wieder das Meer an meiner Haut zu spüren, löst Wellen großer Zufriedenheit in mir aus.
Für den Moment fühlt es sich so an, als würde alles gut werden. Ich werde mit neuer Zuversicht erfüllt. Ich bin sicher, dass ich einen Weg nach Hause finden werde. Ich weiß, dass ein Gewitter aufziehen wird und dass die grünen Blitze ein Portal in meine Welt öffnen werden. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Ich werde mein Zuhause wiedersehen.
Ich tauche auf und blicke lächelnd in den Himmel der Menschenwelt.
All die Zweifel, die sich in den letzten Tagen angestaut haben, verschwinden in die Weiten des Pazifischen Ozeans.
༄ ♫ ༄
Zufrieden sitze ich auf einem der vielen Felsen, die Spitze meiner Flosse ragt ins Wasser. Die Wellen sorgen dafür, dass ich immer wieder nass werde. Ich überblicke das Meer, die Sonne geht gerade auf. Die Nacht im Wasser zu verbringen hat gut getan. Ich merke deutlich, dass meine Gedanken viel ruhiger geworden sind, ich fühle mich entspannt. Der Himmel über mir ist beinahe hellblau und obwohl graue Wolken über den Himmel ziehen, habe ich die Möglichkeit, den bunten Sonnenaufgang betrachten zu können. Der Horizont erstrahlt in prachtvollen Rot- und Rosatönen, die Sonne selbst trägt ein kräftiges Orange. Das Rauschen des Meeres entführt meine Gedanken zu einem friedlichen Ort. In meinem Hinterkopf meldet sich jedoch eine tiefe Stimme. Ich weiß, dass ich Killian versprochen habe, zum Strand zurückzukehren, doch ich möchte den Ausblick noch genießen.
Nur noch eine Minute…
Ich schließe die Augen, atme tief durch und lasse mich ins Wasser fallen. Mit kräftigen Bewegungen begebe ich mich zurück zum Strand. Genau genommen ist es gar nicht weit. Killian und mich trennt nur eine Felswand. Ich habe mein Versprechen gehalten und mich nicht zu weit weg bewegt.
Da ich meinen Begleiter schon entdecke, lasse mich wie abgemacht an die Küste spülen. Ich bleibe im feuchten Sand liegen, sanfte Wellen kitzeln immer wieder meinen nassen Körper. Als der Mensch sich über mich beugt und zu mir herabsieht, grinse ich ihn an. Um Killians Schultern liegt ein Handtuch, das nun nach unten baumelt. Ich strecke ihm meine Hand entgegen. Er greift danach und drückt sie ein wenig. Seine Hände sind um einiges wärmer als meine.
„Entschuldige, dass ich mir etwas länger Zeit gelassen habe, Killian.“
Killian atmet tief durch, ehe er sich umsieht. „Wir sollten uns beeilen, bevor uns jemand sieht.“
„Bist du wütend auf mich?“
Er schüttelt den Kopf und lässt mich los. Ich nehme meine Hand hinunter und streiche mir die nassen Haare aus dem Gesicht. „Nein. Ich bin einfach nur froh, dass du wieder da bist und dass es dir gut geht. Komm, lass dir helfen.“ Killian lässt sich zu Boden sinken. Er deutet an, seine Hand an meinen Rücken legen zu wollen, also komme ich ihm entgegen und hebe meinen Oberkörper. Seinen zweiten Arm schiebt er auf Kniehöhe unter meine Flosse. Als Killian versucht, mich hochzuheben, klingt er sehr angestrengt. „Okay, du bist viel, viel schwerer, als ich dachte.“ Er hat mich kaum bewegt, schon lässt er mich wieder sinken. Die Situation bringt mich zum Lachen. Genau das habe ich kommen sehen.
„Ich hab doch gesagt, dass ich schwer bin“, erinnere ich ihn an meine Worte von letzter Nacht.
„Wenn du deine Beine hast, bist du um einiges handlicher“, antwortet Killian. Auch er grinst ein wenig. „Okay, anderer Plan.“ Nun richtet der Mensch sich auf und stellt sich hinter meinen Rücken. Wie er es im Badezimmer gemacht hat, legt er seine Arme unter meine Achseln. Er hebt meinen Oberkörper an und schleift mich einige Meter weiter. Mein Blick ist Richtung Wasser gerichtet, meine Flosse zieht eine Spur im Sand, die von einer sanften, aufkommenden Welle wieder beinahe komplett weggespült wird. „Ich tue dir doch nicht weh, oder?“
„Nein“, antworte ich amüsiert. „Das sieht aber bestimmt ziemlich albern aus.“
„Wenn ich dich an der Flosse packen würde, würde es noch dämlicher aussehen“, antwortet auch Killian belustigt.
„Das ist wohl wahr.“
Kaum hat er es geschafft, mich aus der Reichweite der Wellen zu ziehen, kniet Killian sich neben mich. Er reicht mir das Handtuch, das er sich um die Schultern gelegt hat. „Hier, für deine Haare.“
„Danke.“ Ich nehme das Handtuch entgegen und lege es kurz neben mir im Sand ab. Mit wenigen Handgriffen drücke ich erst einmal das Wasser aus meinen dunkelblauen Haaren.
Killian legt seinen Rucksack ab und zieht ein großes Handtuch hervor. „Darf ich?“, fragt er mich und deutet auf meine Flosse.
„Oh, wenn du möchtest“, entgegne ich ihm überrascht. Die Frage kam unerwartet.
Da mir noch nie jemand angeboten hat, mir zu helfen, mich abzutrocknen, bin ich ein wenig unsicher. Dieses Gefühl verfliegt jedoch sofort, denn Killian ist sanft und vorsichtig, als er meine Flosse mit dem Handtuch berührt. Ich drücke weiterhin das Wasser aus meinen Haaren und wickle sie in das Handtuch, das er mir gegeben hat. Dabei ruht mein Blick die ganze Zeit auf den Händen des Menschen. Als er mit dem Daumen über meine Schuppen streicht, fällt mir auch der faszinierte Gesichtsausdruck seinerseits auf. Killian ist weiterhin sehr liebevoll, als er sich mit dem Handtuch meiner Hüfte nähert. Mit offensichtlicher, großer Überraschung beobachtet er, wie meine Flosse sich teilt und wieder zu einem Paar Beinen wird. Meine Schuppen bilden sich beinahe komplett zurück, zum Vorschein kommt fast schon menschlich aussehende Haut. Ich bewege meine Füße, um das Gefühl in meinen Beinen richtig zu erwecken.
Killian blinzelt mich an, doch dann räuspert er sich, ehe er anfängt zu sprechen: „Das war… Du solltest dich anziehen.“
Ich schmunzle, aber eine Antwort verkneife ich mir. Killian reicht mir mein Kleid, das ich vorhin so achtlos fallen lassen habe. Er stopft das Handtuch in seinen Rucksack, dabei dreht er sich zur Seite, wahrscheinlich um mir Privatsphäre zu geben. Vollkommen lächerlich, wenn man bedenkt, dass er mich nicht nur heute Nacht, sondern auch jetzt gerade nackt gesehen hat. Ich verschnüre die breiten Bänder meines Kleides und binde eine Schleife. Killian ist hilfsbereit wie immer, er reicht mir seine Hände, um mir aufzuhelfen. Lange bleibe ich jedoch nicht auf den Beinen, sie geben unter meinem Gewicht nach. Meine volle Kraft ist noch nicht zurückgekehrt. Anstatt zu Boden, falle ich jedoch in Killians Arme.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt er mich.
„Ich brauche einen Moment, entschuldige, dass es so lange dauert.“
Killian schnaubt. „Entschuldige dich nicht dafür. Dass das alles überhaupt so funktioniert, wie es funktioniert, ist bemerkenswert. Ich kann immer noch nicht glauben, dass mir das alles tatsächlich passiert.“ Killian schüttelt fassungslos den Kopf. „Lass mich das machen.“ Selbstsicher legt er einen Arm unter meine Knie und hebt mich mit einem Ruck an. Grinsend sieht er mich an. „Viel handlicher, wie ich gesagt habe.“
„Und jetzt trägst du mich heldenhaft über den Strand?“, ziehe ich ihn auf.
„Zumindest bis da drüben“, antwortet er und deutet mit dem Kopf zu dem kleinen Lager, das er sich eingerichtet hat.
Und tatsächlich. Killian trägt mich über den Strand. Dass meine Beine nur wenige Minuten brauchen, um wieder genug Kraft zum Laufen zu haben, verschweige ich ihm erst einmal. Nicht aus Bosheit oder weil ich seine Hilfsbereitschaft ausnutzen möchte, sondern hauptsächlich, damit er den Helden spielen kann. Ich bin nämlich ziemlich sicher, dass er das gerne macht.
Als wir bei der Decke ankommen, stellt der Mensch mich ab. Einige seiner Sachen liegen auf und neben der Decke, auch meine restliche Kleidung liegt bereit, damit ich mich wieder anziehen kann. Das kommt mir recht gelegen, denn mein Körper fängt langsam an zu frieren.
Mit den bloßen Händen wische ich den verbleibenden Sand so gut es geht von meinem Körper, ehe ich mich zu Boden sinken lasse. Zuerst schlüpfe ich in meine Unterwäsche. Auch meine Strümpfe ziehe ich wieder bis hoch zu meinen Oberschenkeln, meine Schuhe vergesse ich natürlich auch nicht. Killian macht es sich neben mir bequem. Er ist damit beschäftigt in seinem Rucksack zu wühlen. Genau genommen packt er einige Dinge ein. Das Handtuch, das er eben noch in seinen Rucksack gestopft hat, schüttelt er nun aus und legt es zusammen, um es in die Tasche zu packen.
Fast schon beiläufig erzählt er: „Da das alles ein wenig länger gedauert hat, haben wir die ersten Busse zurück nach San Francisco verpasst.“
„Oh, das tut mir leid, Killian“, entschuldige ich mich bei ihm. „Ich hätte eher zurückkommen sollen. Haben wir jetzt ein Problem?“
„Nein, nein, vergiss es“, winkt er ab. „Der nächste Bus fährt erst in über einer Stunde, eine Stunde später dann der nächste. Das zieht sich dann den ganzen Tag über hin. Ob wir nun in einer oder in zwei Stunden fahren ist auch schon egal. Ich dachte mir, dass wir uns einen angenehmen Morgen machen und spontan entscheiden, wann wir wieder nach Hause fahren. Gibt schlimmere Orte, an denen man gestrandet sein könnte.“
Ich werfe Killian für dieses Wortspiel einen neutralen Blick zu, schmunzle dann aber doch. „Und wie vertreiben wir uns die Zeit?“
Er zeigt zu der Felswand, allerdings nach oben und nicht direkt darauf. „Wir machen es uns da oben bequem und betrachten den Sonnenaufgang.“
„Oh, das klingt nach einer guten Idee.“
༄ ♫ ༄
Ich kuschle mich in meinen Pullover und in meine Jacke. Die Kälte des Pazifiks geht an meinem Körper nicht spurlos vorüber. Solange ich meine Flosse habe, spüre ich sie nicht, doch jetzt friere ich sehr. Zitternd sehe ich zu Killian. Er legt einen Arm um mich und zieht mich an seine Seite, genau wie er es im Bus getan hat.
„Besser?“, fragt er mich.
„Bedingt“, antworte ich ehrlich.
Er seufzt. „Ich könnte mir dafür in den Arsch treten, dass ich keine zweite Decke mitgenommen habe.“
„Ich hab auch nicht daran gedacht. Ich hatte nur noch das Meer im Kopf.“
„Hm.“ Killian lässt von mir ab. Er zieht seine Jacke aus und legt sie auf meine Beine, um mich zuzudecken. Ich spüre sofort die Wärme, die von Killians Jacke ausgeht. „Hilft das?“
„Das ist viel besser, danke.“
„Gerne.“ Killian räuspert sich. „Du erinnerst dich noch daran, dass ich bevor wir in den Bus gestiegen sind, noch schnell etwas abgeholt habe?“
„Ja, natürlich erinnere ich mich“, antworte ich ihm. „Dieser rosafarbene Karton.“
„Genau. Da du Süßes so gern hast wie ich, dachte ich, dass du dich darüber freuen wirst.“
„Du hast etwas Süßes besorgt?“, frage ich aufgeregt. „Ist es etwas Neues? Etwas, das ich noch nicht gekostet habe?“
„Donuts.“
„Donuts?“, wiederhole ich fragend.
„Mach dir selbst ein Bild davon“, spricht Killian mit fast schon geheimnisvoller Stimme. Das macht er jedes Mal, wenn er mir etwas Neues präsentiert.
Der Mensch lässt von mir ab. Er öffnet die Tasche und zieht den rosafarbenen Karton heraus. Diesen geschlossenen Karton legt er auf meinen Oberschenkeln ab. Ich sehe mir den Karton an, werfe einen Blick auf die aufgehende Sonne und sehe dann zu Killian, der mich angrinst.
„Ich bin ziemlich sicher, dass du sie mögen wirst.“
„Nur ziemlich sicher?“ Neugierig wie immer öffne ich den Karton. Überrascht stelle ich fest, dass Donuts rund sind und in der Mitte ein Loch haben. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie so aussehen könnten. „Das ist ja interessant.“ Ich nehme einen der Donuts heraus, um ihn mir genauer anzusehen. Es fühlt sich an wie weiches Brot, außerdem erkenne ich etwas, für das meine Begeisterung bereits entbrannt ist. Oben auf dem Donut befindet sich eine dünne Schicht Schokolade. Die bunten Krümel auf der Schokolade kenne ich jedoch noch nicht. „Was ist das?“
„Zuckerstreusel“, antwortet Killian grinsend.
„Zuckerstreusel“, wiederhole ich murmelnd. Da der Mensch mich so erwartungsvoll ansieht, denke ich nicht weiter darüber nach und nehme einen Bissen. Schon nach einigen Kaubewegungen weiten sich meine Augen vor Freude. Der Mensch hatte Recht, ich bin begeistert.
Auch Killian greift zu. „Ich wusste es“, meint er stolz und beißt selbst in einen der köstlichen Donuts.
Kaum habe ich hinuntergeschluckt, muss ich meine Liebe für dieses süße Gebäck verkünden. „Killian, Donuts schmecken unfassbar gut. Wieso zeigst du sie mir erst jetzt? Ich hätte hunderte davon essen können.“
Der Mensch hält sich die Hand vor den Mund, er lacht. „Vielleicht genau deswegen. Ich kann dir doch nicht hunderte von Donuts kaufen.“
„Zu schade.“
Dass mir kalt ist, vergesse ich beinahe wieder. Wir unterhalten uns darüber, was wir in den letzten Stunden erlebt haben. Ganz nebenbei essen wir die restlichen Donuts aus dem rosa Karton. Ich erzähle Killian davon, wie gut es mir getan hat, mich wieder richtig bewegen zu können und wie sehr ich das Wasser genossen habe. Natürlich erfährt er auch, dass ich mich wie versprochen immer wieder nach dem Licht umgesehen habe, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Ich berichte auch davon, dass ich mir die ersten Strahlen der Sonne auf einem kleinen Felsen angesehen habe.
Der Mensch gesteht, dass er sich Sorgen gemacht hat, dass ich vielleicht nicht zurückkommen möchte. Grund dafür ist wohl, dass ich nicht wie versprochen bei den ersten Lichtstrahlen an der Küste aufgetaucht bin. Natürlich entschuldige ich mich dafür, doch Killian winkt ab.
Killians ursprünglicher Plan für letzte Nacht war wohl, dass er zumindest ein kurzes Schläfchen macht, doch dazu ist er nicht gekommen. Er erklärt mir außerdem, dass er die Zeit genutzt hat, um an seinem Tablet zu arbeiten. Obwohl Killian Musiker ist und damit sein Geld verdienen möchte, muss er viele weitere Jobs machen, um seine Rechnungen zu bezahlen. Er erklärt mir, dass er immer öfter Jobs als Tellerwäscher oder Putzkraft annimmt, um an schnelles Geld zu gelangen. Neben Bandproben, Auftritten an den Wochenenden und Gitarrenunterricht, findet er auch Zeit, um für fremde Menschen zu zeichnen. Das ist das, was er heute Nacht gemacht hat. Letzte Nacht ist der erste Entwurf für ein Buchcover entstanden. Es soll sich um ein Buch über Elben handeln.
Obwohl wir uns so fabelhaft unterhalten, müssen wir unser Abenteuer am Strand beenden. Es kommen immer mehr Menschen an den Strand, außerdem muss Killian dringend ins Bett. Wir packen unsere Sachen, entsorgen den rosa Karton in einem Mülleimer und machen uns auf den Weg zur Bushaltestelle, um wieder zurück nach San Francisco zu fahren. Bei der Busfahrt verstecke ich mich wieder unter meinem Hoodie, außerdem trage ich eine große Sonnenbrille, die Killian mir zusammen mit meiner Kleidung aus dem Internet bestellt hat. Dass ich durch das Fenster das Meer sehe und spüre, dass ich nicht weit entfernt bin, stört mich dieses Mal nicht mehr so sehr, wie auf der Hinfahrt. Das Verlangen nach dem Wasser ist nach wie vor präsent, jedoch nicht so aufdringlich, wie noch vor ein paar Stunden.
Ich erschrecke mich kurz, als Killian plötzlich gegen mich sinkt. Leise schnarchend lehnt er sich an meine Schulter. Schmunzelnd sehe ich zu dem Menschen. Seine Arme sind um seinen Rucksack geschlungen, seine Augen sind geschlossen. Immer wieder dringt das leise Schnarchen an mein Ohr. Vorsichtig hebe ich meine Hand und streichle über seine Wange. Killian schmatzt, dann hat sein Schnarchen ein Ende, er schläft jedoch friedlich weiter.
Lächelnd wende ich meinen Blick wieder nach draußen. Die Sonne scheint.
Es verspricht ein guter Tag zu werden…