Als Ruben erwachte, war das Bett leer. Er streckte sich genüsslich aus, gähnte herzhaft und setzte sich auf. Die Morgensonne schien bereits durch das geöffnete Fenster hinein ins Zimmer und draußen auf dem Flur hörte er zwei Stimmen. Ruben stand auf, streckte sich erneut und nahm sich seine Sachen, die fein säuberlich zusammengefaltet auf einem Stuhl gegenüber vom Bett lagen. Greg musste sich die Mühe gemacht haben, als er noch geschlafen hatte. Ruben zog sich an, gähnte und machte sich auf den Weg zur Tür.
Er wollte sie gerade öffnen, da hörte er Johns Stimme. Ruben verharrte in der Bewegung. Lauschte angespannt. Was machte Jonathan hier? Wollte er Greg wieder erpressen? Wollte er Unruhe stiften und sie auseinanderbringen? Er ballte die Hände zu Fäusten. Sein ganzer Körper war angespannt. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Sollte er seiner ersten Intuition nachgehen und hinausstürmen? Oder war es vielleicht klüger, die Sache den Erwachsenen zu überlassen? Den Erwachsenen? Was redete er denn da? Längst war er kein Kind mehr. Er war selbst erwachsen, also warum machte er sich hier eigentlich so klein? Andererseits war das da draußen trotzdem eine Sache zwischen Greg und John. Er sollte sie das allein klären lassen. Also ging er zurück zum Bett und setzte sich auf die Kante.
„Was fällt dir eigentlich ein, dich in mein Liebesleben einzumischen?!“, hörte Ruben plötzlich seinen Schatz brüllen.
So laut hatte er ihn noch nie erlebt. Greg musste vor Wut beben. Es wurde immer schwieriger, einfach sitzen zu bleiben und sich nicht einzumischen. Daher stand er auf, begann unruhig im Raum auf und ab zu tigern.
Dann ertönte Johns Stimme, in derselben Lautstärke, wie die seines Bruders.
„Du belügst dich doch selbst, wenn du glaubst, er wäre mehr als ein Spielzeug für dich! Wie lange hast du es mit dem letzten Jungen ausgehalten? Drei Wochen? Vier?!“
Es rummste. Ein würgendes Geräusch erklang. Was ging da draußen vor sich? Ruben sprang auf. Nichts hielt ihn mehr im Zimmer.
Er stürmte zur Schlafzimmertür und riss sie auf.
Das Bild, welches sich ihm bot, hatte er nicht erwartet. John saß auf dem Boden, den Rücken an die Wand hinter ihm gelehnt. Er fasste sich an den Hals und sah grinsend zu seinem Bruder auf.
„Du bist nicht besser als Gordon. Du bist sogar schlimmer. Du spielst mit den Leuten, damit du sie und ihre Reaktionen für deine Bücher verwenden kannst. Du bist verrückt! Nichts weiter!“ John spie diese Worte mit so viel Abscheu aus, dass Ruben schlecht wurde. Der Mann am Boden hatte nur Augen für seinen Bruder. Ruben, der beinahe genau neben ihm stand, bemerkte er nicht. Auch dann nicht, als Greg, welcher ihm gegenüber stand, schwer atmend, seinen Jungen ansah. „Ich hab dich und dieses Haus nicht verlassen, weil du schwul bist, Greg. Ich habe es getan, weil du alle um dich herum manipulierst. Du hast unsere Eltern manipuliert, Carl manipuliert und sogar bei mir hast du es geschafft. Ich hab freiwillig meinen Platz geräumt. Habe zurückgesteckt, nur um nicht mehr mit dir unter einem Dach leben zu müssen. Doch das ist jetzt vorbei! Ich lasse mich von dir nicht mehr hinhalten! Das Haus mag deinem Jungen gehören, aber meinen Anteil daran, wirst du mir auszahlen. Deine Bücher haben dir mehr als genug eingebracht.“
Greg ging in die Knie. Er sah den Älteren an. Ruhig. Gelassen.
„Ich sage nicht, dass du nicht recht hättest, Johnathan. Ich sage nicht, ich hätte mich immer gut verhalten. Ja, ich habe die Menschen um mich herum manipuliert und mit ihnen gespielt. Ich habe die Reaktionen genutzt, um die Figuren in meinen Büchern glaubwürdiger erscheinen zulassen. Und ich hatte viele Liebhaber. Viele die jünger waren und es hat aus genau diesem Grund nicht gehalten. Aber die Person, die diese Dinge tat, ist tot.“ Er seufzte tief. „Als du gegangen warst, wusste ich nicht mehr, wer ich bin. Alles, was ich hatte, wer ich war, warst du, John. Ich habe dich so sehr geliebt. Ich wusste nur nicht, damit umzugehen. Als das mit Carl zerbrach und er sich für Charlotte entschied, habe ich es verkraftet. Weil du da warst. Doch dann bist du gegangen. Hast mir Vorwürfe gemacht und mir das Haus überlassen. Ich war am Ende, John. Hast du das nie gesehen? Du warst wohl zu sehr mit dir selbst beschäftigt. Ich habe Dinge gesehen, John. Dinge, die niemand sehen will. Das Haus hat sie mir gezeigt. Es hat mich wahnsinnig gemacht. Du warst der Einzige, dessen Gegenwart mich beruhigt hat.“
Johns Augen weiteten sich.
„Du warst verrückt, Greg. Du hast Dinge gesehen, die nicht da waren. Du warst nur eine Last für mich! Ich war so froh, als unsere Eltern tot waren und ich dich verlassen konnte!“
Der Schmerz in Gregorys Augen war echt und klar.
„Du hast nie an die Geschichten geglaubt. Ich weiß. Aber was ich gesehen habe, waren keine Geschichten. Es war die Realität. Alles, was jemals in diesem Haus geschehen ist, habe ich gesehen. Die Guten, wie die schlechten Dinge. Jeder Kuss, jede Umarmung. Aber auch jeder Streit, jeder Tod. Einfach alles. Das Haus hatte Vertrauen zu mir. Ja, Grandma hatte recht. Jedes Haus hat eine Seele. Und die offenbart sie nicht jedem.“
John richtete sich auf. Stand schnell wieder auf seinen Füßen. Er stierte ihn an. Fassungslos.
„Du bist verrückt, wenn du das wirklich glaubst, kleiner Bruder.“
„Nein, das bin ich nicht. Ich kann Fantasie durchaus von der Realität unterscheiden. Aber ich habe eine Therapie gemacht. Jahrelang. Aber du warst weg und wolltest keinen Kontakt. Warum hätte ich dir davon erzählen sollen? Es hätte dich nicht interessiert. Ich habe mich verändert. Ob du es glaubst oder nicht. Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe. Es tut mir leid, John.“
Ruben stand da und verstand die Welt nicht mehr. Sein Greg sollte manipulativ sein und mit Menschen spielen? So kannte er ihn nicht. Er kannte Gregory Kaene nur als strengen, aber liebevollen Mann, der sich für das stark machte, dass er für richtig hielt. Jemand der einfühlsam war und auf die Bedürfnisse seiner Lieben achtete. Ein Mann mit Geheimnissen, der manchmal etwas verschlossen war und sich nur von wenigen hinter die Fassade blicken lässt, sicher. Aber manipulativ? Nein. Wenn er das wirklich mal gewesen war, dann war er es jetzt nicht mehr. Ruben sah Greg an, versuchte, in seinem Gesicht die Wahrheit zu erkennen, und sah nur Offenheit und Liebe. Ruben war berührt. Auch nach allem, was scheinbar zwischen ihm und seinem großen Bruder passiert war, empfand er noch immer Liebe für ihn. Dieser Mann konnte nicht so schlecht sein, wie John ihn dargestellt hatte. Nicht mehr.
Greg wandte sich nun seinem Jungen zu.
„Du weißt, wer ich bin, Ruben. Du kennst mich besser, als mein Bruder es tut. Du weißt, dass ich keine bösen Absichten hege. Doch wenn du jetzt, nach allem, was du gehört hast, gehen willst, dann werde ich dich nicht aufhalten. Ich werde dir eine Wohnung im Ort kaufen und dafür sorgen, dass es dir niemals an irgendetwas mangeln wird. Aber eines kann ich dir nicht versprechen. Dass ich jemals aufhören werde dich zu lieben, denn das, mein süßer Ruben, würde ich nicht übers Herz kriegen.“
Es war nicht so, als hätte es die Ansprache gebraucht. Und es war auch nicht so, als hätte Ruben noch Zweifel an Gregs Ehrlichkeit gehabt. Und auch das verächtliche kurze Auflachen Johns, der sich imaginären Staub von seiner Kleidung klopfte, änderte nichts daran. Trotzdem tat es dem jungen Mann unglaublich gut, genau diese Worte aus dem Mund seines Liebsten zu hören.
„Ich will nicht gehen, Greg. Ich möchte immer an deiner Seite bleiben. Hier auf Kaene Manor. Ich hab nur eine Bitte. Erzähle mir die Geschichte meines Vaters. Sag mir, was damals geschehen ist und warum ihr nicht mehr zusammen wart. Bitte! Ich muss es wissen!“
Greg lächelte verstehend.
„Natürlich musst du das. Das verstehe ich. Lass uns frühstücken und dann einen Spaziergang machen. Dann erzähle ich es dir. Und zwar die ganze Geschichte. Versprochen.“ Sein Gesicht wurde ernst, als er sich zu seinem Bruder umwandte und sagte: „Und was dich betrifft John: Ich werde dir morgen den noch offenen Betrag für das Haus überweisen. Und wenn du mich brauchst, dann bin ich für dich da. Weil du mein Bruder bist und ich dich liebe, auch wenn du mir das wohl nicht glaubst. Aber einziehen wirst du hier nicht. Du wirst uns und unser gemeinsames Leben in Ruhe lassen und einfach wieder verschwinden. Aber lass ab und an mal etwas von dir hören.“
John nickte nur. Er strich sich eine Strähne seines dunklen Haares aus dem Gesicht und machte sich auf den Weg in Richtung seines Zimmers.
Das Frühstück verlief harmonisch. Keiner der beiden Männer sprach, John hatte sich wortlos verabschiedet und war mit Sack und Pack verschwunden und die Haushälterin huschte durch das Haus. Es war Ruhe eingekehrt und Ruben ließ die letzte Nacht Revue passieren. Es war schön gewesen, Greg so nahe zu sein. Eins mit ihm zu werden. Aufregend und ungewohnt aber schön. Irgendwie hatte Ruben das Gefühl, diese eine Sache hatte sie einander näher gebracht als jedes Gespräch, das sie je geführt hatten. Er war mit sich und ihrer Beziehung im Reinen und das Einzige, was ihm noch auf der Seele brannte, war die Vergangenheit Carls.
Etwa eine Stunde später spazierten Ruben und Greg gemütlich, händchenhaltend durch das kleine Waldstück, welches an ihr Grundstück grenzte. Die Vögel sangen, die Luft war angenehm, wenngleich sehr kalt, und ab und an brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Es war schön hier draußen. So friedlich.
„Erzählst du mir jetzt eure Geschichte? Von Anfang an?“, fragte Ruben schließlich, nach eine Weile des Schweigens.
Gregory atmete tief durch. Die Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit, die so eng mit der Carls verbunden war, schien ihn zu belasten. Sein Blick wurde wehmütig.
„Als ich deinen Vater kennenlernte, waren wir Schulkinder. Wir verstanden uns auf Anhieb und wurden schnell Freunde. Was glaubst du, wie überrascht wir waren, als Carl das erste Mal nach Kaene Manor kam und sich herausstellte, dass wir uns eigentlich schon viel länger kannten.“
Ruben machte große Augen.
„Wie jetzt? Das verstehe ich nicht.“
Greg lächelte.
„Unsere Eltern waren einmal befreundet gewesen. Sie hatten uns als Kleinkinder miteinander spielen lassen. Leider zerstritten sie sich und wir beide sahen uns erst in der Schule wieder.“
„Was für ein Zufall!“, rief Ruben erstaunt aus.
„So ein großer Zufall ist das gar nicht“, erklärte Greg. „Unsere Schule war damals sehr klein. Jede Klassenstufe hatte nur eine Klasse, und da wir gleich alt waren, kamen wir in dieselbe.“
„Ach so? Na dann ist das ja logisch. Bei uns war das anders. Da gab es pro Klassenstufe vier Klassen. Die meisten meiner Mitschüler habe ich nie kennengelernt.“
„Das ist heute auch völlig normal. Aber zu meiner Zeit war das anders. Hier im Ort lebten nicht viele Kinder und in den Nachbarorten auch nicht. Da wurde nur zusammengepackt. Jedes Kind kannte das andere und das aus dem Nachbarort. Aber das hat sich heute ja auch geändert.“
Ruben nickte. Heute wirkte die Schule im Ort fast schon überfüllt. Er war froh nicht mehr hinzumüssen.
„Jedenfalls waren Carl und ich Freunde“, erzählte Gregory weiter. „Und als wir schließlich langsam erwachsen wurden und bemerkten, dass wir uns nicht für Mädchen interessierten, nahm es halt so seinen Lauf.“ Greg lächelte, sah in die Natur und drückte Rubens Hand fester. „Wir verliebten uns ineinander, machte die ersten gemeinsamen Erfahrungen. Es war die erste große Liebe. Für uns beide. Und für mich auch die einzige. Bis du kamst.“ Ruben fühlte sich geschmeichelt. Sein Herz schlug schneller bei diesen Worten. „Doch dann hat Carl mich betrogen. Wir waren 17, als er sich für Charlotte entschied. Es war pures Pech, dass sie schwanger wurde. Versteh mich nicht falsch, Ruben. Ich mochte deine Mutter. Sie war ein liebes und hübsches junges Ding und ich konnte Carl verstehen. Doch sie hat ihn vor die Wahl gestellt. Entweder, er würde sich für sie und das Kind entscheiden und mit ihr und ihrer Familie nach Deutschland gehen, dort wo sie herkam, oder er würde bei mir bleiben und seinen Sohn nie wieder sehen.“ Greg seufzte theatralisch. „Er hat sich für dich entschieden und ihn dich Ruben genannt. Nach einer Figur aus einem meiner Romane. Ich kann seine Entscheidung verstehen. Doch, dass er den Kontakt zu mir vollständig abbrach und mir nur noch einen letzten Brief schrieb, das konnte ich nicht verstehen. Er hat mir das Herz gebrochen.“
Ruben spürte, dass sich die Stimmung verändert hatte. Greg wirkte bedrückt und auch die Vögel hatten aufgehört zu singen.
„Es tut mir leid, was dir passiert ist“, sagte Ruben, nach einigen Minuten. „Aber ich fürchte, die ganze Sache hat nicht nur dir das Herz gebrochen. Vielleicht konnte er mich nie so lieben, wie ich es gebraucht hätte, weil er mich immer als Grund dafür gesehen hat, dass er sich verlassen musste.“
Greg blieb stehen, zog Ruben am Arm zu sich. Sie waren mittlerweile wieder auf dem Grundstück von Kaene Manor angelangt.
„Nein!“, sagte er energisch. „Nein, Ruben. Das darfst du niemals denken! Dein Vater hat dich geliebt. Sonst hätte er nicht, entgegen dem Wunsch deiner Mutter, mich als deinen Paten erwählt. Deine Taufe war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Es war ihm wichtig, dass jemand, dem er vertraute auf seinen Sohn achtgeben würde, wenn er und Charlotte nicht mehr wären. Das wäre ihm niemals so wichtig gewesen, wenn er dich nicht geliebt hätte!“
Ruben sah ich glücklich an. Das war das beste Argument, was es gab. Er wäre blöd, wenn er das nicht erkennen würde.
„Danke, dass du das sagst. Und danke, dass du mir alles erzählt hast.“
Er lächelte zufrieden, als Greg erneut seine Hand nahm und sie den Weg zur Eingangstür von Kaene Manor entlang gingen. Doch als sie fast angekommen waren, hielt sie etwas zurück. Eine unsichtbare Macht, die ihnen scheinbar etwas zeigen wollte. Vor der Haustür standen zwei Gestalten. Schatten. Nichts weiter. Durchscheinend, nicht wirklich da. Nur eine Erinnerung. Es war ein Paar. Augenscheinlich zwei Männer. In einer tiefen Umarmung versunken küssten sie sich.
Ruben und Greg sahen sich an. Sie waren nicht verängstigt. Sie wussten, dass das ein Zeichen des Hauses war, dass jetzt alles gut wäre. Ruben spürte tiefe Zufriedenheit und einen Hauch Glück, als die Strahlen der Mittagssonne auf den Treppenabsatz fiel und die Gestalten langsam verblassten, bis sie schließlich verschwunden waren.
Er wusste, dies hier war der Ort, an den er hingehörte. Dies hier war der Ort, an dem er glücklich war. Es war ihr Zuhause.