Der Krug in Vals Händen entglitt ihren völlig kraftlosen Fingern, sodass er zu Boden fiel und in tausend Splitter zerschellte. Wein spritzte in alle Richtungen, übergoss ihre Füße, lief über den Boden und traf auch den Perversen am Saum seiner Tunika.
Fluchend sprang dieser von seinem Stuhl auf, rutschte fast auf dem nassen Boden aus und wirbelte schließlich zu ihr herum, um ihr eine saftige Ohrfeige zu verpassen, die Val geradezu umriss. Sie landete auf Händen und Knien in dem Massaker, fühlte sich jedoch wie betäubt und spürte den Schmerz ihrer flammend heißen Wange überhaupt nicht. Alles, was sie wahrnehmen konnte, waren immer noch Alexeys Schmerzensschreie. Und auch die hörten wie die Peitschenhiebe zuvor einfach nicht mehr auf.
„Mach das gefälligst weg, Sklavin!“, wurde sie wütend angezischt und spürte kurz darauf einen leichten Tritt in die Seite, als sie nicht sofort reagierte. Es war zwar nicht annähernd so schlimm, um sie zu verletzen, ließ sie jedoch wieder ihre malträtierten Rippen spüren, sodass Val vor Schmerz keuchte und sich nun doch wieder aufrappelte, um etwas zu holen, mit dem sie das Malheur beseitigen konnte. Zuvor schob sie jedoch noch die groben Scherben zusammen und nahm sie mit sich, um sie zu entsorgen. Doch eigentlich waren der zerbrochene Krug und der verschüttete Wein so ziemlich das Letzte, woran sie gerade denken konnte. Sie wollte unbedingt zu Alexey und dem ein Ende bereiten, was auch immer man ihm in diesem Augenblick antat, doch das konnte sie nicht. Nicht nur, weil sie nichts gegen diese Leute ausrichten konnte, sondern weil auch noch der Weg zu dem kleinen Garten von mehreren Wachen versperrt wurde. Niemand durfte dort hin. Sie überprüfte jeden erdenklichen Zugang so unauffällig wie möglich, während sie immer wieder zusammenzuckte, sobald Alexeys Schreie überdeutlich zu ihr durchdrangen. Doch, egal, wie sehr sie es versuchte, ohne aufzufallen und sich alle nur erdenklichen Möglichkeiten durch den Kopf gehen ließ – sie konnte einfach nicht zu ihm.
Val blieb am Ende nichts anderes übrig, als dem Befehl des Perversen nachzukommen und dabei tausend Tode zu sterben. Es war die reinste Qual und bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen, nichts für Alexey tun zu können, außer abzuwarten und zu hoffen, dass sich das vielleicht noch ändern würde und sie in der Zwischenzeit nicht wahnsinnig wurde.
***
Das war mit Abstand der beste Tag in Ciceros Leben. Er hatte zwar nicht die geringste Ahnung, was der Bastard verbrochen hatte, um so von seiner Domina bestraft zu werden, aber Scheiße auch, er hatte es absolut verdient!
Jeder seiner Schmerzensschreie war Cicero runtergegangen wie süßester Nektar. Der einzige Wermutstropfen dabei: Er konnte den größten Teil der Bestrafung nicht mit eigenen Augen mitansehen, denn die Domina wünschte mit ihrem neuen Stecher allein gelassen zu werden, nachdem das Auspeitschen selbst nicht die versprochene Wirkung erzielt hatte.
Hart im Nehmen war der Bluthund ja, das musste man dem Bastard lassen. Cicero würde es nicht fertig bringen, sich den kompletten Rücken aufreißen zu lassen und dabei nicht wenigstens vor Schmerzen zu stöhnen. Aber was auch immer danach gefolgt war, es hatte den Wichser so laut vor Schmerzen brüllen lassen, dass ihm irgendwann die Ohren davon klingelten. Ein wirklich herrliches Klingeln, das fast den ganzen Tag anhielt, bis das Arschloch einfach keine Stimme mehr zum Brüllen hatte. Aber auch sein röchelndes Grunzen und Stöhnen war wie Musik in Ciceros Ohren.
Selbstverständlich meldete er sich schließlich freiwillig, um mit Claudius den blutenden, bewusstlosen Scheißhaufen vom Boden aufzukratzen und ihn wie eine frisch erlegte Beute durch die ganze Villa zu schleifen; dabei eine Blutspur hinter ihnen herziehend, die sich sehen lassen konnte. Wie Asseln liefen eilig aus allen Ecken und Winkel Sklaven herbei, um den Boden zu reinigen, bevor sich die Domina an dem Schmutz stören und eventuell ihr Abendessen wieder hervor würgen konnte. Was nie geschehen würde. Die Frau war den Anblick von Blut durchaus gewöhnt, wie Cicero sehr wohl wusste. Immerhin war das hier nicht die erste Bestrafung in der Villa und würde hoffentlich auch nicht die letzte sein.
„Ich habe den Raum noch nie von innen gesehen“, hauchte Claudius beinahe ängstlich, als sie die Kammer des Bastards betraten und ihn wie den Dreck, der er war, am Boden abluden. Dabei machte der Helm, den er immer noch trug, einen dumpfen Klang, als er auf dem harten Stein aufschlug.
Sein Freund schiss sich fast vor Angst in die Hosen, wie Cicero grimmig feststellte, während er sich selbst nur kurz umsah. Was interessierte ihn, wie dieses Arschloch lebte? Lieber betrachtete er dieses unfreie Nichts zu seinen Füßen und trat ihm schließlich so heftig in die Seite, dass er sich dabei fast ein paar Zehen brach. Keine gute Idee, zumal es überhaupt nichts bewirkte. Der Kerl rührte nicht mal den kleinen Finger, wobei das schwer zu erkennen war. Hände und Füße von dem Wichser waren mit blutigen Lumpen umhüllt. Vielleicht hatte man ihm die Nägel gezogen.
Gerade als Cicero in die Hocke ging und sich das genauer ansehen wollte, schnellte Claudius’ Arm vor und hielt ihn davon ab. „Was machst du da? Die Domina hat befohlen, ihn nicht weiter anzurühren!“
Hatte sie das? Cicero hatte nichts dergleichen vernommen. Zumindest konnte er sich mit seinem ach so miesen Gedächtnis nicht mehr daran erinnern.
„Ich will mich nur vergewissern, dass der Kerl noch atmet und nicht schon bald hier drin vor sich hin fault.“ Lahme Ausrede und Claudius wusste es.
„Cicero!“ Der Tonfall seines Freundes war warnend. Hatte der Kerl etwa doch Eier im Sack?
„Die Sache mit den Sklavinnen mag ich dir durchgehen lassen, aber wenn es um den Bluthund der Domina geht … Du weißt, dass ich es melden muss, wenn du dich nicht an ihre Anweisungen hältst. Ich werde sicher nicht für dich den Kopf hinhalten, wenn sie es anderweitig herausfindet!“
„Schon gut, schon gut.“ Cicero hob die Hände. „Scheiß dich nicht ein.“ Er erhob sich nur widerwillig.
Als sein Freund sich zum Gehen wandte, konnte er es sich dennoch nicht verkneifen, noch einmal ordentlich mit dem Fuß auszuholen und dem Bastard mit aller Kraft zwischen die Beine zu treten. „Das ist dafür, dass du mir die kleine Schlampe streitig gemacht hast. Kannst dich aber darauf verlassen, dass ich sie mir heute ordentlich zur Brust nehmen werde. Das hübsche Ding wird sicher froh sein, mal nicht vom Bluthund der Domina wie eine räudige Hündin gefickt zu werden.“
Keine Reaktion. Na, vielleicht kam ihm der Wichser in Zukunft tatsächlich nicht mehr in die Quere. Das würde ihm den heutigen Tag wahrlich noch mehr versüßen, und die kleine Fotze zu knallen wäre dann noch der Zuckerguss oben drauf.
„Komm, Claudius!“ Cicero ignorierte den missbilligende Gesichtsausdruck seines Freundes und ging mit gerecktem Kinn an ihm vorbei. „Lass uns gehen. Ich hab heute noch etwas Wichtiges vor.“
***
Val hielt sich die schmerzhaft pochende Seite, als sie die Räume des Perversen endlich verlassen konnte. Sie hatte das Gefühl, gar nicht mehr richtig Luft zu bekommen und das lag nicht ausschließlich an der entsetzlichen Sorge um Alexey. Sie bekam tatsächlich nicht richtig Luft, da sie jedes Mal einen Stich verspürte, wenn sie tiefer einatmete. Verdammter Scheißkerl!
Es war eine Sache, sich immer wieder vergewaltigen zu lassen, ohne sich wehren zu dürfen, aber sich jetzt auch noch verprügeln zu lassen, weil das Arschloch keinen hoch bekam? Das setzte dem Ganzen noch die Krone auf!
Dennoch schob Val ihre eigenen Probleme zur Seite und ihre Schritte beschleunigten sich. Sie wurde nur von einem einzigen Impuls angetrieben – sie musste zu Alexey!
Als seine Schreie schließlich verstummt waren … Das Gefühl hätte sie beinahe selbst umgebracht. Sie hatte nicht gewusst, dass es sie so schrecklich mitnehmen würde, wenn man ihm wehtat, doch das tat es. Wie wahnsinnig!
Val wurde beinahe von den Füßen gerissen, als sich wie aus dem Nichts plötzlich eine große Hand um ihren Oberarm schloss und sie mit der Kraft einer Schraubzwinge festhielt. Ihr erster Reflex war es, sich zu wehren, doch als sie hochsah, erkannte sie die lüsterne Wache mit dem Dauerständer!
Alexey hatte so lange dafür gesorgt, dass sie ihre Ruhe vor diesem Scheißkerl hatte, doch nun, wo er ihr nicht mehr helfen konnte, hielt niemand mehr dieses Schwein auf. Was Val im Moment überhaupt nicht gebrauchen konnte, da sie so schnell wie möglich zu Alexey wollte, um nachzusehen, wie es ihm ging und was sie für ihn tun konnte. Oder ob er überhaupt noch lebte!
Val zwang sich, ruhig zu bleiben und ließ sich vorerst von dem Kerl mitziehen. Je schneller sie diese Sache hier erledigte, umso schneller konnte sie zu Alexey, also widersetzte sie sich auch nicht, sondern ließ sich in den Gang zu den Sklavenquartieren bringen, und obwohl Alexeys Kammer nun zum Greifen nahe war, heftete sie ihren Blick fest auf den Boden, bis sie ihre Endstation erreicht hatten – ein kleiner Lagerraum, in dem bereits zwei Fackeln brannten, als wäre das hier geplant gewesen.
Natürlich. Das war es. Von langer Hand, sobald Alexeys erster Schmerzensschrei durch die Villa gehallt war. Verdammter Scheißkerl!
Kurz sondierte Val den vollgestellten Raum, ehe sie auch schon mit dem Bauch voran über ein paar Holzkisten gebeugt wurde. Was der Kerl zu ihr sagte, während er diesen Hauch von Nichts, den sie trug, über ihren Hintern hoch zog und über ihrem Rücken ausbreitete, interessierte Val nicht. Sie konnte sich im Moment auch überhaupt nicht darauf konzentrieren, auch nur ein Wort zu übersetzen, stattdessen schoss ihr das Adrenalin in Strömen durch die Adern und sie musste sehr bewusst einatmen, um mit dem Stechen in ihrer Brust am Ende nicht ohnmächtig zu werden.
Der Wichser hielt mit einer Hand ihren Nacken umschlungen und drückte sie nieder, während er mit der anderen an seiner Uniform herumfummelte. Im Moment konnte sie nicht viel mehr tun, als auszuharren, da er zu nahe stand, doch offenbar hatte Mr. Dauerständer ein ernsthaftes Problem, sobald er seinen Schwanz ausgepackt hatte, denn er fluchte verhalten und … Sie sollte ihn wohl besser in Mr. Schlaffi umtaufen.
Val glaubte eigentlich nicht an Zufälle. Sie glaubte für gewöhnlich an gar nichts, doch dass hier und heute zwei Kerle bei ihr ihre Erektion verloren, obwohl sie beide eindeutig Lust auf sie gehabt hatten – das war schon ein gewaltiger Zufall und ließ selbst sie für einen Moment überlegen, was es damit auf sich hatte.
Doch bevor der Kerl auf die Idee kommen konnte, sie ebenfalls für seine schlaffe Nudel zu schlagen, verlagerte Val ihr Gewicht auf ein Bein und strich mit dem Fuß des anderen Beins das des Kerls hinter ihr hoch, während sie so weit wie möglich den Kopf zur Seite drehte und Mr. Schlaffi verführerisch anlächelte. „Brauchen du Hilfe?“
Kurz hielt der Kerl vollkommen verblüfft inne, ehe sich ein widerliches Grinsen auf seinem Gesicht abzeichnete und er ihren Nacken losließ. Er trat einen halben Schritt zurück und deutete auf seinen unmotivierten Schwanz.
Auch ohne seine Worte zu übersetzen, verstand Val, was der Kerl von ihr wollte, weshalb sie noch ein bisschen mehr lächelte, ihre Hände auf seine Brust legte und sinnlich daran hinab strich, während sie andeutete, jeden Moment vor ihm auf die Knie zu gehen, um ihm den Schwanz zu lutschen. Was sie stattdessen mit einem ihrer Knie machte, war jedoch etwas gänzlich anderes. Val rammte es ihm mit ganzer Kraft in seine Weichteile und als Mr. Schlaffi sich vor Schmerz krümmte, griff sie nach einer der ungenutzten Öllampen aus Ton, um sie ihm über den Schädel zu ziehen. Was ihr noch nicht genügte. Sobald der Kerl auf den Knien war, nahm sie das kleine Gefäß mit beiden Händen und schlug damit noch ein paar Mal zu.
Val ließ erst von ihm ab, als er sich wirklich nicht mehr rührte und dabei war es ihr in diesem Augenblick völlig egal, ob sie ihn umgebracht hatte, oder er morgen einfach nur wahnsinnige Kopfschmerzen haben würde. Sie blieb auch nicht länger, um nachzusehen, sondern ließ die Öllampe einfach fallen und hetzte aus dem Raum. Val musste jedoch schon bald ihr Tempo drosseln, denn das Stechen in ihrer Brust ließ nicht zu, dass sie zu tief einatmete, doch ansonsten ignorierte sie es.
Val sah sich nur kurz um, ob jemand im Gang war, der sie dabei erwischen könnte, wie sie in Alexeys Kammer schlich, doch nachdem sie sicher war, dass niemand sie sehen würde, öffnete sie die Tür und schlüpfte hinein, nur um sich einen Moment später auf den Knien wieder zu finden. Sie war auf etwas Klebrigem ausgerutscht, das sich überall in ihrer unmittelbaren Umgebung auf dem Boden befand. Ein dunkler, schwerer Geruch hing fast wie eine greifbare Masse im Raum und machte das Atmen schwer. Val ignorierte ihn und auch das klebrige Zeug am Boden. Stattdessen tastete sie sich vorwärts und brauchte nicht lange, bis sie Alexey fand. Oder das, was die Eiskönigin von ihm übrig gelassen hatte.
Vals Finger flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings über das, was sie darunter ertastete. Grober, völlig durchnässter Stoff, etwas, das einmal Alexeys Haar gewesen sein musste, sich aber nun wie eine undefinierbare Masse anfühlte, so verdreckt war es, und schließlich stieß sie auf etwas Hartes und Kaltes. Sein Helm!
Bei Gott, sie hatten ihm noch nicht mal den Helm abgenommen und so, wie es sich anfühlte, lag Alexey fast komplett auf seinem Gesicht! Hätte sie nicht deutlich gespürt, wie sich seine massigen Schultern unter seinen schweren Atemzügen bewegten, hätte sie angenommen, er wäre mittlerweile längst erstickt.
Obwohl Vals erster Impuls es war, ihm den Kopf zur Seite zu drehen, tastete sie sich zunächst den Helm entlang zu seinem Nacken, um herauszufinden, ob sein Genick vielleicht etwas abbekommen hatte, doch als Val keine Haut berührte, sondern das Gefühl hatte, sofort mit den Wirbeln Bekanntschaft zu machen, stieß sie einen erstickten Schrei aus und ließ sofort von Alexey ab.
Hastig rutschte sie auf Händen und Knien über den Boden, ertastete, wo die Tür war, zog sich daran hoch und riss sie auf.
Val blieb nicht stehen und sah auch nicht an sich hinunter, während sie sich Alexeys Blut an ihrem eigenen Körper abwischte, da sie kaum etwas am Leib trug, das sie dafür hätte benutzen können. Ihr Weg führte sie zurück in den Lagerraum, in dem Mr. Schlaffi zu ihrer Zufriedenheit immer noch artig am Boden lag. Sie stieg über ihn drüber, öffnete die Kisten und suchte die Regale ab, um alles mitzunehmen, was sie nur brauchen konnte, ehe sie sich eine der Fackeln aus der Halterung nahm und zu Alexeys Kammer zurücklief.
Sie sah ihn nicht an, während sie vorsichtig über den Boden rutschte, um die Sachen auf sein Bett zu legen und dann mit der Fackel sämtliche Ölschalen, die sie im Raum finden konnte, entzündete, ehe sie sie in die Halterung neben der Tür steckte.
Erst dann, erst als sie einmal so tief wie möglich eingeatmet und sich auf das Wesentliche und vor allem auf das Lebenswichtigste besinnt hatte, drehte sie sich um.
Es war dennoch ein Schock und machte zugleich wieder deutlich klar, warum Chirurgen keine Menschen behandeln sollten, die ihnen besonders nahe standen. Wenn man in so einem Fall versagte …
Val schüttelte den Kopf. Das hatte hier und jetzt keinen Platz. Sie würde später noch genug Zeit haben, über alles nachzudenken, doch jetzt musste sie handeln, also ließ sie sich wieder neben Alexeys Kopf auf dem Boden nieder, ignorierte die rohe Masse an Fleisch und Knochen unter ihren Fingern, während sie seinen Nacken und einen Teil der Wirbelsäule abtastete und befand, dass zumindest dieser Bereich von ihm soweit stabil sein müsste, dass sie ihn mit aller Kraft, die sie nur aufbrachte, auf die Seite drehen konnte.
Es war, als wollte man einen Berg mit bloßen Händen bewegen. Der rutschige Untergrund machte es nicht besser, also warf Val eine der groben Wolldecken auf den Boden und versuchte es erneut.
Bei der Kraftanstrengung brach ihr der Schweiß am ganzen Körper aus und zwischendurch bekam sie kaum noch Luft, doch schließlich schaffte Val es, Alexey vom Bauch auf die Seite zu drehen. Sofort nahm sie ihm vorsichtig den Helm ab und legte ihm ein zusammengefaltetes Tuch unter den Kopf, damit er nicht auf blankem Stein lag. Ihn auf den Rücken zu drehen, wäre zwar besser gewesen, aber das, was sie da unter seinem blutgetränkten Umhang gefühlt hatte, hielt sie davon ab. Also musste sie mit dem arbeiten, was sie hatte.
Zunächst überprüfte sie gründlich Alexeys Vitalfunktionen, obwohl sie natürlich von der Anatomie eines Vampirs oder eben Bluttrinkers nicht die geringste Ahnung hatte und eigentlich immer noch nicht an das alles glauben wollte. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, dass er schon längst tot wäre, wäre er ein einfacher Mensch. Dennoch schlug sein Herz noch, sogar ungewöhnlich kräftig und auch sein Atem ging zwar schwer, doch in beruhigender Regelmäßigkeit.
Als Val jedoch Alexeys Pupillenreflexe überprüfen wollte, konnte sie ein entsetztes Keuchen nicht länger unterdrücken. Es gab keine Pupillen mehr, die Val hätte überprüfen können. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, doch offenbar war genau das eingetreten, von dem Alexey ihr erzählt hatte. Seine Augen waren verbrannt worden. Vermutlich von der Sonne.
Da sie im Augenblick ohnehin nichts anderes für ihn tun konnte, machte Val einfach weiter. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wie er das machte, war Alexeys Zustand doch offensichtlich soweit stabil, dass er nicht in Lebensgefahr schwebte, also begann sie seine Verletzungen zu überprüfen. Da sie schon mal bei Alexeys Augen war, begann sie seinen Schädelknochen nach Brüchen abzutasten. Die Nase musste sie auf jeden Fall richten, doch zuvor überprüfte sie noch den Rest seines Gesichts, das aber relativ unverletzt war. Einmal davon abgesehen, dass sich Alexey offenbar immer wieder auf die Unterlippe gebissen hatte und diese entsprechend aussah. Doch als Val ihm den Mund öffnete, um seine Zähne zu kontrollieren … Es war ein weiterer Schlag, festzustellen, dass ihm die Eckzähne herausgerissen worden waren. Seine Fänge, verdammt noch mal!
Da die restlichen Zähne und auch seine Zunge unversehrt waren, richtete Val ihm die gebrochene Nase. Sie würde später schauen, ob es nötig war, sie irgendwie zu fixieren. Sanft legte sie Alexeys Kopf wieder zurück auf das Tuch und machte mit ihrer Untersuchung weiter.
All das, was sie in der nächsten halben Stunde zu Tage beförderte, erinnerte Val an rivalisierende Straßenbanden, die auf Rache aus waren, Folterverhöre, brutal verpasste Denkzettel und eindeutige Botschaften. Sie hatte schon so vieles im Laufe ihrer Zeit als Chirurgin auf dem OP-Tisch liegen gehabt, doch Alexeys Körper schien diese Fälle alle in sich zu vereinen.
Sein Rücken lag vom Schädelansatz bis zum Steißbein in Fetzen. Haut war nicht mehr erkennbar, dafür umso mehr, was sich für gewöhnlich darunter verbarg, doch wenigstens hatte die Blutung aufgehört. Offenbar schon seit einer ganzen Weile. Was gut war, denn den Rest davon konnte Alexeys Körper wirklich gut gebrauchen.
Sein ganzer Brustkorb und der Bauch waren dafür auf komplett andere Weise zerstört worden. Verbrannt und verstümmelt. Das Abdomen jedoch war zumindest weich und unauffällig. Keine inneren Verletzungen, soweit Val feststellen konnte und auch keine weiteren Brüche.
Als Val tiefer ging, brannten plötzlich Tränen in ihren Augen, die sie jedoch mit aller Gewalt unterdrückte. Soweit sie erkennen konnte, war zwar noch alles an Alexey dran, doch man hatte seine Geschlechtsteile fürchterlich bearbeitet. Val konnte auch diesen verdammten Ring an Alexeys Wurzel erkennen, doch es war alles so geschwollen, dass sie ihn unmöglich entfernen konnte. Auch hier war er verbrannt und mit Sicherheit auch gequetscht worden. Das Brandmuster um seine Hoden sah merkwürdig aus. Irgendwie erinnerte es Val an einen eingebrannten Handabdruck. So genau konnte sie sich das nicht erklären. Sie hielt sich aber auch nicht weiter damit auf, sondern überprüfte zuletzt Alexeys Arme und Beine.
Vorsichtig wickelte sie dabei die blutigen Lumpen ab und erkannte mit neuerlichem Entsetzen, dass ihm nicht nur sämtliche Fingernägel fehlten, sondern … oh Gott … auch der kleine Finger an seiner rechten Hand. Doch das war offenbar noch nicht genug der Folter gewesen, denn Alexeys Füße hatte es sogar noch weitaus schlimmer erwischt …
Nachdem sie ihre Untersuchung beendet hatte, fühlte Val sich, als stünde sie inzwischen komplett neben sich. Da war kein Gefühl mehr in ihrer Brust. Keine Emotion und auch kein Gedanke. Sie bewegte sich wie mechanisch, als sie schließlich aufstand und ein paar der mitgebrachten sauberen Tücher über seinen offenen Rücken legte. Anschließend breitete sie eine Decke über Alexey aus, ehe sie sich grob das Blut von den Händen und Füßen wischte und sich auf den Weg machte, um Wasser zu holen. Eine Menge Wasser. Am besten so viel sie nur tragen konnte und das so unauffällig wie möglich.
Leider konnte sie kaum etwas für Alexey tun. Sie hatte nicht einmal ansatzweise die dafür nötigen Mittel. An seinem Rücken gab es nichts mehr zu nähen. Seinen erblindeten Augen konnte sie nicht helfen und was den ganzen Rest anging … Sie hatte nicht einmal annähernd genug Verbandsmaterial, um Alexey ausreichend zu versorgen. Nur ein paar saubere Tücher, die sie eventuell noch in Streifen reißen konnte, aber eben auch nicht wirklich steril waren, und warme Decken. Das war lächerlich wenig. Viel zu wenig. Selbst mit dem Wissen, dass er normalerweise sehr schnell heilte. Aber bedachte man das gesamte Ausmaß seiner Verletzungen … Val wusste wirklich nicht, wie es ab diesem Zeitpunkt weitergehen sollte.