Unruhig tigerte Ruben auf seinem Zimmer auf und ab. Er wollte mit Greg reden, ihm vorwerfen, dass er dieses Geheimnis vor ihm hatte. Wollte ihm sagen, dass er ihn dafür hasste, aber genauso sehr wollte er die Sache in sich vergraben und nie wieder darüber reden. Er wollte, dass alles wieder gut werden würde, dass Gregory endlich die Beziehung auf die nächste Stufe heben würde. Und er wollte, dass John verschwand. Das hier war jetzt auch sein Haus und egal was für Schwierigkeiten die Brüder miteinander hatten, er würde sein neues Leben nicht mehr hergeben. Nie wieder! Doch um eben jenes neue Leben zu genießen, musste er die Sache mit Greg aus dem Weg räumen.
Ruben verließ also sein Zimmer wieder, lief die Treppe hinunter und stieß beinahe mit Greg zusammen.
„Da bist du ja endlich!“, schnauzte dieser ihn an. „Wo warst du denn? Ich hab mir Sorgen gemacht. Du gehst sonst nie einfach fort, ohne nicht zumindest eine Nachricht zu hinterlassen.“
Ruben wollte ihn wütend anfahren, ihm sagen, dass ihn das doch gar nichts anging, doch dann sah er Gregorys besorgten Blick und wurde sofort ruhig.
„Entschuldige bitte“, sagte er. „Ich wollte dir keine Angst machen.“
Greg musterte ihn, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Komm“, sagte er. „Ich hab uns Brote gemacht, weil du zum Abendessen nicht da warst. Außerdem muss ich mit dir reden.“
Ruben stutzte. Er hatte Brote gemacht? Der Junge konnte sich nicht erinnern, dass Greg jemals irgendein Essen selbst zubereitet hätte. Dafür hatte er schließlich Personal.
Im Wohnzimmer angekommen schaltete Greg den Fernseher ein und suchte doch tatsächlich Rubens Lieblingsfilm raus. Auf dem Wohnzimmertisch standen Teller mit belegten Broten, perfekt in Stückchen geschnitten, wie für ein Kind.
„Setz dich zu mir“, bat Greg und Ruben setzte sich zögerlich auf die Couch. „Lass uns essen und den Film genießen.“
Ruben zögerte noch, kuschelte sich dann aber neben seinen Liebsten und begann zu essen. Der Film startete und nach ein paar Minuten dachte Ruben fast nicht mehr an den sprichwörtlichen Elefanten im Raum. Bis Greg nach dem Essen einen Arm um ihn legte und seinen Jungen an sich zog.
Ruben versteifte sich augenblicklich.
„Ich kenne dein Geheimnis!“, platzte es schließlich aus ihm raus. „Ich weiß, dass du mit meinem Vater zusammen warst.“
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Dann begann Greg Rubens Nacken zu kraulen. Seine Augen waren auf den Bildschirm gerichtet.
„Ich habe deinen Vater geliebt, Ruben. Und jetzt liebe ich dich.“
Ruben spannte sich an.
„Tust du das wirklich?“, fragte er voller Skepsis. „Oder liebst du nur das an mir, was dich an ihn erinnert?“
Gregs Kraulen ließ nicht nach, aber die Anspannung in ihm war deutlich fühlbar.
Dann sah er Ruben an und sagte mit fester Stimme: „Du hast nichts an dir, was dein Vater hatte. Außer deine Augen. Du bist ein ganz eigener Mensch und ich habe mich in dich verliebt, weil du bist, wie du bist, Ruben.“
Ruben löste sich aus der Umarmung.
„Und warum hast du mir dann nie etwas gesagt? Warum hast du nie erwähnt, dass ihr eine Beziehung hattet? Du hättest genug Gelegenheiten gehabt!“
Greg rieb sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger.
„Anfangs dachte ich nicht, dass das wichtig wäre. Dann hab ich mich in dich verliebt und konnte meine Gefühle nicht mehr unterdrücken, aber...“
Ruben unterbrach ihn rasch.
„Moment! Wann hast du Gefühle für mich entwickelt?“
Gregory seufzte.
„Als du hier eingezogen bist, war es nur sexuelles Interesse. Ich konnte es unterdrücken, weil ich Gordon hatte, aber als es mit ihm schwieriger wurde, er mehr wollte, da wurde es mir langsam klar.“
Ruben glaubte, so langsam zu verstehen. Und dass Greg ihn seiner selbst willen liebte und nicht wegen der Ähnlichkeit zu Carl, das wollte er nicht recht glauben. Für den jungen Mann war das alles ziemlich eindeutig.
„Und hättest du Gordon nicht gehabt? Hättest du dich dann so lange zurückgehalten?!“, spuckte er die Worte förmlich aus. „Ich bin für dich doch nichts weiter als ein junges Stück Fleisch, was du verführen willst!“
Ruben sprang auf. Ihn hielt es keine Sekunde länger in diesem Haus. Wütend wollte er das Wohnzimmer verlassen, stieß aber nun schon zum zweiten man an diesem Abend mit jemandem zusammen. Es war John.
„Lass mich durch!“, fauchte er.
Er rauschte an ihm vorbei. Auf dem Weg die Treppe hinauf, dabei zwei Stufen auf einmal nehmend, hörte er Johns Stimme verächtlich aus dem Wohnzimmer.
„Hat er etwa herausgefunden, dass du mit Carl zusammen warst? Tze. Das macht es mir nur einfacher, kleiner Bruder.“
Den Rest des Gespräches bekam er nicht mehr mit, da er den Treppenabsatz erreicht hatte. Er wollte weiterrennen, doch etwas hielt ihn zurück. Eine unsichtbare Macht stürmte auf ihn ein, warf ihn nach hinten, ließ ihn taumeln und schon fiel er. Sein Kopf schlug auf der ersten Stufe auf, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als Ruben erwachte, lag er in seinem Bett. Es war dunkel im Raum, bis auf das Licht der Nachttischlampe. Als er sich aufrichtete, wurde er sofort zurück in die Matratze gedrückt.
„Hey, ganz ruhig, Süßer. Ruh dich aus. Du hattest einen heftigen Sturz.“
Greg saß neben seinem Bett auf einem der Küchenstühle und sah besorgt auf ihn herab.
„Da war“, stotterte Ruben, als er sich an den dunklen Schatten erinnerte, der ihn zum Stolpern gebracht hatte.
„Es war das Haus“, murmelte Greg, den Kopf gesenkt. „Es wollte nicht, dass du gehst.“
Ruben sah ihn an.
„Was meinst du damit?“, fragte er.
Greg fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.
„Es wird wohl Zeit“, meinte er, „dir alles zu erzählen. Ich darf und kann dir nichts mehr verschweigen.“
Er sah betrübt aus, aber gefasst. Ruben runzelte die Stirn.
„Was meinst du?“
„Ich meine das Haus und seine Geschichte. Kaene Manor und deine Familie sind miteinander verwoben. Immer dann, wenn ein Jones dieses Anwesen betritt, erwachen seine Erinnerungen zum Leben. Es ist ein Fluch Ruben Jones. Ein Fluch, den unsere Vorfahren begonnen haben.“ Ruben setzte sich nun doch auf. Sein Kopf dröhnte. Ihm war leicht schummerig. „Der Arzt müsste jeden Moment hier sein“, sagte Gregory, als er Rubens verzogenes Gesicht sah.
„Was für einen Fluch meinst du?“, wollte Ruben wissen. Ihm war es egal, ob jemand kommen würde.
Greg lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann zu erklären.
„In diesem Anwesen ist viel Leid passiert. Meine Vorfahren wurden hier von einem deiner Vorfahren ermordet. Es ist Jahrhunderte her. Seitdem ist viel passiert. Das ursprüngliche Kaene Manor brannte bis auf die Grundmauern nieder. Bis auf den Keller wurde alles neue gebaut. Doch das Haus erinnert sich an alles. Jede Kleinigkeit, jeden Bewohner, alles was hier jemals geschehen ist. Das wurde meiner Urgroßmutter schnell bewusst. Meine Familie und deine waren lange Zeit befreundet. Vor dem Vorfall und danach. Die Familienfehde wurde nichtig, Freundschaften zwischen den Kaenes und den Jones entstanden. Meine Großmutter war nicht verrückt Ruben. Sie hat diese Dinge auch gesehen. Und sie hat sie verstanden. Immer wenn ein Jones dieses Haus betrat, wurden Erinnerungen dessen abgespielt, was hier bereits passiert ist. Sie nannte es einen Fluch. Ich war der Einzige, der ihr geglaubt hat. Weil ich es selbst gesehen habe. Zusammen mit Carl.“
Rubens Augen weiteten sich.
„Mein Vater hat es auch gesehen?“
„Ja. Wir sahen, wie ein dunkler Schatten einen anderen die Treppe hinunterstieß. Und das ist nicht alles. Wir sahen, wie ein Schatten im Keller umherlief, von Unruhe geplagt, wie zwei sich stritten, unten im Wohnzimmer. Wir sahen die Schatten als Kinder im Musikzimmer spielen. Erinnerung. Nichts weiter.“
„Dann ist es wirklich nichts Negatives?“, fragte Ruben leicht ängstlich. Er war gefallen. Aber war er sich sicher, dass der Schatten schuld war? Er konnte sich nicht erinnern und sein Kopf schmerzte, wenn er es versuchte.
„Nichts an diesem Anwesen war jemals negativ. In diesen Mauern stecken lediglich Erinnerungen. Es mögen nicht alles Gute sein, aber sie können uns nichts tun.“
Ruben nickte.
„Ich bin müde“, murmelte er und legte sich zurück ins Kissen. „Wenn es nur die Erinnerungen sind, ausgelöst durch die Tat meiner Vorfahren, dann ist es okay, auch wenn ich nicht alles verstehe, was mir das Haus zeigt.“
Mit diesen Worten driftete Ruben in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Schatten, von Feuer und von Greg.
Am späten Nachmittag kam schließlich ein Arzt vorbei und untersuchte den jungen Mann gründlich. Da eine Gehirnerschütterung ausgeschlossen werden konnte, verordnete er aber nur eine kurze Bettruhe.
Aus diesem Grunde saß Ruben am nächsten Morgen auch schon wieder am Frühstückstisch. Er hatte schlussendlich doch recht gut geschlafen und fühlte sich recht fit. Der Tisch war reich gedeckt mit allerlei Leckereien und er griff ordentlich zu.
Doch etwas war anders als sonst. Ihm gegenüber saß Gregory, eine Zeitung vor sich ausgebreitet, doch John war nicht hier. Zudem war offenbar gar nicht erst für ihn eingedeckt worden.
„Wo ist John?“, fragte Ruben mit gerunzelter Stirn.
Greg legte die Zeitung zur Seite und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, die Hände gefaltet.
„Nicht mehr hier“, stellte er nüchtern klar. „Und er wird auch nicht wiederkommen.“
„Warum nicht? Weil er versucht hat, dich zu erpressen?“
Erst nachdem Ruben es ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass er Greg damit soeben gesagt hatte, dass er gelauscht hatte.
„Du hast also wieder gelauscht“, stellte Greg nur fest und lächelte leicht. „Versteh mich nicht falsch, ich verurteile das Verhalten meines Bruders zutiefst, aber mit einem hatte er von Anfang an recht. Ich hätte ehrlich zu dir sein sollen und die Karten offen auf den Tisch legen. Dass ich das nicht getan habe, tut mir leid.“
Ruben wollte noch wütend sein, wollte ihm vorwerfen, dass...ja was eigentlich? Dass er es ihm verschwiegen hatte? Das konnte er nicht mal.
„Ich wäre an deiner Stelle auch nicht sofort mit der Sprache herausgerückt“, sagte er schließlich. „Und das mit gestern tut mir leid. Ich weiß, dass du mich nicht nur ins Bett kriegen willst, denn wenn du das gewollt hättest, dann hättest du das längst geschafft. Aber dir war es wichtig, dass ich es aus freien Stücken tue und genau weiß, was ich will. Kannst du mir meinen Ausbruch verzeihen?“
Ruben wollte nichts als Frieden. Er wollte mit Greg zusammen sein. In diesem Haus. Er wollte mit ihm alt und glücklich werden und seine sexuellen Erfahrungen sammeln. Letzteres sogar am liebsten sofort. Insgeheim konnte er ihm doch alles verzeihen. Egal was es war. Nur an dieses Haus, an das musste er sich noch immer etwas gewöhnen.
Greg stand auf, kam zu ihm an die andere Seite des Tisches und drückte sein Gesicht an die Brust.
„Es gibt nichts zu verzeihen“, sagte er. „Ich liebe dich, Ruben und nichts auf der Welt könnte etwas daran ändern. Du gehörst zu mir und ich verspreche dir, niemals mehr Geheimnisse vor dir zu haben.“