Das Gesicht verfolgte sie in ihren Alpträume. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes und das schmatzende Geräusch seines Todes. Ihre Schläge hallten in ihr nach, ein furchtbares Echo, dass ihr durch Mark und Bein ging. Sie zitterte noch immer vor Angst, obwohl drei Tage vergangen waren.
Drei lange Tage, die sie in Kellern, in verlassenen Häusern und in dunklen Seitengassen verbracht hatte, nur Regenwasser getrunken und vor Hunger schon paranoid.
Jetzt, als der Abend anbrach, wagte sie sich endlich wieder auf die Straße.
Sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den Taschen ihrer Jacke versteckt. Ihre Kleidung war voller Dreck. Schritt für Schritt ging sie durch die Straßen wie durch ein Minenfeld.
Nach einer Weile entdeckte sie einen kleinen Eckimbiss, der auch zu dieser späten Stunde noch geöffnet hatte. Phoebe trat ein und setzte sich an einen kleinen Tisch, die Wand im Rücken und den großen Raum im Blick. Langsam schob sie ihre Kapuze zurück, behielt aber ihre Mütze auf, um die fettigen Haare zu verbergen. Sie musste wie eine Landstreicherin wirken, denn es dauerte, bis eine schlecht gelaunte Kellnerin kam und ihre Bestellung aufnahm.
Phoebe bestellte wahllos irgendwas. Über der Theke hing ein kleiner Fernseher, auf dem Musik lief. Doch während sie wartete, wurde das Programm von einer Sondermeldung durchbrochen.
Sofort wurde es still in dem Lokal, in dem sich sowieso nur wenige Gäste befanden. Jeder lauschte dem Nachrichtensprecher, auch Phoebe.
Der Ausnahmezustand nach den terroristischen Angriffen sei verlängert worden. Noch immer suche man drei Verdächtige, nachdem einer am gestrigen Abend tot aufgefunden worden war, offenbar erschlagen von einem Obdachlosen.
Phoebe verfolgte die Neuigkeiten mit offenem Mund, bis sie sich bewusst wurde, dass man sie beobachten könnte.
Die Schießereien waren also Terroranschläge gewesen. Die Stadt befand sich im Ausnahmezustand. Und die Polizei durchsuchte jeden Winkel und veranstaltete spontane Razzien.
Nervös kaute sie auf ihren Fingernägeln. Das waren beunruhigende Neuigkeiten, nicht zuletzt für sie. Sie war offenbar einem der Terroristen begegnet. Wurde sie jetzt wegen Mordes gesucht? So oder so war die Lage gefährlicher geworden. Sie würde die Stadt verlassen müssen, und zwar so bald, wie es ihr möglich war.
Und das Schlimmste: Den Seeweg konnte sie ausschließen. Sie war genauso auf der Flucht wie die Terroristen, und die Polizisten würden jeden Weg überwachen, den sie nehmen wollte.
Ihr Essen kam. Sie schlang es herunter und bezahlte, bevor sie auf die Straße hinaus trat. Es war beißend kalt, der Wind drang auch durch ihre Jacke. An der Straßenseite hielt sie an und zog eine Strickjacke aus ihrer Tasche, um sie zusätzlich anzuziehen.
Ihre Sporttasche war leicht geworden. Sie hatte kein Essen mehr darin, und sie trug inzwischen mehr Kleidung am Körper als in ihrer Tasche. Frierend wanderte sie über die Straße und wich einer Kolonne aus zehn Polizeifahrzeugen aus.
In dieser Stadt würde man sie sicherlich früher oder später finden. Aber vielleicht konnte sie die Situation auch nutzen. Die Polizei hatte sicherlich besseres zu tun, als nach einer Ausreißerin zu suchen. Sie könnte den Bahnhof besuchen und hoffen, dass die Kontrollen dort sie nicht beachten würden.
Ein Risiko. Das wusste sie selbst. Aber sie musste aus dieser Todesfalle entkommen, wenn sie eine Chance haben wollte.
Entschlossen richtete sie sich auf.
Also war das ihr Weg.