Eines Abends hatte Ruben mal wieder keinen Lesestoff mehr. Das Wetter draußen hatte sich deutlich verschlechtert. Es regnete ständig, war stürmisch und kalt. Der Herbst hatte Einzug erhalten und Ruben hatte immer weniger Lust draußen zu sein. Er war immer seltener im Baumhaus. Eigentlich nur, wenn er gesehen hatte, dass Streuner sich dorthin aufgemacht hatte. So wie heute. Es dämmerte bereits, als Ruben bewaffnet mit einer Taschenlampe und einer Wolldecke die Bibliothek betrat, um sich ein neues Buch zu suchen und danach hinaus ins Baumhaus zu flüchten. Und flüchten traf es ganz gut, denn im Haus war es seit geraumer Zeit kaum noch auszuhalten. Greg und John stritten sich ständig und immer wieder sah Ruben Schatten oder hörte seltsame Geräusche. Obwohl er es mittlerweile fast schon gewohnt war, dass die Erinnerung von Kaene Manor ihn nicht in Ruhe ließ, war der junge Mann angespannt. Vor allem, seit John sich immer mehr zurückzog und weniger mit ihm unternahm. Ein Ausflug in die Stadt war zur Seltenheit geworden und Ruben vermisste es, neben ihm durch die Dörfer zu fahren und sich mit dem älteren der Kaene-Brüder zu unterhalten. Doch diese Zeiten schienen vorbei und Ruben akzeptierte es. Er war schließlich kein Teenager mehr. Er konnte sich selbst beschäftigen. Also suchte er in den vielen Regalen der Bibliothek nach einem spannenden Buch und ging die Reihen ab. Einige waren verstaubt und unsortiert, was dem jungen Mann seltsam vorkam, denn in diesem Haus wurde penibel genau auf Sauberkeit und Ordnung geachtet.
Ruben zog eines der verstaubten alten Bücher aus dem Regal und stutzte. Hinter dem Buch an der Rückseite des Regals war ein kleiner Schalter. Neugierig wie er war, betätigte er ihn und zu seiner Überraschung schwang das Regal nach hinten auf und gab einen getäfelten, kleinen Raum frei. Ruben sah sich kurz um, um sicherzugehen, dass ihn niemand gesehen hatte, und schlüpfte dann in den Raum. Neben der Tür, welche eigentlich ein Regal voll mit Büchern war, tastete er nach einem Lichtschalter, knipste schließlich doch seine Taschenlampe an und fand ihn schließlich. Er betätigte ihn, die Tür schwang zu und ein mäßiger Lichtstrahl beleuchtete das Zimmer. Es schien sich um ein Büro oder ein Arbeitszimmer zu handeln. Überall an den Wänden standen Regale aus dunklem Holz, voll mit Büchern, Ordnern und Büroutensilien wie Locher und Tacker. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch aus Eichenholz. Massiv, alt, so wie fast alles in Kaene Manor. Neugierig trat Ruben näher, setzte sich auf den Schreibtischstuhl und öffnete einer der Schubladen. Sie war voll mit Papierkram. Ordner mit der Aufschrift Romanideen und Charaktermappe. Das hier war Gregs Arbeitszimmer. Oder viel mehr, ein weiteres. Doch warum war dieser Raum so sehr versteckt? Warum nutzte Greg ihn überhaupt? Hatte er etwas zu verbergen? Ruben wühlte in der Schublade. Unter den ganzen Ordnern fand er, gut verschnürt, einen Haufen Briefe. Allesamt aus altertümlichem Papier, abgegriffen so als hätte man sie schon tausendmal gelesen. Ruben zog einen aus dem Stapel und wollte ihn gerade öffnen, da hörte er Schritte. Er steckte den Brief in seine Hosentasche, warf den restlichen Stapel zurück unter die Ordner im Schubfach und schloss dieses. Dann sprang er auf, lief zu der Geheimtür, löschte das Licht und huschte zurück in die Bibliothek.
Gerade noch rechtzeitig, denn als er vor dem verschlossenen Regal stand, betrat Gregory den Raum.
„Ruben“, sagte er. „Suchst du dir neuen Lesestoff?“
Greg stand neben dem grünen Ohrensessel in der Mitte des Raumes, einen Block und einen Füllfederhalter in der Hand. Er trug sein Lieblingshemd, ein dunkelgrünes mit Karos in Grau, und hatte seine Haare streng zurückgebunden. Er sah müde aus, erschöpft.
„Ja“, antwortete Ruben. „Kannst du mir was empfehlen?“
Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, sein Herz schlug aber noch sehr schnell, aufgrund der Aufregung fast erwischt worden zu sein. Der Brief in seiner Tasche wog plötzlich mehrere Tonnen. Wie Schuld, die auf ihm lastete. Er hätte nicht herumschnüffeln sollen.
Greg schien einen Moment zu überlegen, dann hellte sich sein Gesicht auf, seine Gesichtszüge entspannten sich. Ein Lächeln huschte darüber.
„Was hältst du davon, den ersten Entwurf meines ersten Kapitels zu lesen?“, fragte er. „Das Buch handelt von einem jungen Mann, der mit seinen Freunden eine alte Burgruine erkundet. Es ist ein ganz neues Genre für mich und ich wüsste gerne, was du von diesem Einstieg hältst.“
Ruben stutzte. Er wusste für einen Moment nicht, wie er reagieren, geschweige denn, was er sagen sollte. Er durfte als erster dieses Kapitel lesen? Er durfte überhaupt etwas von Greg lesen, dass noch nicht fertig war? Der junge Mann fühlte sich geschmeichelt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Ich darf das wirklich lesen?“, fragte er noch immer unsicher.
Greg kam auf ihn zu, legte seinen Notizblock und den Stift in den Ohrensessel und zog Ruben in seine Arme.
„Warum bist du so unsicher, Liebster? Denkst du, ich schätze deinen Rat nicht?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Ruben ehrlich. Er sah ihm in die Augen und seine Knie wurden weich. „Manchmal komme ich mir vor wie ein dummes Kind. Ich hab doch von gar nichts wirklich Ahnung. Ich weiß nicht mal wieso du mit mir zusammen sein willst.“
Greg küsste sanft seine Lippen.
„Hör mal Ruben“, fing er an. „Ich bin mit dir zusammen, weil ich dich liebe. Und weil du klug bist. Viel klüger und auch reifer als andere in deinem Alter.“
Ruben wollte sich ihm entziehen, aber Greg legte seine Hände an Rubens Kopf und zwang ihn, ihn anzusehen.
„Das bin ich nicht“, widersprach Ruben. „Andere in meinem Alter wissen was sie beruflich machen wollen, haben eine eigene Wohnung, eine Freundin oder einen Freund und regelmäßig Sex. Nichts davon trifft auf mich zu.“
Resigniert versuchte er, Gregs durchdringen Blick zu entkommen. All seine Gefühle und Gedanken sprudelten plötzlich aus ihm raus. So eine Wirkung hatte nur Gregory auf ihn.
„Ruben du musst noch nicht wissen, was du werden willst. Und außerdem hast du ja schon angefangen, es herauszufinden.“ Greg lächelte leicht. „Eine eigene Wohnung brauchst du nicht. Hier auf Kaene Manor ist genug Platz für uns beide. Es sei denn, du möchtest eine eigene Wohnung. Dann würde ich dir eine Mieten.“
Ruben schüttelte energisch den Kopf.
„Nein“, sagte er bestimmend. „Ich will bei dir bleiben.“
„Gut“, meinte Greg ruhig. „Einen Freund, wenn du es so nennen willst, hast du. Mich. Und was den Sex angeht: Ich möchte nicht umsonst, dass wir es langsam angehen. Ich weiß nämlich, wie es ist, wenn etwas zu schnell geht und man etwas tut, was einem eigentlich Angst macht.“
Ruben schwieg eine Weile. Wie konnte Greg nur so genau wissen, was in seinem Kopf vorging? Sollte er vielleicht die Situation nutzen und mit ihm über seine Ängste reden? Immerhin war der Ältere bisher sehr einfühlsam und lachte ihn auch nicht aus.
„Woher weißt du das?“, fragte er jedoch, um ein wenig vom eigentlichem Problem abzulenken. Und weil er neugierig war.
Greg ließ ihn los, löste sich von ihm und setzte sich, nachdem er seine Schreibunterlagen hochgenommen hatte, in den Sessel. Dann sah er zu Ruben auf, legte sein Zeug neben dem Sessel auf den kleinen Beistelltisch und klopfte sich auf den Oberschenkel.
Ruben kam der unausgesprochenen Einladung gerne nach und schwang sich auf seinen Schoß. Er legte die Arme um ihn und gab ihm einen sanften Kuss.
„Ich war 15, als ich das erste Mal verliebt war“, begann Greg. Liebevoll strich er Ruben eine Strähne aus dem Gesicht. „Wir beide waren unglaublich unerfahren und naiv. Wir dachten, es muss so sein, wie in Filmen und Pornoheftchen.“ Er schien plötzlich ganz in seinen Erinnerungen verschwunden. „Das Baumhaus war der Ort, an dem es das erste Mal geschah. Wir hatten keine Kondome und kein Gleitgel. Nur eine Flasche Sonnenblumenöl aus der Speisekammer.“ Er lachte fröhlich auf. „Wir waren uns erst uneins, wer denn empfangen möchte, aber schließlich war klar, dass ich es sein würde. Natürlich hatte ich keine Ahnung, welche Stellung beim ersten Mal am besten war, und wie vorsichtig man sein musste.“ Eine Weile ruhte Gregs Blick auf einen Punkt irgendwo hinter Ruben, dann sprach er weiter. „Er bereitete mich nicht richtig vor und als er schließlich in mich eindrang, tat es einfach nur weh. Ich wollte, dass er weitermachte, weil ich glaubte, es müsse irgendwann besser werden, aber das tat es nicht. Ich hatte Glück, dass er mich bei seinem stümperhaften Versuch mich zu befriedigen nicht verletzt hat.“
Ruben sah ihn mit großen Augen an.
„Und du hast es trotzdem nochmal getan?“
Greg lachte bitter auf.
„Ich hab es wieder und wieder getan und mit der Zeit kam Routine in die Sache und wir wussten, wie es besser geht. Irgendwann machte es Spaß und ich kam sogar ein paar Mal zum Höhepunkt.“
„Dann tut es nicht immer weh?“, fragte Ruben und kam damit seiner größten Angst näher.
Greg schüttelte den Kopf.
„Nein“, konnte er den Jungen beruhigen. „Wenn man es ruhig angeht und auf die Reaktionen seines Partners achtet, dann ist es sehr schön. Selbst beim ersten Mal.“
„Und warum tun wir es dann nicht?“, fragte Ruben mit klopfendem Herzen.
Greg zog ihn mit einer Hand im Nacken zu sich, lehnte seine Stirn gegen die seines Jungen.
„Weil ich möchte, dass es etwas ganz Besonderes wird. Also bitte ich dich, hab Geduld. Ich verspreche dir, es wird sich lohnen.“
Ruben seufze leicht. Das war vielleicht nicht das, was er hören wollte, aber es war etwas, womit er leben konnte.
Mit den handbeschriebenen Seiten des ersten Kapitels in der Hand saß Ruben schließlich in eine Decke gehüllt auf der Matratze im Baumhaus. Auf seinem Schoß zusammengerollt, leise schnurrend, lag Streuner. Ruben kraulte die Katze mit einer Hand. Die Taschenlampe hatte er neben sich so ins Regal legen können, dass sie ihm auf die Seiten leuchtete. So konnte er stundenlang hier sitzen und lesen. Und liebend gerne hätte er dies auch getan, denn schon die ersten zwei Seiten von Gregs neuem Roman zogen ihn in seinen Bann und wollten ihn nicht mehr loslassen. Er überlegte, das Kapitel einfach noch einmal zu lesen, nachdem er es beendet hatte, entschied sich dann aber doch dagegen. Er hoffte nur, Greg würde bald mit dem zweiten Kapitel fertig werden. Er wollte wissen, was in dem alten Gemäuer, welches die Protagonisten betreten hatten, so vor sich ging. Was waren das für Stimmen? Warum gingen Türen von allein auf? Ein klein wenig fühlte sich Ruben an Kaene Manor erinnert. Mit den langen Fluren, den knarzenden Dielen und den seltsamen Geräuschen, die das Haus vor allem nachts von sich gab. Vielleicht hatte Gregory sich sogar von seinem Haus inspirieren lassen? Wenn man so drüber nachdachte, dann konnte sogar einer der Protagonisten leicht an Ruben erinnern. Der junge Mann lachte kurz auf. Was für ein schöner Gedanke. Er selbst, auf ewig festgehalten zwischen, nun, wie lang würde der Roman wohl werden, dreihundert Seiten geschriebenen Wortes. Irgendwie klang das romantisch. Fast so romantisch, wie das was Greg zu ihm gesagt hatte. Er wollte, dass ihr erstes Mal etwas ganz besonderes wurde. Nun, wenn das kein guter Grund war, um zu warten.
Ruben wollte gerade die Seiten zur Seite legen, um die Katze von seinem Schoß zu schieben, da hörte er etwas. Erst war es nur ein leises Rascheln im Hintergrund, dann wurde es lauter. Er hörte Schritte, die sich dem Baumhaus näherten. Ruben stand auf und schob dabei Streuner von seinem Schoß. Er sah nach draußen, konnte aber nichts erkennen, da es bereits fast ganz dunkel draußen war. In der Ferne hörte er einen Vogel, mehr nicht. Dann ein Lachen, hell und klar und ein etwas tieferes. Das letzte kannte er, würde es immer und überall wiedererkennen. Es war das seines Vaters. Und auch das erste kam ihm dunkel bekannt vor, er konnte es aber beim besten Willen nicht zuordnen. Was wollte Kaene Manor ihm sagen, ihm zeigen, was er nicht verstand. Und wollte es das überhaupt? Hatten Häuser eine Seele? Oder war es nur die Energie derer, die an diesem Ort gelebt hatten? Ruben lauschte in die Nacht, konnte aber nichts mehr hören. Langsam wurde es kalt. Er fröstelte, rieb sich die Oberarme und schauderte. Langsam machte er sich auf den Weg zurück ins Haus.