Phoebe.
Sie hatte den Namen gewählt, weil er ihr gut gefiel. Über die vier Jahre hatte sie hin und her überlegt, hatte Namen in Betracht gezogen und wieder verworfen. Viele waren auf einer mit kleiner Handschrift beschriebenen Liste gelandet und nach einer Weile durchgestrichen worden. Phoebe hatte die Zeit überdauert.
Der Name erinnerte sie an den Phönix, das mythische Fabelwesen, das aus der Asche neu geboren wurde. Sie hatte ihn sogar recherchiert. >>Phoibos<< war altgriechisch für leuchtend oder rein. Der Name bedeutete „Die Strahlende“. Wenigstens den Phönix fand sie in dieser Bedeutung wieder, und es barg eine gewisse Ironie, war ihr neuer Stil doch düster und ihre Zukunft alles andere als strahlend. Aber offenbar war Phoebe ein Beiname der griechischen Göttin Artemis gewesen. Die Göttin der Jagd und Hüterin der Frauen und Kinder. Phoebe musste zugeben, das beides zutraf. Sie befand sich nun auf einer Jagd, obwohl sie der weiße Hirsch war. Und als dieser könnte sie etwas göttlichen Beistand gebrauchen.
Sie saß in den abgenutzten Sitz gekuschelt und starrte aus dem Zugfenster auf die Landschaft, die im Regen vorbeiglitt.
Es war der dritte September, noch so ein Zufall, denn heute hatte Phoebe Namenstag.
Der Regen war stärker geworden. Die Heizungen des Zuges funktionierten mal wieder nicht, deshalb war es kalt. Phoebe zog die Hände in die Ärmel ihrer Jacke zurück. Die Kapuze hatte sie aufgesetzt gelassen, obwohl dies zweifellos Aufmerksamkeit erregen würde. Doch es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, auf das sie nicht verzichten würde.
In einer Broschüre der Bahn studierte sie den Fahrplan des Zuges und überlegte, wo sie aussteigen sollte. Natürlich wusste sie, was sie an jedem einzelnen Bahnhof erwartete. Sie war gut vorbereitet. Sie entschied sich nach einigem Überlegen gegen die offensichtlichste Wahl, den Bahnhof mit den besten Verbindungen. Falls man sie schon suchte, würde man das vermuten. In ihrem Zeitplan fehlten 15 Minuten, die der Zug Verspätung gehabt hatte. Inzwischen war sie eine halbe Stunde von Zuhause fern. Es mochte gut sein, dass ihre Eltern ihr leeres Zimmer vorgefunden hatten. Alles sauber aufgeräumt wie seit Jahren nicht mehr. Nur ein Zettel auf dem ordentlichen Bett: „Ihr könnt mich alle mal!“
Phoebe hatte dieser Abschiedsbotschaft nicht widerstehen können, obwohl dies ihre Jagd vermutlich früher beginnen ließ. Ansonsten müsste die Polizei 24 Stunden warten, bis sie die Suche begann. Der Brief könnte sie davon überzeugen, dass Phoebe wirklich geflohen war.
Nein, sie durfte sich keinen Fehler erlauben. Sie würde den drittbesten Bahnhof wählen, und dort die Himmelsrichtung ändern, in die sie fuhr. Als würde sie Scotland Yard spielen, nur mit viel höherem Einsatz, als nur ein Brettspiel zu verlieren.
In einem Ohr steckte ihr Kopfhörer und spielte Musik. „House of the Rising Sun“. Phoebe war sich sicher, dass sie es noch bereuen würde, jetzt schon so viel Musik zu hören. Musik war tatsächlich das Einzige, wo sie schwach wurde. Sie liebte Musik, und sie hasste es, nur mit einem Ohr zuzuhören. Doch sie musste wachsam bleiben.
Ihr Schlafsack lag unter ihrem Sitz, die Sporttasche saß neben ihr und verhinderte, dass irgendwelche neugierigen Mitfahrer sich zu ihr gesellten. Aber die Gefahr war gering, der Zug war menschenleer. Nur ein hohes Pfeifen war zu hören, das lauter wurde, je schneller der Zug fuhr. Vielleicht altersschwache Elektronik, die ihre Anstrengung, den ICE zu beschleunigen, allen kundtat. Vielleicht auch einfach ein Riss in der Hülle des Zuges. Das würde erklären, warum es so kalt war.
Phoebe fror, trotz fingerloser Handschuhe, trotz gefütterter Stiefel, trotz Mütze und Kapuze und trotz des brennenden Hasses in ihr.
Grimmig rieb sie die Hände aneinander und dachte daran, dass sie bald mit deutlich Schlimmerem als Kälte würde zurecht kommen müssen.