Ablenkung, ja, männliche Ablenkung wäre jetzt genau die Richtige. Ohne hinzusehen drückte Steppi eine seiner Kurzwahltasten und hielt sich sein Handy ans Ohr. Wie immer musste er ein bisschen warten, bis sein Kollege das Handy aus irgendwelchen Taschen gekramt hatte, letztendlich nahm er den Anruf aber an.
„Hej Steppi“, verfiel er sofort in Isländisch, „was ist los?“.
„Naja. Kann ich vorbeikommen bei dir? Hilfe.“
„Natürlich! Eivor kocht gerade, dann isst du einfach mit. Wie lange brauchst du ungefähr?“.
„Halbe Stunde, denke ich. Danke. Bis gleich.“
Steppi legte auf und beschleunigte den Lauf zu seinem Auto etwas. Die Aussicht, bei seinem besten Freund hier in Deutschland unterzukommen, besserte seine Laune sehr.
Er schaffte es dank schleichendem Stadtverkehr nur knapp, die halbe Stunde einzuhalten, aber Steppi war pünktlich. Als er das Auto parkte, sah er schon die beiden Kinder seines Kollegen hinter dem Gartentor hüpfen, um einen Blick auf das Auto zu erhaschen. Grinsend stieg Steppi aus und rief eine Begrüßung über die Straße, die die beiden Kleinen lachend erwiderten.
Noch bevor er das Gartentor hinter sich geschlossen hatte, hatte Steppi Simon, das Vorschulkind und den dreijährigen Lukas jeweils auf einem Arm und jeder erzählte ihm etwas anderes. Sein Kollege lugte aus der geöffneten Haustür und kam ebenfalls in den Garten, als er Steppi entdeckte.
„Jungs, geht bitte ins Bad, Hände waschen, das Essen ist gleich fertig. Außerdem brecht ihr dem armen Kerl so noch alle Knochen. Also ab geht’s.“
Vorsichtig setzte Steppi die Jungs auf dem Boden ab und sie huschten sofort gehorsam ins Haus zurück. Dann erst begrüßte Steppi seinen Kollegen mit einer kurzen Umarmung.
„Schön, dass du da bist, Steppi. Wie du siehst, freuen sich die Jungs auch sehr. Willst du erst mal essen oder willst du gleich reden? Wie schlimm ist es denn? Bist du gesund? Sind alle gesund?“.
Steppi hob abwehrend die Hände. „Nein, es ist so alles gut, keine Angst Lexi. Alle sind gesund. Es geht nur, naja, nur um eine Frau.“
Lexi legte den Kopf schief und musterte seinen Kollegen. „Eine Frau? Bist du frisch verliebt oder geht es um die junge Dame, die Mads erwähnt hatte? Ich habe in den letzten Tagen mal was gehört von eurer Nachhilfelehrerin die du immer durch die Gegend fährst?“.
„Was? Wie, Mads hat da mal was erwähnt, und du sagst mir nichts? Na vielen Dank auch“, grummelte Steppi, aber Lexi hob nur die Schultern. „Ich wusste ja nicht, wie viel davon stimmt. Abgesehen davon wollte ich mich nicht in den Konkurrenzkampf zwischen dir und Mads einmischen.“
„Konkurrenzkampf?!“. Bevor Steppi anfangen konnte, laut zu werden, wehte Eivors Stimme von innen zu den beiden. „Kommt ihr essen? Wir warten schon!“.
„Wir kommen, Schatz“, rief Lexi zurück und bedeutete mit einem Kopfnicken, ins Haus zu gehen. „Wir reden nach dem Essen drüber, okay?“.
Jetzt hob Steppi die Schultern, blieb ihm doch nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Nach einem kurzen Abstecher ins Bad folgte er Lexi ins Wohn- und Esszimmer, das er so liebte. Das dunkle Massivholzmöbel und die hellen Wände gefielen ihm so gut, dass er sich schlagartig wohl fühlte, sobald er den Raum betrat. Eivor, die kurz aufstand um ihn mit Küsschen rechts, Küsschen links zu begrüßen, trug natürlich auch dazu bei.
„Schön, dass du da bist, mein Großer, wir haben uns lange nicht gesehen. Lass es dir schmecken.“
Das tat er, der Auflauf war einfach zu gut, um ihn nicht zu genießen. Während er aß, dachte er daran, was für ein Glück er hatte, hier eine Ersatzfamilie zu haben. Nicht nur, weil seine eigenen Kochkünste eher bescheiden waren, sondern auch, weil er große Familienessen mit Geschwistern, Nichten und Neffen gewohnt war. „Wer möchte noch eine Portion? Fragte Eivor in die bisher nur vom Besteckgeräuschen gestörte Stille. Jeder meldete sich. Erst nachdem Lexi noch eine dritte Portion verdrückt hatte, war das Essen schließlich aufgebraucht.
Während die Männer das Geschirr abräumten, brachte Eivor die Jungen ins Bett. Diese Gelegenheit nutzte Lexi, um endlich mehr zu erfahren. „So Steppi, jetzt sag was los ist. Ich bin ja froh, dass alle gesund sind, aber glücklich hast du am Telefon auch nicht geklungen.“
Steppi, der gerade damit beschäftigt war, die Spülmaschine zu befüllen, stellte den nächsten Teller seufzend zur Seite und lehnte sich gegen die Anrichte. Bis gerade eben hatte er sich so wohl gefühlt, dass er den heutigen Nachmittag für einen Moment verdrängt hatte. Andererseits hatte Lexi ein Anrecht darauf, alles zu erfahren.
„Ja, das stimmt schon, glücklich war ich nicht. Ich weiß nicht, ob das Liebeskummer ist oder was das genau ist. Schließlich waren wir ja noch nicht zusammen. Aber ich war so fest davon überzeugt, dass sie mich auch mag, dass ich jetzt wirklich enttäuscht bin, irgendwie.“
Geknickt ließ er den Kopf hängen, während die Gefühle von heute Nachmittag langsam zurückkamen. „Von Anfang an zu erzählen würde mir mehr helfen. Geht es denn jetzt um die Nachhilfelehrerin oder wen ganz anderes? Und was ist das mit dem Nachhause fahren?“.
Lexi räumte den letzten Stapel Geschirr in die Spülmaschine und lehnte sich dann neben Steppi. Er musterte den Größeren genau. Liebeskummer sah ihm gar nicht ähnlich, zumindest nicht, seit er ihn kannte. Zu gerne hätte er Mäuschen gespielt um die Situation beurteilen zu können.
„Ich fahre Julia nach Hause, weil es bei mir auf dem Weg liegt. Sie hat einen langen Heimweg mit dem Zug und muss viel lernen, da spart meine Taxifahrt ihr Zeit. Mehr ist das eigentlich nicht. Aber wir unterhalten uns dabei immer wirklich gut und sie hat einen guten Humor und…“. Lexi hob die Hand. „Ja, okay, ist gut. Also du hast Gefühle für sie, das merke ich. Und weiter?“.
„Naja, sie sagte mir zwar, dass sie keine Beziehung möchte, weil sie gerade nicht viel Zeit hat wegen dem Studium und so weiter, aber es kam so zögernd und da dachte ich, ich küsse sie einfach, das überzeugt sie schon. Jedenfalls hat das in meiner Fantasie gut geklappt. Die Realität war allerdings, dass sie geweint hat und dann weggelaufen ist. Sie geht nicht mehr ans Handy und irgendwie kann ich sie sowieso nicht so richtig verstehen. Ist das Studium denn so wichtig, dass man mich einfach nicht will? Oder ist das alles nur eine Ausrede und sie mag mich eigentlich gar nicht?“.
Schweigend verschränkte Lexi die Arme und ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Er kannte das Mädchen nicht, aber sie wirkte vernünftig, ihre Ausbildung vor eine Beziehung zu stellen. Natürlich war das nicht gut für Steppi, aber moralisch falsch war das nicht. Trotzdem wollte er ihn irgendwie aufheitern. „Ach Steppi, es gibt noch so viele wunderschöne Frauen auf der Welt, das sollte halt nicht sein. Dann wird es eine andere. So schwer kannst du es doch nicht haben, jemanden kennenzulernen. Schlag dir die Kleine aus dem Kopf. Wenn du willst nehme ich dich mal in Lukas‘ Kita mit, da sind bestimmt Erzieherinnen single und die sind alle noch relativ jung.“
Kurz überlegte Steppi, auf das Angebot einzugehen. Allerdings verspürte er momentan keine große Lust, jemanden kennenzulernen, deshalb lehnte er dankend ab. „Ich denke, ich muss das erst mal ein bisschen verdauen. Das passiert mir wirklich nicht oft. Vielleicht bin ich deshalb auch nicht gut gelaunt, also weil es so ungewohnt ist“, erklärte er.
„Du kannst das Angebot ja auch später noch annehmen“, meinte Lexi nur, und während Steppi die Schultern hob, fragte eine weibliche Stimme: „Welches Angebot soll er annehmen?“.
Eivor war in die Küche zurückgekommen und sah ihren Mann prüfend an. Es kam öfter mal vor, dass er die Jüngeren auf den Arm nahm und bei Steppi war Eivor empfindlich. Obwohl die beiden nur etwa elf Jahre trennten, fühlte sie sich gegenüber ihm wie eine Mutter und wollte ihn schützen.
Steppi wog kurz ab, wie klug es war, entschied sich dann aber dafür, Eivor ebenfalls alles zu erzählen. Vielleicht verstand sie Frauen auch einfach besser. Sie nickte geduldig die Informationen ab und wartete, bis er geendet hatte, bevor sie ihn beruhigend am Arm berührte. „Wenn du Recht hast und sie dich eigentlich mag, ist das doch so schlimm alles gar nicht gelaufen. Es wird schon alles so kommen wie es sein soll, vielleicht musst du dafür nur ein wenig Geduld haben.“
„Was meinst du denn? Was sagt dein Gefühl? Mag sie mich wirklich oder ist das alles nur gespielt?“.
Eivor zögerte kurz mit der Antwort. Sie war keine Hellseherin und hasste es eigentlich, irgendwelche Hoffnungen zu wecken, die vielleicht nicht erfüllt wurden. Andererseits hatte sie ein wirklich gutes Bauchgefühl, was das Mädchen betraf. „Ich glaube, sie mag dich wirklich gerne. Ich würde weinen, wenn es mir das Herz bricht, dich abzuservieren oder wenn du sehr schlecht küsst, ich hoffe für dich einfach, dass es das Erste ist.“
Während Steppi angesäuert wirkte, brach Lexi in schallendes Gelächter aus, das ihm Tränen in die Augen trieb. „Ich denke, das ist das Erste, danke“, grummelte Steppi, aber seine schlechte Laune verflog schnell. Die Hoffnung, die Eivor ihm gemacht hatte, steckte an. Er umarmte sie. „Danke für die Zeit, die ich bei euch sein durfte und für deinen Rat. Es hat mich gefreut, mal wieder bei euch zu sein.“
„Wir freuen uns auch immer, Steppi“, lächelte Eivor und knuffte ihren Mann in die Seite, der sich nur langsam beruhigte. „Ja, das tun wir. Sag mal Steppi, darf ich das in der Mannschaft diskutieren wie deine Kussqualitäten sind oder was meinst du?“.
„Das machst du bloß nicht!“, grollte Steppi und brachte Lexi damit nur noch mehr zum Lachen. „Ist gut, okay. Ich lasse es. Aber die Vorstellung!“.
Steppi verdrehte genervt schnaubend die Augen und ging aus der Küche in den Hausgang, um seine Schuhe anzuziehen. Peterssons folgten ihm. „Danke nochmal“, begann Steppi die Verabschiedung, „trotzdem.“
Mit einem giftigen Seitenblick auf Lexi umarmte er dessen Frau zum Abschied. Lexi hatte sich wieder halbwegs gefangen und grinste ihn an. „Nimm es nicht so schwer, Kleiner, die Richtige läuft dir schon auch noch über den Weg. Wir sehen uns morgen, fahr‘ vorsichtig.“
„Komm gut nach Hause, Steppi“, sagte Eivor noch, dann schlossen sie die Tür hinter ihm und Steppi stieg in sein Auto. Mittlerweile dämmerte es und er beeilte sich, den Wagen zu starten, denn er hasste es, im Dunkeln zu fahren.
Während er den gewohnten Weg einschlug ließ er seine Gedanken schweifen.
Der Zuspruch von Eivor hatte ihm wirklich gut getan. Vielleicht sollte er mit mehreren Leuten darüber sprechen. In Gedanken ging er eine Liste durch. Seine Eltern wollte er nicht einweihen. Die waren scharf genug auf potentielle Enkel, also keine richtige Hilfe. Mannschaftskollegen waren auch keine wirklich gute Idee. Er verstand sich zwar mit allen, aber sein bester Freund war nunmal Lexi. Niklas käme vielleicht noch in Frage, aber da er Julia kannte, war ihm die Idee auch nicht so Recht. Sein Bruder war in Gefühlsdingen überhaupt nicht gut. Sein Rat würde vermutlich ähnlich ausfallen wie der von Lexi, wenn er überhaupt einen bekäme. Es würde wohl doch auf eine Frau rauslaufen. Seine ältere Schwester war immer schon der beste Frauenratgeber gewesen. Vermutlich verstanden Frauen ihr eigenes Geschlecht einfach besser.
Er nahm sich vor, sich bei ihr zu melden und um ein Skypetelefonat zu bitten, damit sie sich richtig austauschen konnten. Dazu fanden sie selten Zeit, aber Steppi genoss es, seine Geschwister auch dann zu sehen, wenn sie nicht direkt bei ihm waren. Seine schlechte Laune hatte sich schon fast wieder verflüchtigt.