Ihr blieb noch eine Stunde, danach würde man sie hinrichten.
Valeria oder Val, wie ihre ehemaligen Freunde sie genannt hatten, tigerte rastlos in der zwei Mal drei Meter kleinen Zelle auf und ab, in welcher sie ihren letzten Tag auf Erden verbracht hatte.
Diese unterschied sich kaum von der Isolationszelle, in der man sie die letzten zehn Jahre gefangen gehalten hatte. Einmal von der Gittertür und dem Fehlen ihrer wenigen Habseligkeiten abgesehen.
Ein Wärter stand am Ende des langen Korridors Wache und behielt sie ständig im Auge, als befürchte er, sie könne im letzten Moment vielleicht doch noch irgendwie ihrem Schicksal entkommen.
Val beachtete ihn kaum, versuchte stattdessen das Zittern ihres Körpers in den Griff zu bekommen. Es wollte ihr jedoch kaum gelingen.
Jede Faser in ihr wollte schreien und um sich schlagen. Im Wechselbad der Gefühle wurde sie von maßloser Wut aufgefressen und zugleich von panischer Angst niedergerungen.
Wieder und wieder ballte sie ihre verschwitzten Hände zu Fäusten, während sie den kurzen Weg vor den Gittern ihrer Zelle abschritt und in ihrem Kopf die Gedanken wild durcheinander purzelten.
So sinnlos es auch war, ging sie doch wie schon so oft jede einzelne Gerichtsverhandlung durch, die unzähligen Gespräche mit ihrem Anwalt, obwohl allein die bloße Erinnerung daran sie nur noch mehr schmerzte.
Egal wie sehr sie es auch drehte und wendete, Val konnte keinen Fehler finden. Ihr Anwalt und sie hatten getan, was in ihrer Macht stand, um das Todesurteil abzuwenden, doch am Ende konnten sie niemanden von Vals Unschuld überzeugen. Sie war dem Gesetz hilflos ausgeliefert, ohne weitere Chance dagegen anzukämpfen.
Das allein hatte sie all die Jahre die Isolation und Einsamkeit durchstehen lassen. Ohne diese winzige Hoffnung auf Freiheit wäre sie schon längst unter der Last ihres beschissenen Lebens zerbrochen. Dabei hatte sie schon davor eine Menge Scheiße ertragen müssen. Doch das hier war nun das Sahnehäubchen oben drauf und diese Ungerechtigkeit machte sie rasend.
Nicht länger dazu in der Lage, sich zu beherrschen, schlang Val ihre abgemagerten Finger um die kalten Stangen ihres Gefängnisses und zerrte in blinder Wut daran, während sie einen wilden Schrei ausstieß, der mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnerte.
Der Wachmann am Ende des Ganges musste sie für komplett irre halten, doch ihre wilde Raserei ließ seine unbewegte Miene lediglich noch härter und unbarmherziger erscheinen, während sich seine ganze Gestalt straffte, als würde er jeden Moment einen Angriff erwarten.
Da brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Weder rührten sich die Gitterstäbe auch nur einen Millimeter unter ihren Fingern, noch hatte Val die Kraft, um noch länger so zu toben.
Seit Tagen hatte sie sich jeder Nahrungsaufnahme verweigert. Lediglich etwas Wasser hatte sie getrunken, um ihre rasenden Kopfschmerzen etwas in Zaum zu halten. Ihr Körper forderte nun seinen Tribut und sie ließ sich schwer keuchend zu Boden gleiten.
Mit dem Rücken zu ihrem einsamen Beobachter lehnte sie sich schwach und zittrig an die Gitterstäbe ihres Gefängnisses, die Knie dabei angezogen und den Kopf in ihren Händen vergraben.
Obwohl ihr Körper heftig bebte und ihre Augen wie Feuer brannten, war sie doch nicht dazu in der Lage zu weinen.
Tränen waren ein Zeichen von Schwäche und diese Genugtuung würde sie niemals mehr jemandem geben, der sie verletzt hatte. Die Schwachen gingen unter. Nur die Starken überlebten. Das war eine Lektion, die sie schon sehr früh in ihrem Leben hatte lernen müssen. Besonders nach dem Tod ihres Vaters ...
Allein der Gedanke an ihn ließ sie ruhiger werden und sie konnte wieder leichter atmen.
Eigentlich sollte es sie nicht wundern, dass sie am Ende ihres Lebens wieder an den Anfang zurückdenken musste.
Wo hatte die Abwärtsspirale begonnen, die sie nun in diese beschissene Situation gebracht hatte? Vielleicht schon damals, als sie ihren Vater verloren hatte? War es vielleicht ihr schlechtes Karma aus vergangenen Leben oder einfach nur ein mieser Scherz Gottes, um all diese Rückschläge verdient zu haben?
Eigentlich glaubte Val nicht an diese Dinge. Weder an Gott noch an Karma oder Schicksal. Allerdings konnte sie nicht abstreiten, dass sie im Gegensatz zu anderen Menschen einen ziemlich großen Haufen an Scheiße im Leben abbekommen hatte. Selbst die wenigen glücklichen Erinnerungen in ihrem Leben waren überschattet von Trauer und Schmerz.
Angefangen beim Tod ihres Vaters, den sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte.
Vals Familie war nie reich gewesen. Ganz im Gegenteil. Als Kind war sie im ärmsten Schwarzenviertel der Stadt aufgewachsen. Mit einem Fuß immer auf der Straße und mit kaum etwas zu essen, aber ihrem Dad war es stets gelungen, sie ihr Elend für eine Weile vergessen zu lassen.
Selbst jetzt noch vermisste sie ihn wie wahnsinnig und wünschte sich, sie könnte sich noch ein letztes Mal in seine starken Arme kuscheln und den wohligen Duft seines Aftershaves einatmen, den sie immer mit dem Gefühl von Zuhause verbunden hatte. Auch wenn sie sich schon lange nicht mehr an sein Gesicht erinnern konnte, das Gefühl seiner behaglichen Nähe, die sie für so kurze Zeit beschützend eingehüllt hatte, hatte sich in ihre Seele gebrannt. Zumindest das hatte ihr niemals jemand nehmen können.
Sie war erst vier gewesen, als er zwischen die Fronten von rivalisierenden Banden geraten und erschossen worden war.
Selbst mit ihren wenigen Jahren hatte sie sofort begriffen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste, als ihr Daddy nicht zu ihr nach Hause gekommen war, um ihr wie jeden Abend eine Geschichte über Prinzen und Prinzessinnen vorzulesen.
Nie hatte er auch nur einen Abend ausfallen lassen. Nur der Tod hatte ihn davon abhalten können, zu seinem kleinen Mädchen zurückzukehren.
Val riss unvermittelt den Kopf zurück und schnappte nach Luft, als das überwältigende Gefühl des Verlustes sie mit überraschend intensiver Wucht traf.
Ihr Vater war schon seit Jahrzehnten tot und dennoch tat es plötzlich schrecklich weh, an ihn zu denken. Vermutlich lag das an ihren völlig überdrehten Nerven oder ihr Gehirn versuchte sich durch den Schmerz von der Tatsache abzulenken, was in weniger als einer Stunde mit ihr geschehen würde.
Es half tatsächlich ein bisschen in alter Scheiße herumzuwühlen, als der neuen offen entgegen zu treten. Zumindest schwächte es ihre Angst, während es ihrer Wut neue Nahrung gab und Wut war alle mal besser, als Angst zu haben. Der Meinung war sie schon immer gewesen.
Anstatt also wie ein jämmerlicher Haufen weiter auf dem Boden zu kauern, raffte Val sich wieder auf und ging auf zittrigen Beinen zu dem kleinen Waschbecken hinüber, das zugleich mit einer Toilette verbaut war.
Sie schöpfte sich ein paar Hand voll Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit feuchten Fingern durch die schwarzen wolligen Locken auf ihrem Kopf, die schon von weißen und grauen Strähnen durchzogen waren.
Ein Andenken an die letzten zehn Jahre im Knast. Immerhin war sie noch nicht einmal fünfzig.
Wenn man allerdings bedachte, dass ihre Mutter bereits mit Dreißig graue Haare bekommen hatte, könnte es auch einfach vererblich sein. Allerdings hatte diese sich zu Tode gesoffen und so den Vorgang vermutlich damit nur noch beschleunigt.
Kein großer Verlust für diese Welt und für Val schon gar nicht. Ihretwegen hätte sich ihre Mutter schon sehr viel früher aus dieser Welt verpissen können. Am besten noch, bevor sie nach dem Tod ihres Mannes diesen neuen Kerl anschleppen konnte, der Val nicht nur das Herz, sondern auch ein paar Knochen gebrochen hatte.
Würde sie wegen des Mordes an diesem Arschloch hier im Todestrakt sitzen, wäre das sogar fast ein kleiner Trost für sie, aber Fakt war nun einmal, dass der Kerl völlig ungestraft davongekommen und an einem simplen Herzinfarkt gestorben war. Dabei hatte sie ein paar der schlimmsten Jahre unter seinem Dach verbracht, obwohl es anfangs ganz anders ausgesehen hatte.
Vals volle Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln, während sie sich an ihre naive Unschuld zurückerinnerte, mit der sie ihrem neuen Stiefvater begegnet war.
Anfangs noch zögerlich hatte sie diesem Mann immer mehr Vertrauen geschenkt und manchmal sogar den Verlust ihres richtigen Daddys für eine Weile vergessen können.
Wie ihr Dad hatte dieser Scheißkerl ihr abends Geschichten von ihren geliebten Prinzen und Prinzessinnen vorgelesen. Sogar bei den Hausaufgaben hatte er ihr regelmäßig geholfen, während ihre Mutter bereits völlig weggetreten in ihrer eigenen Kotze nebenan im Wohnzimmer gelegen hatte.
Lange Zeit waren ihr nicht die merkwürdigen Blicke aufgefallen, die er ihr immer wieder zugeworfen hatte, oder hatte etwas Falsches in den Berührungen gesehen, die immer intimer geworden waren.
Erst kurz nach ihrem 9. Geburtstag hatte er ihr die rosarote Brille von der Nase gerissen, durch die sie stets ihr vertrauenvolles Verhältnis zu ihm gesehen hatte.
Eines Nachts war er zu ihr unter die Bettdecke gekommen und hatte unaussprechliche Dinge mit ihr getan, für die sie damals noch nicht einmal die richtigen Worte gekannt hatte. Ihre eigene Angst hatte sie damals gefesselt und sich ihm völlig ausgeliefert. Lange Zeit hatte sie nicht den Mut sich dagegen aufzulehnen, doch als sie es schließlich doch einmal tat, wurden aus seinen zärtlichen Bekundungen brutale Schläge, bevor er sich mit Gewalt das von ihr holte, wonach ihm so oft gelüstete.
Selbst jetzt noch drehte sich Val der Magen um, wenn sie an die finstere Zeit von damals zurückdachte und es schauderte sie vor Ekel, während ein ihr nur zu vertrautes Bedürfnis in ihr hochkroch, sich am ganzen Körper gründlich abzuschrubben.
Zum Glück war dieses beschissene Arschloch drei Jahre danach gestorben, bevor er sie hatte schwängern können. Aber da war der Schaden schon angerichtet. Ihr Vertrauen in die Männerwelt war schwer angeknackst worden und sie hatte viele Jahre und unzählige Stunden an Eigentherapie benötigt, um zumindest zu der Erkenntnis zu gelangen, dass nicht alle Männer so waren wie ihr Stiefvater.
Wenigstens war nach dieser Scheiße erst einmal Schluss mit ihrer Pechsträhne gewesen, denn bald nach dem Tod ihres Stiefvaters kam für Val viel zu spät das Jugendamt, um sie von ihrer versoffenen Mutter wegzuholen und in ein Waisenhaus zu stecken.
In ihrem Alter und mit ihrer Hautfarbe waren die Chancen auf Adoption gleich null gewesen, doch das hatte Val nie gekümmert. Sie hatte ihr Leben der Schule und dem Lernen gewidmet, um endlich etwas aus sich zu machen und von dem ganzen Scheiß wegzukommen, mit dem sie sich jahrelang hatte herumschlagen müssen.
Ihre Noten waren ausgezeichnet. Nicht nur auf der Highschool, sondern später auch auf dem College, das sie sich mit einem kleinen Stipendium und mehreren Nebenjobs finanziert hatte.
Val hatte sich fest in den Kopf gesetzt, Ärztin zu werden. Um Menschen wie ihrem Vater helfen zu können, der vielleicht überlebt hätte, wäre er nicht einsam in einer Gasse verblutet, sondern schon an Ort und Stelle richtig versorgt worden.
Später begann sie sich dann auf die Chirurgie zu spezialisieren. Eine Fachrichtung, in der sie so herausragend war, dass man ihr nach einiger Zeit sogar zwei magische Hände zuschrieb. Dennoch war es schwer sich zwischen ihren männlichen und vor allem weißen Kollegen durchzusetzen.
Daniel, einer dieser blonden Götter in Weiß und einer ihrer ärgsten Konkurrenten um den Posten des Chefchirurgen, war ihr anfangs verhasst gewesen, wie niemand sonst. Doch ihre ständigen Reibereien hatten nach und nach immer mehr zu einem erotischen Knistern geführt, das sich zu einer wilden, ungezügelten Leidenschaft entzündet hatte, die nichts und niemand mehr löschen konnte.
Nachdem Val Chefchirurgin geworden war und Daniel sich für die plastische Chirurgie entschieden hatte, hatten sie geheiratet und sich ein schönes Haus im Grünen gekauft.
Nichts schien dieses Glück, das sie damals verspürt hatte, trüben zu können, obwohl ein kleiner Teil von ihr jeden Tag damit gerechnet hatte. Genau dieser Teil sollte am Ende Recht behalten.
Val musste sich auf das harte Bett in ihrer Zelle setzen, bevor sie auch nur den Versuch wagen konnte, weiter in ihren Erinnerungen voranzuschreiten. Dabei machte sich ihre linke Hand ganz von alleine selbstständig und streichelte fast zärtlich über die schwarzen Linien, die in die kakaobraune Haut ihres rechten Unterarms tätowiert worden waren.
Sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, was ihre Fingerspitzen dort nachzeichneten. Es waren kleine Sternschnuppen, in deren Mitten jeweils ein Buchstabe in verschnörkelter Schrift zu sehen war. Sechs an der Zahl. Eine Sternschnuppe für jedes ihrer Kinder, die sie verloren hatte, noch bevor sie bereit für diese Welt gewesen waren.
Selbst jetzt noch war der Schmerz zu groß, um ihre Namen auch nur in Gedanken auszusprechen.
Val wusste, dass es Daniel genauso schmerzlich getroffen hatte, jedes Mal wenn sie eines ihrer gemeinsamen Kinder zu Grabe getragen hatten, dennoch würde sie ihm niemals vergeben können.
Mit Daniel zusammen alt zu werden, war damals alles gewesen, was Val sich am Ende gewünscht hatte, nachdem sie ihren gemeinsamen Kinderwunsch aufgegeben hatten, doch an einem trüben Morgen im Herbst vor zehn Jahren sollte dieser Wunsch endgültig mit ihm sterben.
Es war der Morgen, an dem Val in ihrem gemeinsamen Bett und mit Daniels Blut an ihren Händen aufgewacht war.
Selbst jetzt noch war die Erinnerung daran so frisch, dass Vals Körper noch zusätzlich mit Adrenalin überströmt wurde und ihr Herz, wie wild zu rasen begann. Der erdrückende Schmerz in ihrer Brust war so intensiv, wie an dem Tag, als sie verzweifelt versucht hatte, den kalten, verstümmelten Körper ihres Mannes zu reanimieren. Obwohl sie als Ärztin wusste, dass es sinnlos war, hatte sie lange Zeit nicht aufhören können, es zu versuchen.
Daniels Tod war der für sie bis dahin härteste Schicksalsschlag in ihrem Leben gewesen, bis zu dem Moment, als man sie wegen des Mordes an ihm festgenommen hatte.
Val konnte es selbst nach tausenden von Stunden mit ihrem Anwalt und unzähligen Verhandlungen vor Gericht, immer noch nicht glauben, dass das alles tatsächlich passierte.
Damals war es ihr jedoch noch unbegreiflicher gewesen, als die Mörderin ihres geliebten Mannes dargestellt zu werden. Aber gerade diese Liebe zu ihm brach ihr am Ende vor Gericht das Genick, denn es lieferte das perfekte Motiv.
Einige Tage nach Daniels Tod war eine junge Frau zur Polizei gekommen, die behauptet hatte, Daniels Geliebte und von ihm schwanger zu sein und das Val wohl hinter die Affäre gekommen war und ihn deshalb umgebracht hatte, weil sie es einfach nicht ertragen konnte, ihn an eine andere Frau zu verlieren.
Zunächst schien diese Aussage noch wackelig zu sein, doch als durch eine Fruchtwasseruntersuchung tatsächlich bestätigt werden konnte, dass Daniel der Vater des Kindes war, brach nicht nur erneut eine Welt für Val zusammen, sondern es entschieden sich auch noch sämtliche Geschworene gegen ihre Freilassung. Stattdessen wurde die Todesstrafe über sie verhängt, gegen die sie die letzten zehn Jahre immer wieder Berufung eingelegt hatte, bis es keine Möglichkeit mehr für sie gab, den Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen.
Heute Nacht würde es passieren. Man würde sie für ein Verbrechen hinrichten, dass sie nie begangen hatte.
Val erstickte fast an der Wut, die erneut bei diesem Gedanken in ihr hochkam. Sie fühlte sich unter dieser Ungerechtigkeit so unglaublich hilflos. Dabei war Hilflosigkeit etwas, das sie nie wieder hatte zulassen wollen.
Am liebsten hätte Val ihre Wut erneut laut hinausgeschrien und alles um sich herum kurz und klein geschlagen, doch stattdessen stützte sie ihren Kopf in ihre zitternden Hände und vergrub ihre Finger in das wirre, krause Haar. Sie zog so fest daran, dass es wehtat, aber der Schmerz an ihrer Kopfhaut war bei weitem nicht stark genug, um den in ihrer Brust zu überdecken.
Wie lange Val so dasaß, wusste sie nicht, doch als schließlich eine Tür geöffnet wurde und Schritte näher kamen, fuhr sie von dem Bett hoch wie ein wildes Tier in der Falle.
Nein.
Sie waren gekommen, um sie zu holen.
Ich bin unschuldig!
Ein Mann trat vor ihre Zelle, mit einem Zettel in der Hand und verlas ihr Todesurteil.
Das ist falsch!
Ihre Zellentür wurde geöffnet und man bat sie, vorzutreten. Val weigerte sich, stattdessen wich sie in den letzten Winkel ihres Gefängnisses zurück und schüttelte immer wieder heftig den Kopf.
Zwei Wärter kamen zu ihr und packten jeweils einen ihrer Arme, um ihr Ketten anzulegen und sie anschließend aus der Zelle zu schleifen.
„Ich bin unschuldig!“, brüllte Val die Männer an, ohne dass es irgendeine Wirkung zeigte. Sie zerrten sie einfach mit sich, egal wie heftig sie sich dagegen wehrte und wie laut sie immer wieder ihre Unschuld beteuerte.
Eine schwere Tür wurde vor ihr geöffnet. Dahinter konnte sie die Liege mit den Gurten erkennen, auf die man sie keine Minute später schnallen würde.
In ihrer Todesangst mobilisierte sie noch einmal ihre letzten Kraftreserven und bereute sofort, dass sie die letzten Tage nichts gegessen hatte. Sie war schwächer als gewohnt, aber immer noch äußerst wehrhaft, während sie selbst mit den Ketten an Händen und Füßen ordentlich austeilte, kratzte und um sich biss. Mehr als nur ein Wärter kam mit einer blutigen Wunde davon. Einem brach sie sogar die Nase, während sie einem anderen beinahe den Nippel abriss. Zumindest hörte sich sein jaulender Schrei ganz danach an.
Was sie jedoch am meisten befriedigte, war der blutige Kratzer quer über das Gesicht ihres stummen Beobachters, der ihr Leid die letzten paar Stunden eiskalt beobachtet hatte.
Doch egal wie heftig sie sich auch wehrte, irgendwann lag sie mit dem Rücken auf der Liege und so fest geschnallt, dass sie sich kaum noch rühren konnte.
Inzwischen begann sie heiser zu werden, von den Wutschreien, die sich an den gefliesten Wänden gebrochen und den Effekt noch verstärkt hatte, die sie an ein Schlachthaus erinnerten. Sie schwitzte wie verrückt, während ihre Muskeln vor Anstrengung zitterten, nachdem sie immer noch nicht aufgab und weiter gegen die ledernen Riemen ankämpfte, die sie auf der Todesliege hielten.
Angst kämpfte in ihrem Inneren mit ihrer Wut um die Oberhand, doch noch hatte sie nicht gesiegt. Noch hatte man Val nicht gebrochen.
Es dauerte fünfzehn weitere Minuten und sechs paar Hände, um ihr die beiden Zugänge in den Armbeugen zu legen, die für ihre Hinrichtung notwendig waren. In einem davon würde man schon bald die drei Komponenten der Giftspritze injizieren, woraufhin ihr Tod ziemlich rasch eintreten sollte.
Val hatte darüber gelesen. Über verpfuschte Hinrichtungen, die ein vermeintlich friedliches Ende zu minutenlangen höllischen Qualen werden lassen konnten.
Qualen die sie, wie auch ihren Tod nicht verdient hatte.
Trotz ihres Aufbegehrens, ihrer wilden Flüche und dem stark ramponierten Hinrichtungskommando wurde das Protokoll stur vollzogen.
Ihre letzten Worte an die Welt lauteten: „Fickt euch!“
Erst als man den Vorhang vor dem Zuschauerraum zurückzog, verstummte Val, als sie die Personen hinter dem Glas nacheinander betrachtete. Niemand der ihr nahestand, war hier, da sie weder Angehörige noch Freunde hatte, die ihr hätten beim Sterben zusehen können. Aber Daniels ehemalige Geliebte und ihr neuer Mann waren gekommen, um dabei zu sein, wenn man sie tötete.
In dem Moment als Val das Drecksstück sah, wollte sie zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben gegen den Hippookratischeneid verstoßen, da sie sich nach all den Jahren, in denen sie sich mit der Mordnacht ihres Mannes auseinandergesetzt hatte, fast sicher war, dass diese Frau etwas mit Daniels Tod zu tun hatte. Sie sollte hier liegen und sterben und nicht Val.
Aber kurz darauf war es zu spät. Die Hinrichtung begann und ihr wurde die erste Komponente der Giftspritze injiziert.
Es dauerte nicht lange und Vals wütender Kampf gegen ihre Fesseln erstarb langsam mit dem bleiernen Gefühl von Müdigkeit, welche sich rasend schnell in ihr ausbreitete.
Das wilde Rauschen ihres Blutes war das Letzte, was sie wahrnehmen konnte, bevor die Welt um sie herum in bodenlose Dunkelheit versank und jeder ihrer Gedanken für immer ausgelöscht wurde.