Am nächsten Morgen erwachte Ruben allein in dem großen Bett, welches nicht sein eigenes war. Er musste sich erst orientieren und richtig wach werden, ehe ihm einfiel, weshalb er überhaupt in diesem viel zu großem Bett mit der samtenen Bettwäsche lag. Er rollte sich auf den Bauch, vergrub seine Nase in dem Kissen, welches so sehr nach Gregory roch, als läge dieser noch neben ihm, und atmete tief seinen betörenden Duft nach Mann ein. Sein Herz schlug schneller, bei dem Gedanken an das, was gestern Nacht passiert war. Erst der Spuk und dann dieser Kuss. So sanft, so federleicht und doch so aufwühlend wie nichts anderes. Ruben drehte sich wieder auf den Rücken und griff an seine Brust. Ein breites Lächeln zierte sein Gesicht. Er hatte ihn geküsst. Er hatte ihn einfach geküsst. Wie viele Schmetterlinge gerade in seinem Magen Loopings flogen, konnte er nicht einmal annähernd sagen. Ihm wurde fast schlecht vor Glücksgefühlen. Freudig schlug der Junge die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Er zitterte. Tief durchatmen, ermahnte er sich selbst. Tief durchatmen!
Als er auf unsicheren Beinen den Weg in das angrenzende Badezimmer antrat, musste er immer noch lächeln. Ob er dieses Lächeln je wieder aus seinem Gesicht bekommen würde? Jetzt gerade glaubte er nicht daran.
Ruben schälte sich aus seiner Kleidung und stieg unter die Dusche. Er drehte das Wasser auf, nahm sich das Duschgel in der dunkelgrünen Flasche und drückte sich etwas davon in die Handfläche seiner rechten Hand. Dann stellte er die Flasche zurück in das Duschregal und begann sich zu waschen.
Als Ruben sich an den Frühstückstisch setzt, war ihm etwas mulmig zu Mute. Nach dem Kuss fühlte sich alles zwischen ihm und Greg seltsam an. Greg saß ihm gegenüber, so wie immer, und sah in die Morgenzeitung. Er legte sie erst weg, als Ruben ihm einen guten Morgen wünschte und sich eine Scheibe Toast nahm. Greg hatte sich seinen Teller längst gefüllt und offenbar nur auf seinen Jungen gewartet, um mit dem Frühstück zu beginnen. Jetzt legte er die Zeitung auf den Stuhl neben sich und lächelte Ruben an.
„Wie war deine Nacht?“, fragte er mit scheinbar ehrlicher Neugierde.
Ruben rutschte leicht unruhig auf seinem Stuhl umher und antwortete: „Gut. Dein Bett ist toll.“
Dann biss er von seinem trockenem Toast ab.
Greg sah ihn skeptisch an.
„Du hast also wegen meinem tollen Bett so gut geschlafen?“
Er hob eine Augenbraue.
Ruben sah ihn an und schluckte.
Dann antwortete er ehrlich: „Deine Nähe lässt mich besser schlafen als alles andere. Ich hab mich zum ersten Mal in diesem Haus bei Nacht richtig wohlgefühlt.“
Greg sah ihn mit einem traurigem Lächeln an. „Du weißt aber, dass du nicht jede Nacht bei mir schlafen kannst, oder?“
Ruben kratzte sich verlegen am Kinn. Er errötete. Irgendwie hatte er sich das schon so vorgestellt. Wie schön es wohl wäre, jeden Abend neben Gregory einzuschlafen und jeden Morgen neben ihm aufzuwachen? Sein Herz schlug schneller bei dieser Vorstellung. Doch was waren sie jetzt eigentlich? Sie hatten sich geküsst. Das musste doch etwas bedeuten. Greg konnte unmöglich ignorieren, dass etwas zwischen ihnen war. Altersunterschied hin oder her.
Ruben räusperte sich.
„Was ist das zwischen uns?“, fragte er dann geradeheraus.
Eine Weile stocherte er unruhig in seinem Essen rum und sein Patenonkel schwieg.
Dann sagte dieser leise: „Ich weiß nicht, was das ist Ruben. Ich weiß nur, dass ich sehr viel für dich empfinde und, dass ich zu alt bin, als dass ich das einfach so zulassen könnte.“ Er atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Aber ich weiß auch, dass du ein verdammt stures Bürschchen sein kannst und wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, dann ziehst du es durch.“
Er sprach nicht weiter und sah Ruben auch nicht an. Den Kopf in seine linke Hand gestützt saß er da und betrachtete ausdruckslos sein Frühstück.
„Und was heißt das jetzt?“, fragte der junge Mann jetzt aufgebracht. Er wollte nicht, dass er wieder einfach nur das Patenkind war und alles beim Alten blieb. Das konnte er nicht ertragen. „Willst du mir etwa wieder sagen, dass das was geschehen ist ein Fehler war und wir nicht zusammen sein können?“
Greg sah ihn jetzt direkt an.
„Ruben“, begann er.
„Nein, nichts Ruben!“, rief der Junge aus. „Ich bin erwachsen. Ich treffe meine Entscheidungen selbst. Ich werde meine Gefühle nicht unterdrücken. Außerdem, wen sollte es stören, wenn wir ein Paar sind?“
Mit diesen Worten hatte er einen Treffer gelandet.
„Ich kann nicht einfach jedwede Moral über Bord werfen und eine Beziehung mit dir führen“, erwiderte Greg völlig ruhig. Seine Stimme wurde weder lauter, noch wirkte er unruhig. Doch dann fügte er an: „Ich kann mich nicht sofort darauf einlassen, Ruben. Bitte versteh das. Alles, was ich anbieten kann ist, es langsam anzugehen, in Ordnung? Lass es uns einfach langsam angehen.“
Das war mehr, als Ruben sich je erhofft hatte. Glücklich sprang er auf, rannte um den Tisch herum und fiel Greg in die Arme, als dieser Aufstand und sie ausbreitete.
Fest schloss er sie um seinen Jungen. Ruben lächelte ihn von unten herauf an.
„Danke“, hauchte er. „Danke, dass du uns eine Chance gibst!“
Am Nachmittag schnappte sich Ruben doch tatsächlich das Fahrrad. Er musste dringend den Kopf freibekommen und das ging nicht, wenn Greg auch nur in der Nähe war. Also fuhr er zum Friedhof, weil dies der einzige Ort war, den er schon kannte.
An der Friedhofsmauer schloss er sein Rad an, öffnete dann das knarzende Tor und betrat den im Nachmittagslicht der Sonne beschienen Friedhof. Er wusste noch, wo die Gräber seiner eigenen Verwandten lagen. Seine Eltern hatten es ihm gefühlte tausendmal beschrieben. Selbst hatte er sie aber nie aufgesucht. Vielleicht war es an der Zeit.
Als er das Grab seiner Urgroßmutter schließlich fand, war er enttäuscht. Es war unter Efeu geradezu verschüttet und selbst die Schrift auf dem Grabstein war überwuchert. Den Namen konnte man gerade noch so lesen. Ruben hockte sich hin und legte eine Hand auf den Erdboden.
„Was mach ich eigentlich hier?“, fragte er sich selbst laut. „Ich hab bekommen was ich wollte und dennoch brauche ich jetzt Abstand. Was ist nur falsch mit mir?“ Er seufzte tief. Was war, wenn seine Gefühle für Greg doch nicht so stark waren? Wenn er eben doch nur ein dummer Teenager war, der sich Hals über Kopf in irgendeine Sache stürzte, nur um sich nicht mit dem rumzuschlagen, was ihn wirklich beschäftigte? „Grandma, was würdest du an meiner Stelle tun?“, fragte er.
Er hörte Schritte hinter sich und wand sich um. Ein Meter weiter stand ein Geistlicher in schwarzer Robe und sah zu ihm rüber. Als Ruben lächelte, kam er näher.
„Die Toten werden dir zwar keine Antworten geben, aber vielleicht kann ich das“, sprach der Geistliche.
Der junge Mann kam auf die Beine und musterte den Mann vor sich. Er schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er war blond, schlank und hatte die braunsten Augen, die Ruben je gesehen hatte. Sein Lächeln strahlte Gutmütigkeit aus.
„Wer sind sie?“, fragte Ruben, leicht skeptisch.
„Ich bin Vater Clemence. Ich bin der Prediger hier. Ich halte jeden Sonntag den Gottesdienst ab und bin Seelsorger in der Gemeinde.“
Ruben grunzte belustigt. Die Gemeinde, von der sein Gegenüber sprach, war wohl das kleine Dorf, nicht weit weg von hier. Das waren höchstens 40 Seelen. Wenn überhaupt. Ihn mit einberechnet.
Dann fiel dem dunkelhaarigen jungen Mann auf, dass der Prediger gesagt hatte, er sei Seelsorger. Hatte Greg nicht immer davon gesprochen, er müsse mit jemandem reden? Nun, wenn das nicht die Chance war. Und wie es der Zufall so wollte, war Ruben heute sogar nach reden.
„Ich bin Ruben“, sagte er. „Sie sind Seelsorger? Dann kann ich mit ihnen über alles reden und sie werden mich nicht verurteilen?“
Der Prediger lächelte freundlich und setzte sich auf eine Bank etwa einen halben Meter entfernt. Er wies auf den Platz neben sich und Ruben kam zu ihm rüber.
„Egal was es ist, Junge, du kannst es mir erzählen.“
Ruben überlegte, ob er wirklich erzählen konnte, was ihm durch den Kopf ging, doch dann dachte er sich, dass ein Mann Gottes doch sicherlich eine Art Schweigepflicht besaß und somit war für ihn klar, dass er diese nutzen würde. Egal was Vater Clemence am Ende über ihn denken würde. Er musste mit jemandem über das reden, was ihm durch den Kopf ging. Über das, was sein Herz so sehr aufwühlte, dass er nicht zur Ruhe kam. Über den Tod seiner Eltern, über die Dinge, die er in Kaene Manor gesehen hatte, über die Schule und dessen Aus. Darüber, dass er nicht wusste, wie es für ihn weiter ging und über seine Beziehung mit Greg, seinem Patenonkel. Über all das musste geredet werden. Und zwar mit jemand anderem als Greg. Ganz besonders mit jemand anderem als Greg.
Also atmete er tief durch und sagte dann: „Es gibt viel zu viel, was mir im Kopf herumgeht. Was mir keine Ruhe gibt. Wenn ich ihnen das alles erzählen will, dann sitzen wir noch nächste Woche hier.“
Der Pater lächelte leicht.
„Was hältst du davon, wenn du mir heute eine Sache erzählst und morgen die nächste?“, machte er einen Vorschlag.
Jetzt war es an Ruben zu lächeln.
„Ja“, sagte er. „Das klingt nach einer sehr guten Idee. Aber wo fange ich an?“
„Wie wäre es mit dem Anfang?“
Ruben atmete erneut tief durch und begann.
„Ich bin mit 17 Weise geworden. Meine Eltern starben bei einem Autounfall.“
Ruben erzählte alles. Wie er in den ersten Wochen danach bei Pflegeeinrichtungen war, Therapie hatte und langsam alles verarbeitete. Wie er zu seinem Patenonkel zog und sich an das neue Land und die neue Umgebung gewöhnt hatte. Wie sich die Beziehung zu seinem Patenonkel langsam zu einer Freundschaft entwickelt hatte. Weiteres erzählte er noch nicht. Es wurde nämlich langsam später und schließlich war es kurz vor 17 Uhr.
Als er mit seiner Erzählung geendet hatte, gab ihm Vater Clemence einen Rat.
„Schreib deinem Vater“, riet er ihm. „Schreib deine Gedanken zu ihm in einem Brief auf und tue ihn an eine Stelle im Haus, die du mit ihm verbindest.“
Ruben verstand nicht, was Briefe an einen Toten ihm bringen sollten, doch er nahm den Rat dankend an und verabschiedete sich. Mit seinem Rad fuhr er zurück nach Kaene Manor.